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Gespräch mit Julie Guinand
from orte 219
Gespräch mit Julie Guinand im Café ABC, La Chaux-de-Fonds
Regina Füchslin, Susanne Mathies und Monique Obertin treffen Julie Guinand im Café ABC, dem Kulturzentrum (CinéCafé Théâtre) von La Chaux-de-Fonds, zum Gespräch. Julie wohnt in der Stadt und trifft mit dem Fahrrad ein.
orte: Julie Guinand, wie kamst Du zum Schreiben? Julie Guinand: Ich wollte schon als Kind Schriftstellerin werden. Schreiben hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und an der Welt teilzunehmen.
Was sind die Hauptthemen in Deinen Texten? Hast Du literarische Vorbilder? Menschliche Beziehungen, Gedanken und Gefühle interessieren mich am meisten. Politische Aspekte werden mir in dem Sinn immer wichtiger, als Politik bei den Menschen anfängt. Empowerment ist ein wichtiger Begriff. In meinem Roman Hors-la-loi, einem modernen Western aus La Chaux-de-Fonds, geht es um eine Frau, die sich leichtgläubig in ein kriminelles Milieu begibt und sich ermächtigt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Mich interessiert, wie Macht funktioniert und sich auswirkt. Ich mag das Spiel mit Perspektiven, dabei interessiert mich insbesondere die weibliche Sicht auf die Dinge. Bei der Darstellung liebe ich die Vermischung von Realem mit Fantastischem. Als Vorbilder würde ich Antoinette Rychner und Haruki Murakami nennen.
Wir haben gelesen, der Austausch mit anderen Schreibenden sei Dir sehr wichtig. Ja, ich bin Mitglied von AJAR, einem Schreibkollektiv, das 2012 gegründet wurde und sich monatlich zum Austausch in Cafés oder privat trifft. AJAR hat verschiedene Aktivitäten. 2016 erschien zum Beispiel der Roman Vivre près des tilleuls (Flammarion; auf Deutsch 2017 im Lenos-Verlag: Unter diesen Linden), ein Gemeinschaftswerk der achtzehn frankophonen Autorinnen und Autoren des Kollektivs. Jede AJAR-Autorin, jeder AJAR-Autor verfasste darin ein Kapitel, ohne als Autorin in Erscheinung zu treten, denn die Kapitel durchlaufen die ganze Gruppe zur Überarbeitung, damit das Werk als reine Kollektivarbeit gelten konnte. Die Idee war ursprünglich eher humoristischer Natur, fand aber gefallen, wurde erfolgreich umgesetzt und als Buch publiziert. Die AJAR Gruppe tauscht sich mit anderen Schreibgruppen aus verschiedenen Erdteilen aus, nimmt an Festivals teil (zum Beispiel am Festival von Québec) und engagiert sich auch politisch.
Was zeichnet die Bewohner und Bewohnerinnen von La Chaux-de-Fonds aus? Ich denke, sie haben im Allgemeinen Bo-
Schriftstellerin Julie Guinand im Gespräch mit orte. Foto: Susanne Mathies
denhaftung, sind tolerant und sehr entspannt. Sie kümmern sich wenig um Modeströmungen. Deshalb ist es einfach, in La Chaux-de-Fonds sein Leben so zu führen, wie man es selbst für richtig hält. Als ich 21 war, zog ich von La Chaux-de-Fonds weg und kehrte nach ein paar Jahren zurück, um mich bis auf Weiteres niederzulassen.
Bist Du Vollzeitschriftstellerin? Momentan bin ich Vollzeitschriftstellerin. Ich arbeite innerhalb des Kollektivs, aber auch an eigenen Texten. Ferner gebe ich Schreibkurse im Kollektiv und im Projekt «Roman d’Ecole», wo ich mit den Teilnehmenden an einem Schulhausroman arbeite. Spielt der industrielle Hintergrund der Stadt in Deiner Literatur eine Rolle? Die Leute sind schon geprägt von der Uhrenindustrie. Mein jüngster Roman handelt von vier Frauen in vier Generationen aus La Chaux-de-Fonds. Hier wird deutlich, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt auf die Personen auswirkt. La Chaux-de-Fonds hat viele Krisen überstanden. Die Stadt ist seit zehn Jahren UNESCO-Kulturerbe und hat einige herausragende Kunstschaffende hervorgebracht: Le Corbusier kann man in der Villa Blanche und in der Villa Turque besuchen. Blaise Cendrars ist zu nennen, Emile de Ceunick,1 Charles L’Eplattenier.2 Und es gibt «1000 mètres d’auteur.e.s», eine Aktion der Stadt mit literarischen Zitaten von einheimischen Künstlerinnen und Künstlern an Hauswänden.3
1 Komponist und Musiklehrer am Konservatorium von La Chaux-de-Fonds. 2 Der Kunstgewerbeschullehrer und Jugendstilkünstler prägte, inspiriert von einheimischen
Pflanzen und Tieren, einen eigenen Ornamentstil, den Style Sapin, welchem im Kunstmuseum von La Chaux-de-Fonds derzeit eine Ausstellung gewidmet ist. 3 Julie Guinands Zitat befindet sich in der Nähe des Cafés ABC, an der Rue du Coq.