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Supermond TEXT  PETER STAMM

Sie haben es bestimmt nicht böse gemeint, sie haben geredet im Aufzug, da müssen sie mich übersehen haben. Ich hatte sogar den Eindruck, dass einer sich nach dem Türknopf streckte, als die Tür sich schloss, oder zumindest andeutete, dass er sich nach dem Türknopf strecken wolle, als habe er mich gesehen und mich hereinlassen wollen und dann gemerkt, dass es zu spät war. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Und wenn, sie haben mich nicht bemerkt, das kommt vor. Obwohl ich direkt vor der Tür stand. Es würde mir schwerfallen, einem Aussenstehenden zu erklären, worin unsere Aufgabe hier besteht. Es hat mit der Überholung von Verkehrsflugzeugen zu tun. Ein Flugzeug besteht aus mehreren Millionen Teilen, von denen jedes eine Nummer und eine festgelegte Lebensdauer hat. Bei jeder Überholung müssen bestimmte Teile ersetzt werden, andere überprüft und im Bedarfsfall ersetzt. Einige werden aus- und wieder eingebaut und erst bei der nächsten oder übernächsten Überholung ersetzt. Neben den Flugzeug- und Triebwerksmechanikern, den Unterhaltstechnikern, den Spenglern und Malern und Elektrikern und allen anderen Spezialisten, die die Arbeiten ausführen, gibt es auch bei uns im Büro eine kleine Armee von Leuten, die sich darum kümmern, dass alles gemäss den Vorschriften ausgeführt und nichts vergessen wird. Das geschieht natürlich längst mit Computerprogrammen, aber viele dieser Programme sind veraltet und in Programmiersprachen geschrieben, die kaum noch jemand beherrscht. Seit Jahren wird von neuen Programmen gesprochen, die alles zusammenfassen und vereinfachen würden, aber weil die Aufgabe so komplex ist und alles miteinander vernetzt, traut sich keiner, irgendetwas zu ändern, aus Angst, das ganze System könnte zusammenbrechen. Ich gehöre zu jener kleinen Armee von Leuten, die alles am Laufen halten, im Wesentlichen bin ich für eine Liste verantwortlich. Das klingt nach wenig, aber es ist eine sehr lange und sehr wichtige Liste. Auch ich bin ein Teilchen in einem komplexen System, habe eine Nummer und eine festgelegte Einsatzzeit, die mit meiner bevorstehenden Pensionierung zu Ende gehen wird. Ich kann nicht sagen, dass ich mich darauf freue, ausgemustert zu werden, aber es leuchtet mir ein, dass es notwendig ist und zum Besten der Firma und also letztlich auch zum Besten für mich. 6

Unser Grossraumbüro ist im zweiten Stock des Verwaltungsgebäudes untergebracht mit Blick auf eine kleine Baumgruppe und die Autobahn, die parallel verlaufende Autostrasse und die Bahnlinie. Früher hatten wir Büros, die auf die Hangars und den Tarmac hinausgingen, aber ich bin froh, dass wir vor einigen Jahren auf die Nordseite umziehen konnten, wo die Temperaturen im Sommer erträglicher sind. In die Hangars komme ich ohnehin häufig genug, während der Arbeit oder auch nach Feierabend, wenn ich kurz hinüberspaziere, um ein paar Worte mit dem Schichtleiter zu wechseln, mit den Leuten von der Qualitätssicherung oder mit dem Magaziner, der die Werkzeuge herausgibt und dafür verantwortlich ist, dass keines im Flugzeug zurückbleibt, wenn die Überholung abgeschlossen ist. Es ist immer ein grosser Moment, wenn eine dieser Riesenmaschinen aus dem Hangar rollt, bereit für neue Reisen in weit entfernte Länder. Wir tragen keine schicken Uniformen hier wie das Flugpersonal, aber letztlich ist unsere Aufgabe genauso wichtig wie ihre, auch wenn die meisten Passagiere gar nichts von unserer Existenz ahnen. Wir sind zu fünft im Büro, aber jeder hat sein Arbeitsgebiet, von dem die anderen nicht viel wissen, nur das, was er oder sie eben erzählt. Keiner sagt etwas wegen der Sache mit dem Aufzug, und ich entschliesse mich, ebenfalls nichts zu sagen. Ich starte den Computer und lese die E-Mails, die seit gestern gekommen sind, es sind weniger als sonst, aber die Arbeit geht mir auch so nicht aus. Zu einem nicht unwesentlichen Teil besteht sie aus der Verantwortung, die ich trage, ob ich nun an der Liste arbeite oder nicht. Ich garantiere für ihre Richtigkeit und Aktualität, was manchmal mehr, manchmal weniger Aufwand bedeutet. Kommt jemand mit Mittag essen? Ich muss zweimal fragen, bis Walter sagt, er sei verabredet. Gabi? Sie starrt auf ihren Bildschirm. Gabi? Endlich scheint sie mich zu hören. Kommst du mit Mittag essen? Sie muss noch schnell eine E-Mail fertig schreiben, ihre Arbeit hat etwas mit dem Treibstoffeinkauf zu tun. Wir setzen uns zu zwei Kollegen von der Arbeitsvorbereitung. Sie diskutieren die neue Überstundenanordnung. Gabi mischt sich ein, und die Diskussion wird hitzig. Ich sage nichts, ich bin ohnehin nur noch ein paar Tage hier, die neue Regelung betrifft mich nicht. Ausserdem habe ich seit Jahren keine Überstunden gemacht. Ich musste im Gegenteil aufpassen, nicht zu schnell zu arbeiten, um auf meine Stunden zu kommen und den Chef nicht Surprise 480/20


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