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Once Upon a Time in La Chaux-de-Fonds Julie Guinand
from orte 219
Once Upon a Time in La Chaux-de-Fonds
Das Taxi rast mit Tempo Teufel durch die Landschaft. Bei jeder Kurve knallt meine Schulter gegen die Tür. Ich sitze auf dem Beisitz, die Rückbank ist vollgepackt. Neben mir plaudert der Fahrer und streicht mir beim Schalten über den Oberschenkel. Das kotzt mich an, aber ich beisse die Zähne zusammen. Das Schild am Eingang der Stadt hinterlässt eine Art blaue Schliere auf der Scheibe. Ich bin nicht besonders glücklich, nach La Chaux-deFonds zurückzukehren, aber auch nicht speziell traurig, vom Land wegzuziehen. Wenn ich ein Pferd oder auch nur eine Katze hätte halten können, wäre es etwas anderes gewesen. Wie ist es nur so weit gekommen? Vor einigen Monaten bin ich zufällig Jesse begegnet, einem Freund aus Kindertagen. Ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich bin mit ihm auf den Bauernhof meiner Kindheit gezogen, den er bei seiner Rückkehr aus Amerika gekauft hatte. Ein glücklicher Zufall? Ich habe seine Kollegen kennengelernt (was sie arbeiteten ist mir immer noch schleierhaft) und ihre Freundinnen, die Drillinge, die da wohnten. Da die Männer immer häufiger fort waren, habe ich versucht, mich mit ihnen anzufreunden. Zwecklos. Eines Tages haben sie mir Knall auf Fall befohlen, meine Sachen zu packen. Wir hauen ab, haben sie mir gesagt. So ist alles gekommen. Das GPS gibt die Strassennamen und Abzweigungen durch. Wir fahren am Parc du Sport vorbei, an der Apotheke von Versoix, dem Sitz der Zeitung L’Impartial, und drehen dann eine Dreiviertelrunde im Kreisel. Das Hotel Fleur de Lys befindet sich am Anfang des Pod. Die Drillinge haben vier Zimmer reserviert, bis wir eine Bleibe finden, die diesen Namen verdient. Sie wollten nicht mit mir kommen und gaben vor, sie müssten bei der Reithalle ein paar letzte Dinge regeln. Das Taxi hält mitten auf dem Gehsteig. Erleichtert, dass ich in einem Stück angekommen bin, steige ich aus, recke und strecke mich und hebe den Blick. Eingefasst von einer Personalvermittlung links und der Bank R. rechts, steht das Hotel gegenüber dem Grossen Brunnen. Der Turm ist potthässlich, aber die Zimmer sind offenbar luxuriös und die Aussicht atemberaubend. Wenn sie allerdings auf Espacité und seinen Parkplatz geht, sehe ich nicht, was man davon hat. Ich gehe durch die automatischen Türen, gefolgt vom Fahrer, dem mindestens zwanzig Kilo Gepäck an den Armen hängt. Mit einem Mal komme ich mir vor wie die Heldin aus Pretty Woman. Betont auffällig löse ich meine Haare, klappere mit den Absätzen auf dem Marmorboden und bleibe vor der grossen Spiegelwand stehen: Ich sehe bescheuert aus. In meinem riesigen Zimmer beschliesse ich, das Auspacken der Kartons in Angriff
zu nehmen. Jesses Anweisungen waren glasklar: Einzig und allein den Karton öffnen, der mit «Kleider» beschriftet ist, seine schwarzen Hemden bügeln und in den Schrank hängen. Den Rest nicht anfassen. Ich lege los, völlig fasziniert, dass mein Zimmer über ein eigenes Bügelbrett und ein eigenes Bügeleisen verfügt. Es gibt sogar einen Spray mit Weichspüler. Als die vierundzwanzig Hemden in Reih und Glied im Schrank hängen, vergewissere ich mich, dass die Zimmertür verschlossen ist und mache mich an den Rest. Jesse wird es nie erfahren. Es stimmt, ich habe das Pulver nicht erfunden und wittere nicht überall Unrat, so bin ich erzogen worden. Doch ich bin auch nicht dümmer als andere. Ich kann lesen, schreiben, Gleichungen mit einer oder zwei Unbekannten lösen, Kreuzworträtsel ausfüllen ohne Lösungshilfe, einen Fahrradreifen wechseln und mit einem einzigen Streichholz ein Feuer entfachen. Als ich die unordentlich in die Sporttasche gestopften Handschellen, Stricke und Strümpfe entdecke, verstehe ich schlagartig: Jesse betrügt mich mit einer anderen. Einer anderen, die es offensichtlich hart mag und die überhaupt keinen Geschmack hat. Die beigen Strümpfe sind schon lange aus der Mode. Der Ärger treibt mir Tränen in die Augen. Monsieur amüsiert sich. Die Geschäftsreisen bis zum Gehtnichtmehr entpuppen sich als Bettgeschichten. Wie konnte ich nur so naiv sein? Ich lege die Stricke zurück in die Tasche, ziehe den Reissverschluss zu und schneide mit dem Cutter den zweiten Karton auf. Sofort werde ich schwach. Er enthält den Kaufvertrag für unsere zukünftige Ranch in Colorado, ein Hufeisen als Glücksbringer, Fotos von uns beiden und meine mit einem hübschen goldenen Band zusammengebundenen Briefe. Jesse ist im Grunde ein grosser Romantiker. Zweifellos wird er das Missverständnis bei seiner Rückkehr klären.
In einer Woche habe ich die Annehmlichkeiten des Hotels ausgeschöpft. Ich habe ein paarmal im Privatsalon des ersten Stocks Kaffee getrunken, ein bisschen auf den Fahrrädern des Fitnesscenters pedalt, die 300 Fernsehsender durchgezappt und die Liste der Pizzasorten abgehakt. Ich habe die Nase gestrichen voll, aber ich getraue mich nicht nach draussen vor lauter Angst, meiner Mutter zu begegnen, die gleich um die Ecke wohnt und immer noch meint, die Zukunft der Reithalle liege in meinen Händen. Um mir die Beine zu vertreten, steige ich die acht Stockwerke hoch und runter und streife durch jeden Flur. Vor einem Zimmer der Drillinge bleibe ich stocksteif stehen: Die Tür ist angelehnt. Ich kann mein Glück nicht fassen und schleiche hinein. Das Bett ist unberührt und alle Kartons türmen sich in einer Ecke. Unangetastet. Die Drillinge ihrerseits stehen zusammengedrängt am Fenster vor einem grossen Fernglas. Sie sprechen so leise, dass es für mich wie das Brummen einer Fliege klingt. Ich trete in winzigen Schritten näher und halte dabei die Luft an. Meine Schuhe machen ein leises Sauggeräusch auf dem Teppich und sogleich fahren drei Köpfe herum. Die Drillinge mähen mich mit ihren Blicken nieder und schlagen das
kleine Heft zu, das sie in Händen halten. Verstört finde ich mich im Korridor wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Drillinge eine Leidenschaft für Vogelkunde entwickelt haben, erst recht nicht, da die einzigen Vögel, die in den Dächern der Stadt nisten, verfettete Tauben sind. Warum nur beobachten sie die LéopoldRobert-Strasse? Ich habe keine Zeit, mir den Kopf zu zermartern, denn ein Riesenknall, gefolgt von Polizeisirenen, zerreisst mein Trommelfell. Ich stürze mich in mein Zimmer. Auf dem Bildschirm meines immer noch laufenden Fernsehers flackert die Flashmeldung, die zehn Meter von unserem Hotel entfernte Bank R. sei überfallen worden. Die Drillinge, bestimmt ebenso schockiert wie ich, platzen in mein Zimmer. Sie schmeissen eine grosse Schere und eine Flasche Wasserstoffperoxid auf mein Bett und weisen mich an, ihnen die Haare ganz kurz zu schneiden. Ich gehorche und denke, dass eigentlich nicht der Moment sei für Eitelkeiten.
Wir ziehen nicht aus der Stadt, aber in den Norden, in die Höhe. Es ist chic und teuer: breite Kiesalleen, Garagen, in denen drei Autos Platz haben, Gärten so gross wie Fussballplätze. Die meisten Kinder der Reithalle kamen von hier. Die Mädchen kreuzten in den grossen Schlitten ihrer Eltern auf. Sie hatten für gewöhnlich ihr eigenes Pferd bei uns in Pension, dem sie einen lächerlichen Namen aus der Serie Der Sattelclub verpassten. Ich verspürte für diese Mädchen eine Mischung aus Faszination und Hass. Einerseits hätte ich gerne in ihrem Jacuzzi geplanscht und an ihren Pyjamapartys teilgenommen, wo, wie ich gehört hatte, die heisse Schokolade mit essbarem Gold überstäubt war. Andrerseits war ich es mehr als leid, dass sie mich von oben herab ansahen und sich über meinen «Bauernakzent» mokierten.
Die Tage vergehen, ich langweile mich zu Tode. Ich getraue mich nicht hinaus, Jesse kommt nicht zurück und die Drillinge schneiden mich. Als ich mich aufs Basteln verlegen will, stosse ich auf folgenden Artikel:
Missglückter Überfall auf die Bank R.
Gestern kurz vor Mittag drangen vier bewaffnete, vermummte Banditen in die Bank R. ein. Die von einer Passantin gerufene Polizei gab am Rande des Gebäudes Schüsse ab und verfolgte die Kriminellen, die in zwei schwarze Mercedes gestiegen waren. Sie habe die Spur der Fahrzeuge bei der Tunnelausfahrt der Vue-des-Alpes verloren. Laut verschiedener Quellen seien einer der Übeltäter sowie zwei Polizisten im Gemenge verletzt worden. Bis anhin konnte die Identität der Räuber nicht festgestellt werden. Die Direktorin der Niederlassung gab jedoch zu verstehen, es könnte sich um die «Schwarze Bande» handeln, die seit mehreren Monaten ihr Unwesen treibt.
Ich bin nicht dümmer als andere. Ich zerknülle den Artikel in meinen Fingern, langsam, beinahe mit Wollust.
Auszug aus Hors-la-loi, Lausanne, Paulette éditrice, 2018. Aus dem Französischen von Ruth Gantert.