

Raum für alle
Sitzen, stehen, liegen darf man nicht überall in der Stadt. Vor allem nicht jede*r. Bauliche Massnahmen vergraulen bestimmte Gruppen.
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WOMEN’S STREETFOOTBALL EURO 2025





Zusammen oder getrennt
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden sich zum Schlafen auf eine Wiese legen. Mitten in der Nacht ein seltsam technisches Geräusch, gefolgt von Sprühregen: Oh nein! Alles nass. Automatische Sprinkleranlagen in öffentlichen Parks zielen neben der Pflanzenpflege darauf ab, das Schlafen im öffentlichen Raum zu verunmöglichen. Man nennt diese und ähnliche bauliche Massnahmen, wie abgerundete Bänke und Spitzen auf Fensterbänken vor Ladengeschäften, «defensive Architektur». Wie die dünnen Stahlspitzen gegen Vögel richtet sich diese gegen Menschen. Wer entscheidet eigentlich über solche Massnahmen? Wir schauen es uns am Beispiel der Stadt Bern an, ab Seite 8.
Feindlich geht auch der Kanton Schwyz mit Menschen um, in diesem Fall mit abgewiesenen Asylsuchenden: Die Männer werden tagsüber aus ihrer Unterkunft ausgeschlossen. Sie wehren sich, ohne Aussicht auf Erfolg. Das Vorgehen des Kantons erinnert an den Umgang der Städte mit Obdachlosen, schliesslich sind auch Not-
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! Notschlafstelle gesichert
5 Vor Gericht Raufen für Real
6 Verkäufer*innenkolumne «Ihre Meinung ist uns wichtig!»
7 Moumouni antwortet Wer darf noch was?
8 Defensive Architektur Die Unerwünschten
14 Orte der Begegnung So klingt das Glück
schlafstellen tagsüber geschlossen. Geht vergessen, dass Wohnen und Asyl Menschenrechte sind? Eine Reportage aus der Zentralschweiz, ab Seite 16.
Es gibt jedoch auch Schönes zu vermelden: Surprise-Autor und -Verkäufer Michael Hofer hat mit einem Fragebogen in Ausgabe 596 den Kontakt zu Ihnen gesucht. Die berührenden Antworten, die er bekommen hat, wollten wir gern mit Ihnen teilen. Sie sagen so viel über Freundschaft und gegenseitige Sorge, ab Seite 20.
Auch über Musik finden Menschen zueinander. Dann, wenn sie über das gemeinsame Musizieren und Erleben Räume für Dialog eröffnet. Musik funktioniert wie eine Sprache, sie fördert gegenseitiges Verständnis und macht auch einfach glücklich. Mehr ab Seite 14.
SARA
WINTER SAYILIR Redaktorin

16 Asylwesen Ausgesperrt
20 Dialog «Umarmung / Küsse»

24 Kunst Die Vergangenheit mit der Gegenwart vernähen
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner in Basel, Eglisee
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt «Ich möchte ein Haus bauen»
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Aus den abgegebenen Schusswaffen werden Rechen und Schaufeln.
Durchregieren ohne Grund
Eine neues Dekret des US-Präsidenten von Ende März setzt sich über die Regierung des District of Columbia (D.C.) hinweg. So heisst der Bezirk, in dem die Hauptstadt Washington liegt. Die Anordnung fordert die Einrichtung einer «D.C. Safe and Beautiful Task Force». So soll die Polizeipräsenz im Distrikt erhöht, die Durchsetzung der Einwanderungsbestimmungen «maximiert», Strafen für «Verbrechen gegen die Lebensqualität» durchgesetzt, mehr Menschen in Untersuchungshaft genommen und die Kriminalität in öffentlichen Verkehrsmitteln eingedämmt werden. Während das Dekret das Leben der Ärmsten weiter verschlechtern wird, gibt es aus Sicht von Expert*innen gar keinen Anlass für die Verschärfung: Die Kriminalitätsrate in D.C. ist in den letzten Jahren weitgehend rückläufig.

Verarbeitung
Es ist ein ungewöhnlicher Weg, mit Trauer umzugehen – doch für die US-Amerikanerin Tasha Cooper ist es der richtige: Nachdem im April 2022 ihr Sohn Jayden Hoyle im Alter von 16 Jahren erschossen wurde, schloss sie sich der Basisbewegung «Guns to Gardens» an. Inspiriert vom biblischen Ausdruck «Schwerter zu Pflugscharen», überzeugen sie Besitzer*innen von der Abgabe ihrer Waffen. Diese Waffen werden anschliessend zerstört, die Teile an eine Schmiede geschickt und in Gartengeräte umgewandelt. «Ich möchte nicht, dass andere Eltern diesen Schmerz empfinden», sagt Cooper. «Wenn ich nur eine Familie davor bewahren kann, das zu erleben, was ich erlebt habe, ist es das wert.»
Die Gesamtzahl an Delikten ging zwischen 2023 und 2024 um fast 15 Prozent zurück.
Notschlafstelle gesichert
Mehr als 500 junge Menschen zwischen 14 und 23 Jahren haben seit der Eröffnung 2021 bei «Pluto» übernachtet, wie die Notschlafstelle für junge Menschen in Bern schreibt. Bisher war sie ein Pilotprojekt und hat sich mit Spenden, Stiftungsbeiträgen und kirchlichen Geldern finanziert. Nun plant die Stadt Bern, die Notschlafstelle zu finanzieren.Noch muss der Stadtrat über einen Nachkredit entscheiden. Sofern er diesen genehmigt, tritt der Leistungsvertrag mit dem Trägerverein Rêves sûrs rückwirkend per Anfang April in Kraft. Für die Monate April bis Dezember spricht die Stadt knapp 380 000 Franken.
Der Leistungsvertrag ist laut Medienmitteilung für Rêves sûrs ein «wichtiger Meilenstein». Noch vor vier Jahren sei in Bern das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Minderjährigen inexistent gewesen. «Pluto» bietet sieben Notschlafplätze für junge Menschen in akuten Krisensituationen sowie in prekären Wohn- und Lebenssituationen. Da «Pluto» mehr Platz braucht, sucht der Verein ein neues Haus. Es sollte in Zentrumsnähe liegen und mindestens acht Zimmer plus einen Gemeinschaftsraum sowie ein Büro haben.
In der Stadt Bern ist das Angebot an Notschlafplätzen insgesamt knapp. Entlastung schuf bis Ende März die provisorische Notschlafstelle im ehemaligen Tiefenauspital mit zwanzig Plätzen. Nun sucht die Stadt Liegenschaften für zwei geschlechtergetrennte, längerfristig verfügbare Notschlafangebote. LEA

Vor Gericht
Raufen für Real
Ein Migräne-Tag, sagt jemand im Wartezimmer des Bezirksgerichts Aarau. Das passt zum Sachverhalt, der an diesem Nachmittag aufgerollt wird und bei den Beteiligten Kopfschmerzen ausgelöst hat. Vor Gericht stehen zwei junge Männer, beide Bankangestellte, gut befreundet. Sie sollen sich im Raucherraum eines Clubs in der Aarauer Innenstadt an einer Schlägerei beteiligt und sich somit des Raufhandels strafbar gemacht haben. Der Tatbestand kommt zur Anwendung, wenn sich drei oder mehr Personen an einer wechselseitigen Auseinandersetzung beteiligen, die eine Körperverletzung oder den Tod eines Menschen zur Folge hat. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 160 Franken (bzw. 150 Franken) und eine Busse von 3600 bzw. 3300 Franken.
Auslöser der Schlägerei: das T-Shirt, das der damals 21-jährige A. an jenem Abend trug, ein weisses Trikot von Real Madrid. Vor Gericht schildert er: «Ich wollte aufs WC, der D. hat mich angesprochen und gefragt, warum ich dieses Trikot anhabe. Ich habe ihm sinngemäss gesagt, das gehe ihn nichts an.» Dann sei er gestossen worden, er habe zurückgestossen, schliesslich seien unvermittelt mehrere Fäuste in sein Gesicht geflogen.
zu vorher nicht», entgegnet der Gerichtspräsident trocken. Auf dem Video, das im Gerichtssaal abgespielt wird und das von einer Überwachungskamera des Clubs stammt, erkennt man nicht viel. Stroboskoplicht, Zigarettenqualm, schwankende Gestalten, irgendwann ein Geknäuel am oberen Bildrand, Schaulustige positionieren sich drum herum, andere suchen das Weite oder rauchen unbekümmert weiter. M., den zweiten Beschuldigten, sieht man nach wenigen Sekunden vom Sofa aufstehen, in der Hand eine Zigarette. Er geht auf das Gerangel zu, zieht einen der Angreifer weg, stürzt gemeinsam mit diesem zu Boden. «Ich wollte bloss schlichten und das Chaos auflösen», sagt M. an der Gerichtsverhandlung. Der dritte Beschuldigte, oben erwähnter Trikot-Provokateur D., nimmt nicht an der Verhandlung teil. Er hat als Einziger keine Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben. Die Verteidigerin von A. sagt in ihrem Plädoyer: «Er wird schon wissen, weshalb.»
An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen. Artikel zu diesem Thema finden Sie in Surprise 536/22 und 550/23.
A., der von sich sagt, er gehe «Gewalt eigentlich aus dem Weg», hat ein «Blackout», im Krankenhaus wird später eine Nasenbeinfraktur und eine Rissquetschwunde am rechten Auge und an der linken Hand festgestellt. Sein ganzes Gesicht sei zwei Wochen blau gewesen, sagt der inzwischen 22-Jährige, «und meine Nase ist nun ein bisschen schräg». «Ich kenne den Vergleich
Rund 25 Minuten berät der Gerichtspräsident mit der Gerichtsschreiberin. Dann präsentiert er das Urteil: A. und M. werden freigesprochen. «Die Staatsanwaltschaft hat es unterlassen abzuklären, ob die Videoaufzeichnung im Club genügend signalisiert worden ist.» Deshalb unterlägen die Bilder dem Verwertungsverbot. Und selbst wenn die Aufnahmen verwertbar seien, so der Richter, würde er bei M. auf einen «klaren Freispruch» entscheiden, da er «keine Absicht hatte zu ‹schlegeln›», sondern den Streit schlichten wollte. Und auch A., der sich als eigentliches Opfer des Handgemenges darstellt, käme in den Genuss eines Freispruchs, in dubio pro reo zwar, aber immerhin.
WILLIAM STERN ist Gerichtsreporter aus Zürich.
Verkäufer*innenkolumne
«Ihre Meinung ist uns wichtig!»
Heutzutage wird man ja dauernd gefragt, ob man etwas gut oder schlecht findet. Alle wollen eine Bewertung. Kaum hat man etwas im Internet gekauft, kommt eine Nachricht: Wie fanden Sie den Kauf? Das ist, als würde ich jedes Mal, wenn ich ein «Surprise» verkaufe, dem Menschen, der es gekauft hat, nachlaufen und ihn fragen, wie er diesen Kauf jetzt gefunden hat. Absurd.
Bei mir, auf der Strasse, da geht es noch anders zu und her. Viel direkter. Nicht immer einfach, manchmal auch gefährlich, aber immer von Mensch zu Mensch. Kürzlich stand ich wie immer vor einem Supermarkt, einem meiner Verkaufsorte. Es begann zu regnen, und ich ging in den Laden hinein, wie ich es schon seit zwanzig Jahren mache. Doch plötzlich kommen zwei Angestellte auf mich zu und sagen mir, ich müsse sofort wieder nach draussen gehen, und falls nicht, dann käme die Polizei und es gebe eine Busse. Ich traute meinen Ohren nicht. Aber zum Glück gibt es meine treuen Kund*innen. Und ja, zum Glück gibt es in dem Laden ein Bewertungssystem. Beim Kundendienst liegen nämlich Kärtchen auf: «Ihre Meinung ist uns wichtig!» Ein Stammkunde von mir hatte die Szene
mitverfolgt und zog ein Kärtchen aus der Box, um sofort schriftlich gegen meinen Verweis zu protestieren. Die nächste Kundin tat das Gleiche, der nächste ebenfalls, die nächste auch, es hörte nicht mehr auf!
Irgendwann wurde eine der Angestellten so nervös, dass sie den ganzen restlichen Stapel der Kärtchen aus der Box zog. Ich schaute nur zu und schmunzelte. Schliesslich kam der Chef des Ladens und klärte die Lage: Ich durfte drinbleiben.
Ich war sehr berührt, wie sich meine Kund*innen für mich einsetzten. Eine schöne Erfahrung in einer Zeit, wo sich so viele nicht mehr um die Welt um sie herum kümmern, nur noch vor sich hin oder in ihr Smartphone schauen. Na ja, vielleicht füllen sie dort ja eine Bewertung aus.
Was meinen Sie dazu, liebe Leser*innen? Ihre Meinung ist mir wichtig! Sagen Sie es mir doch, ganz direkt, wenn wir uns das nächste Mal sehen.
SEYNAB ALI ISSE, 54, verkauft Surprise in Winterthur, Effretikon und Witikon. Sie kauft praktisch nie etwas online und muss daher selber selten Einkäufe bewerten.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.


Moumouni antwortet
Wer darf noch was?
Schweizer Diskussionen über das Thema Anstand sind für mich als Deutsche sehr verwirrend. Nicht nur, weil sie teilweise auf einem unterirdischen intellektuellen Niveau geführt werden, sondern auch, weil sie mich inzwischen selbst eingeholt haben.
Schon Peter Bichsel (Gott hab ihn selig!) schrieb in «Des Schweizers Schweiz»: «Die Fragen [in politischen Auseinandersetzungen] heißen nicht: Was ist falsch, was ist richtig? oder: Was dient der Sache, was dient ihr nicht? Die Fragen heißen: Was ist anständig, was ist unanständig? [...] Und mit dieser Fragestellung wird dann auch der politische Gegner bekämpft. Die Opposition wird nicht einer Irrlehre oder eines Irrtums bezichtigt, sondern der Unanständigkeit.»
Anstand wird zum Selbstzweck, der wahre Grenzüberschreitungen gar nicht zu bewerten vermag, solange sie anständig genug hervorgebracht wurden.
Fast fünfzehn Jahre Schweiz haben mich sensibler für Unhöflichkeiten im Alltag gemacht und gleichzeitig etwas unbeholfen. Letztens, in einem vollen Zug, in dem viele Plätze reserviert und weitere sehr unanständig mit Taschen und Jacken blockiert waren, entdeckte ich nach langem Laufen in einem Viererabteil zwei Sitze. Ich fragte den Mann, der gegenüber sass, mit schweizerischem Anstand «Isch da no frei?» Der Mann blickte von seinem Compi hoch, schaute mich entgeistert an und gestikulierte dann wild mit Schultern und offenen Händen. Ich schaute ihn weiter fragend an – dann fuhr er mich an: «Woher soll denn ich das wissen?!» Etwas verärgert setzte ich mich und fragte ihn daraufhin, wohl mit eigener restdeutscher Angriffslust: «Sind Sie en Dütsche?» Er nickte geschmeichelt, was mich verwirrte. «Das merkt man!», sagte ich. «Das ist eine ganz normale Frage in der Schweiz. Darauf antwortet man mit ja oder nein und dann ist die Sache gegessen!», platzierte ich meine Retourkut
sche, woraufhin ich mich sofort schämte. Warum habe ich nicht mit einem unbeirrten «Grüezi!» geantwortet?
Der Mann nickte jedoch noch einmal, als hätte ich wirklich nur Grüezi gesagt, und schaute dann wieder auf seinen Laptop. Ich fühlte mich schuldig und überlegte, ob und wie ich mich entschuldigen sollte. Mit einem «Äxgüsi, das isch mir usegrutscht. Ich bi au dütsch, aber eifach scho chli lang da, so es ruppigs Untertönli bini mir nüm so gwöhnt!»
Wie viele Deutsche und Schweizer*innen glaube ich, dass das Gefühl dafür, was anständig und was konfrontativ bis unhöflich ist, auseinandergeht. Hier also erlebte ich eine deutschschweizerische Konfrontation einmal von Schweizer Seite und fühlte mich dem ruppigen Deutschen unterlegen – und er bemerkte nicht einmal, dass ich ihn beschimpft hatte. Er liess mich erstaunt zurück, als er mich beim Aussteigen auch noch jovial verabschiedete. Bin ich zu schweizerisch geworden?
Was ich weiterhin unverständlich finde ist, wie die deutsche rechtsextreme AfDPolitikerin Alice Weidel von den Einwohner*innen Einsiedelns bewertet wurde: Als Journalist*innen Passant*innen fragten, wie Weidel, die dort einen Wohnsitz hat, denn so sei, antworteten offenbar einige, sie sei «unauffällig und anständig» – irgendwie witzig, dass man ausgerechnet das sagt bei einer Frau, die ihre politische Karriere darauf aufbaut, menschenfeindliche Politik zu machen, zu hetzen und zu lügen.
Ich hoffe, ich werde nie so schweizerisch, dass ich solch etwas mit Anstand vereinen könnte.

FATIMA MOUMOUNI
glaubt nicht an den Knigge, wohl aber an Zivilcourage, Respekt und die Würde des Menschen.

Der Europaplatz ist nur auf den ersten Blick eine Betonwüste – immerhin kann man hier trocken liegen, skaten und auch laut sein.
Die Unerwünschten
Defensive Architektur Im öffentlichen Raum machen bauliche Massnahmen bestimmten Bevölkerungsgruppen den Aufenthalt immer unangenehmer. Wie gelingt die «Stadt für alle»? Ein Blick nach Bern.
TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
Es gehört zu den Dingen im Leben, die man nicht sieht, wenn man nichts davon weiss. Oder hätten Sie, während Sie durch die Stadt schlendern, je daran gedacht, dass diese wohldesignten, wurmartigen, abgerundeten, mit vielen Lücken versehenen Sitzbänke dazu da sind, Menschen zu verscheuchen? Damit sie nicht länger als nötig darauf verweilen, sich womöglich noch hinlegen, um auszuruhen oder zu schlafen?
Was wie eine absurde Annahme erscheint, hat in vielen Städten System und zudem einen reichlich abgehobenen Namen: «Defensive Architektur» – womit bauliche Massnahmen gemeint sind, um sich gegen alles (angeblich) Feindliche, ob Menschen oder Tiere, zu verteidigen. Bereits in den 1970er-Jahren wurden in New York und kurz darauf in vielen anderen Grossstädten Holzbänke so gestaltet, dass Menschen, die auf der Strasse leben, nicht darauf schlafen konnten. Schon damals war von «Anti-Obdachlosen-Architektur» die Rede. Was insofern zu eng gefasst ist, als entsprechende bauliche Massnahmen nicht bloss Obdachlose betreffen, sondern beispielsweise auch Drogenkonsumierende, Jugendliche oder
Skater*innen und Parkour-Sportler*innen. Auch sind Sitzbänke nicht das einzige Beispiel für die sogenannte defensive Architektur: Metallstifte auf Fensterbänken oder in Hauseingängen, damit man sich nicht hinsetzen oder hinlegen kann, Metallklötze an Kanten oder bei Treppen, um das Skaten zu verhindern, Neigungswinkel bei Betonklötzen, um sich nicht darauf niederzulassen oder Ultraschallgeräte in Geschäftseingängen und in Unterführungen, deren Frequenzen vor allem für junge Ohren unerträglich sind, gehören ebenfalls dazu. Immer öfter finden sich gerade in Grossstädten bauliche Elemente, die bewusst ausschliessenden Charakter haben. Was grundlegende Fragen aufwirft: Wer ist eigentlich verantwortlich für die Installation defensiver Architektur im öffentlichen Raum und auch auf Privatgrund? Wie verläuft der Prozess von der Planung bis zur Umsetzung städtebaulicher Massnahmen, die bestimmte Gruppen von Menschen aus dem öffentlichen Raum ausschliessen? Wem gehört denn dieser Raum, wer hat eigentlich ein «Recht auf Stadt», wie der Soziologe Henri Lefebvre schon
Ende der 1960er-Jahre provokativ fragte?
In diesem Text begeben wir uns in der Stadt Bern auf die Suche nach Antworten.
Keine bösen Absichten?
Würde es nicht derart abgedroschen tönen, man könnte sagen: Roger Meier kennt Bern wie seine Westentasche. Er lebte lange ohne ein Zuhause im Wald und auf der Strasse. Dass Städte für Menschen wie ihn immer abweisender werden, konnte er über die Jahre beobachten, «leise und schleichend» sei das vonstatten gegangen, sagt Meier und nennt Beispiele: Bänke in Parks, die von einem Tag auf den anderen verschwinden, Dauerbeleuchtung in geschützten Winkeln, Sprinkleranlagen, die nachts angehen. «Man vertreibt uns zwar nicht oder weist uns weg, doch man vergrault uns. Und macht so, dass wir von selber aus dem öffentlichen Raum verschwinden.» Meier vergleicht die Strasse, auf der manche leben müssen, mit einer Wohnung. «Stellt euch vor, jemand kommt bei euch zuhause vorbei und macht die ganze Nacht Licht an, wenn ihr schlafen möchtet. Oder jemand nimmt euch einfach das Sofa weg

Auf solchen Designschmuckstücken lässt es sich schlecht liegen.
Hier soll man nicht sitzen und verweilen, finden die Ladenbesitzer*innen.

oder sägt ein Stück davon ab, sodass ihr euch nicht mehr hinlegen könnt. Und es wäre nicht irgendwer, der in eure Wohnung kommt, sondern jemand von der Stadt.»
Dass die Stadt Bern gezielt defensive Architekturelemente installiere, weist sie zurück. «Defensives Design ist kein Gestaltungsprinzip, im Gegenteil: Die Stadt verfolgt einen inklusiven Ansatz bei der Gestaltung des öffentlichen Raums», man setze sich für eine «Stadt für alle» ein, heisst es beim Informationsdienst der Stadt Bern auf Anfrage. Dabei würden gerade sozialpolitisch relevante Themen von Anfang an und in allen Planungsschritten berücksichtigt. Als positives Beispiel nennt die Stadt die «neue Berner Bank», die in einem «interdisziplinären Entwicklungsprozess» konzipiert wurde; sie hat eine breitere Sitzfläche, steilere Rückenlehnen, Armlehnen sowie ertastbare Elemente für sehbehinderte Menschen. «Um eine Sitzbank zu schaffen, die für möglichst viele Menschen nutzbar ist, wurden Behindertenorganisationen, das Alters- und Versicherungsamt und weitere Fachstellen einbezogen. Ziel ist es, eine robuste, funktionale und allgemein zugängliche Möblierung bereitzustellen, die den Anforderungen des öffentlichen Raums gerecht wird, ohne bestimmte Nutzergruppen auszuschliessen.»
Stefan Kurath, Architekt und Professor für Architektur und Städtebau an der ZHAW Winterthur, hebt ebenfalls hervor, dass Inklusion in Architektur und Städtebau im Vordergrund stehe. Allerdings verweist er auf die Komplexität des gesamten Prozesses. «Zwar entwickeln Architekt*innen zum Beispiel im Auftrag der Stadt Ideen für die Gestaltung öffentlicher Plätze oder Bestandteile davon wie etwa Sitzbänke. Bis jedoch der Entscheid fällt, welche Elemente konkret wie gebaut werden, dauert es oft Jahre, in denen unzählige weitere Akteure stets von Neuem dazustossen und ihre je eigene Sicht einbringen.» Kurath möchte deswegen auch nicht von defensiver Architektur reden, denn das suggeriere, eine ganze Zunft würde öffentliche Räume gezielt so gestalten, dass Menschen ausgeschlossen werden. Wohl aber könne es im Rahmen des Prozesses von der Planung bis zum Bau zu «feindseligen Interventionen» kommen. Kurath nennt als Beispiel Sicherheits- oder Unterhaltserwägungen, die je nachdem dazu führen, dass bestimmte Personen an gewissen Orten unerwünscht seien. Auf diese Weise könne es vorkommen, dass am Ende des Entwicklungspro-
zesses ein bauliches Element wie beispielsweise eine Bank ohne Rückenlehne bewusst defensiv eingesetzt wird, obschon es ursprünglich gar nicht so konzipiert, sondern im Gegenteil inklusiv, also aneignungsoffen, gedacht wurde. Die Stadt ist Resultat solcher Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse. Im Falle defensiven Bauens ist es Ausdruck gesellschaftlicher Überforderung, so Kurath.
Formen der räumlichen Gewalt
Auch die Stadt Bern räumt ein, dass beim Konzept einer «Stadt für alle» Sicherheit eine hohe Priorität besitzt. «Sicherheitsrelevante Aspekte wie Beleuchtung, Übersichtlichkeit und die Vermeidung von potenziellen Angsträumen sind fester Bestandteil bei der Planung und Weiterentwicklung des öffentlichen Raums. Ziel ist es, ein sicheres und zugängliches Umfeld für alle Bevölkerungsgruppen zu schaffen, unabhängig von sozialen Zuschreibungen», heisst es seitens des Informationsdienstes der Stadt Bern.
Verschärfte Gesetze können ebenfalls Ausdruck solcher Sicherheitserwägungen sein. Dazu gehört in der Stadt Bern die Campingverordnung. Sie verbietet das Übernachten im öffentlichen Raum in der gesamten Stadt Bern. Das betrifft nicht bloss Tourist*innen, die ihren Van auf Parkplätzen abstellen, sondern auch wohnungslose Menschen. So bietet die «neue Berner Bank«, die bis 2035 in der Stadt Bern flächendeckend installiert werden soll, unabhängig von deren Gestalt für Obdachlose wieder keine Option. Obschon man darauf, im Gegensatz zu anderen Sitzbänken, liegen und schlafen könnte, ist dies per Campingverordnung verboten; die Menschen können weggewiesen und mit bis zu 2000 Franken gebüsst werden.
Melina Wälti von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern nimmt Fragen der Sicherheit im öffentlichen Raum ernst, sie kennt die Lage auf den Berner Strassen gut. Zugleich verweist sie auf einen grundsätzlichen Punkt: «Oft klaffen das persönliche Empfinden in Sachen Sicherheit oder Unsicherheit sowie die Realität auseinander. Man fühlt sich an gewissen Orten der Stadt unsicher, obschon die Zahlen etwa aus der Kriminalstatistik zeigen, dass es dort zu vergleichsweise wenigen Zwischenfällen kommt.» Gerade bei von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffenen sowie suchtkranken Menschen werde das Gefühl der Unsicherheit oftmals durch Bilder in

Die «neue Berner Bank» bietet zwar Fläche zum Schlafen, die Campingverordnung aber verhindert dies.
unserem Kopf und Stigmata hervorgerufen. Indem diese Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden, würden solche Vorurteile aber nicht abgebaut, sondern eher noch verstärkt, so Wälti weiter. Insbesondere sei problematisch, wenn man allein auf der Grundlage von Empfindungen Massnahmen in Richtung defensiver Architektur treffe.
Eine Massnahme der besonderen Art haben die Schweizerischen Bundesbahnen beim Haupteingang am Bahnhof Bern umgesetzt. Seit rund einem Jahr wird dort unter anderem klassische Musik abgespielt, und zwar in einer Frequenz, die nach einer gewissen Zeit nachweislich als unangenehm empfunden wird. Was die SBB nicht abstreiten. Dass damit aber bestimmte Personengruppen vertrieben werden sollen –darunter «Randständige» –, weisen die SBB auf Nachfrage zurück. Vielmehr gehe es darum, einen «reibungslosen Personenfluss» zu garantieren, der gemäss der Erfahrung von SBB-Mitarbeiter*innen durch die abgespielte Musik tatsächlich positiv beeinflusst werde. Darüber hinaus verfolgen die SBB keine Absichten, im Gegenteil: «Bahnhöfe gehören zum öffentlichen Raum. Deshalb sind dort grundsätzlich alle Menschen willkommen.»
Roger Meier stösst das sauer auf. «Der Bahnhof Bern tut alles, um Menschen dorthin zu locken – allerdings nur zu einem Zweck: um einzukaufen. Wer nichts konsumiert und sich trotzdem dort aufhält, stört bloss. Und muss weg.» Tatsächlich gehört der Bahnhof Bern mit rund 200 000 Menschen, die ihn täglich frequentieren, zu den umsatzstärksten der Schweiz; über siebzig Läden stellen dort nahezu alles für den Tagesbedarf bereit – und zwar «365 Tage im Jahr, von früh bis spät», wie die SBB selber werben.
Für Meier ist die Situation am Bahnhof bloss ein Symptom einer generellen Strategie der Vertreibung unerwünschter Personen. «Immer mehr nehmen private Unternehmen den öffentlichen Raum ein, und alles läuft über den Konsum.» Er nennt als Beispiel Beizen, die ihre Tische und Stühle rausstellen und so immer mehr Platz besetzen, in Parks zum Beispiel. «Wer es sich nicht leisten kann, dort einen Kaffee für sechs oder sieben Franken zu trinken – Obdachlose, aber auch Rentner*innen oder Familien, die unten durchmüssen –, für den bleibt immer weniger Platz. Dabei ist das doch öffentliches Terrain, Raum für alle.»
Obschon in diesem Fall keine besonderen baulichen Massnahmen getroffen werden, handelt es sich für Meier gleichwohl um eine feindselige Gestaltung des öffentlichen Raumes. Wie die abgeschrägten Sitzbänke, auf denen man nicht liegen kann, sendeten auch solche von Restaurants besetzten Plätze für Armutsbetroffene eindeutig das Signal aus, nicht willkommen zu sein, sagt Meier und redet von einer grundsätzlichen Ungerechtigkeit. Typischerweise lässt sich dieses Unrecht jedoch nur schwer beanstanden. Wer wäre denn konkret dafür verantwortlich: die Betreiber*innen eines Restaurants, das städtische Bauamt, die SBB? Letztlich nimmt diese Form der «räumlichen Gewalt» (wie der Philosoph Mickaël Labbé es nennt) die Gestalt einer Sitzbank oder einer Gruppe von Stühlen und Tischen an – und wie wollte jemand irgendwelchen Möbeln Vorwürfe machen? Diese vermeintlich harmlosen Beispiele zeigen, dass in unserer Gesellschaft ein «Wir» immer auch eng mit einem «Wo» verknüpft ist: Wie wir uns sozial (und auch politisch) organisieren, hängt massgeblich von Orten ab, an denen wir einander begegnen. Wer aber keinen Zutritt zu diesen hat, hat es ungleich schwerer, Teil der betreffenden Gemeinschaft zu sein.
Dialog und Solidarität

«Liegen, Sitzen und Herumlungern verboten!» signalisiert dieses kleine Schild.
Wie könnte es anders gehen? Architekt Stefan Kurath ist überzeugt, dass sich nicht bloss inklusiv planen, sondern auch so bauen lässt. Im Rahmen einer Studie hat er entsprechende Orte in der Schweiz untersucht, darunter den Europaplatz in Bern – für Kurath ein positives Beispiel. Was womöglich erstaunen mag, denn der 2014 fertiggestellte Platz erscheint auf den ersten Blick unwirtlich. Es gibt dort abgesehen von einer Efeuwand und ein paar Blumentöpfen nur Asphalt. Flankiert wird er durch Betonsäulen und -treppen sowie einem multifunktionalen Gebäude, wo Wohnungen untergebracht sind, Büros, Läden, ein Restaurant und das Haus der Religionen. Auf der einen Seite des Platzes befindet sich ein S-Bahnhof, auf der anderen eine stark befahrene Strasse und darüber eine achtspurige Autobahnbrücke. «Aus architektonischer Sicht ist der Europaplatz ein Beispiel für einen Ort, der durch die Art, wie er gebaut ist, nicht vorgibt, wer ihn nutzen darf und wie», sagt Kurath. Bei der Gestaltung öffentlichen Raumes stehen immer die Ansprüche unterschiedlicher Nutzer*innen zur Debatte;
sie alle zu erfüllen, könne ein Raum unmöglich bewältigen. Deshalb gehe es darum, architektonische Bedingungen zu schaffen, wo sich die Nutzer*innen selber einbringen können und dabei auch Unerwartetes möglich werde. «Genau diese Voraussetzungen erfüllt der Europaplatz», so Kurath. Ein Beleg für diese Auffassung von «bespielbarem Raum» sind bestimmte Teile des Europaplatzes, die nach und nach von Skater*innen angeeignet wurden und die derzeit weiter ausgebaut werden. Es finden aber auch religiöse Feste oder Rollschuhpartys bis hin zu Kunstaktionen statt – Ereignisse, die bei der Planung des Platzes im Jahr 2008 noch nicht im Blick waren. Für Kurath sind Beispiele wie dieses ein Zeichen dafür, dass Plätze im öffentlichen Raum nicht als monolithische und unveränderbare Elemente der Städteplanung aufgefasst werden sollten, sondern als Angebote einer «Stadtwerdung», die sich in konstruktiven Aushandlungsprozessen mit den jeweiligen Nutzer*innen immer wieder neu gestalten lassen. «Bei Fragen der Gestaltung öffentlichen Raumes ist Dialog alles», fasst Kurath zusammen. Und Solidarität, ergänzt Melina Wälti von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern. Sie erinnert daran, dass es immer auch um Macht gehe bei der Frage, wem der öffentliche Raum oder die Stadt gehört. Öffentliche Räume werden zunehmend verdichtet und kommerzialisiert, und willkommen sind vor allem diejenigen, die in den Läden einkaufen und in den Cafés konsumieren. Diese Personen können den öffentlichen Raum wie selbstverständlich für sich beanspruchen und haben darüber hinaus das Privileg, über private Räume zu verfügen. «Die meisten von uns können sich aus dem öffentlichen Raum ins Private zurückziehen, wenn es uns zu viel wird oder wir unsere Ruhe haben möchten – in den eigenen vier Wänden, auf dem Balkon oder im Garten.» Wer dagegen auf der Strasse lebe, könne das nicht. Diese Person sei darauf angewiesen, sich dort aufhalten zu können, für sie werde das Öffentliche ein stückweit zum Privaten, so Wälti. «Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir, die bereits ein Zuhause haben, uns solidarisch zeigen gegenüber denen, die den öffentlichen Raum als Aufenthaltsort brauchen. Dass wir uns zurücknehmen, wenn es um die Frage geht, wem diese Orte gehören oder wer sie sich auf welche Weise aneignen darf. Und uns darauf einlassen, dass Neues und Unerwartetes entsteht, wenn man mehr Platz gibt statt Platz nimmt.»

Auch wenn die warme Abluft womöglich Menschen im Winter guttäte, kann man hier nicht sitzen.
Armlehnen inmitten der Sitzfläche verhindern das Ausstrecken der Glieder in der Waagerechten.


So klingt das Glück
TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION PIRMIN BEELER
BÜHNE Meine Familie ist eine Musiker*innenfamilie. Trotz Pensionierung probt mein Vater, Gitarrist und Chorleiter, noch mit einem Chor in der Kleinstadt bei Hamburg, aus der ich komme. Es gehört zu meinen frühen Kindheitserinnerungen, dass ich ans Bein meiner Mutter gelehnt zwischen den Sopranistinnen stehe und mit ihnen für Frieden singe. Oder gegen Atomkraft bei den Protesten vor dem inzwischen vom Netz genommenen AKW Stade. Es war ein Gewerkschaftschor. Singen macht nachgewiesenermassen glücklich, das merke ich auch jetzt wieder. Auf Besuch im Norden Deutschlands bei meinen Eltern bin ich mal wieder bei einer Chorprobe. Zwischen meinem Sohn und meiner Mutter stehe ich inmitten der eher
wortkargen und distanzierten Norddeutschen, gemeinsam schmettern wir «Tourdion», ein mittelalterlich anmutendes französisches Lied aus dem frühen 16. Jahrhundert. Je länger wir singen, desto mehr von uns lächeln. Es passiert von ganz allein, die Melodie, der Takt und die Harmonien lassen uns keine Wahl. Da ist’s egal, dass es im Stück einfach nur ums Weintrinken geht. Die Stimmung im Raum hebt sich, und schon kommt man auch mal miteinander ins Gespräch in den Pausen. Musik verbindet.
Auch der Verein Surprise hat einen Chor. Man braucht keine musikalischen Vorkenntnisse, um hier mitzusingen. Einmal die Woche wird geprobt, und mehr als einmal im Monat gibt es auch einen Auf-
tritt. Dabei geht es beim Surprise Strassenchor nicht in erster Linie um die Performance, sondern um den Zauber des gemeinsamen Erlebens: nämlich die fast magische Fähigkeit von Musik, die Menschen von ihren Sorgen abzulenken – nicht nur jene, deren Leben schwierig und deren Geld knapp ist. Das kann man auch von aussen sehen: Der Chor verbreitet Lebensfreude, das lässt kein Publikum kalt. Manch eine*r singt mit, andere lachen und klatschen.
Musik kann therapeutisch wirken. Sie kann Emotionen vermitteln, aber auch kanalisieren. Auch für Nicht-Musiker*innen bieten vertraute Klänge ein Zuhause, sie lassen ganze Subkulturen entstehen, schweissen so Gruppen zusammen oder

dienen als Ventil. Mancherorts geht man abends in die Beiz, wo sich spontan Musiker*innen zusammenfinden, und schon wird gejammt – irische Pubs sind dafür berühmt. Andernorts erlebt man die besten Konzerte auf der Strasse oder am Strand. Kommt man aus unterschiedlichen Kulturen, kann man über das gemeinsame Musizieren Verbindendes entdecken, einander näherkommen. Musik ist auch eine Sprache.
Ein Freund sammelt alte fränkische Lieder. Er ist ein alter Punk, die ehemals bunt gefärbt abstehenden Haare sind heute weisse Stoppeln, doch er ist weiterhin politisch besorgt um den Zustand unserer Welt. Sein Dissidententum hält ihn nicht davon ab, mindestens drei Sorten Volkstänze zu tanzen (auch wenn er sie vielleicht lieber nicht mit diesem Wort bezeichnet).
Er möchte aufrechterhalten, was früher mal nicht politisch exklusiv von rechts besetzt war, sondern wie Kitt für die Gemeinschaft funktionierte. Und es geht ihm um Begegnung. Mit seinem Akkordeon besucht er Altersheime und die Psychiatrie, um mit seinen Melodien Menschen zu berühren, die teilweise für Konversationen nicht mehr erreichbar sind. Seine Walzer sind so schön, dass man weinen muss. Projekte wie das West-Eastern Divan Orchestra haben über Jahrzehnte daran gearbeitet, mittels Musik auf das Verbindende zwischen Israeli und Palästinenser*innen zu fokussieren. Musik kann auch Unterstützung und Resilienz verkörpern, kann Mut machen, Protest ausdrücken und den Schrecken der Gegenwart abmildern. Doch gegen das Töten ist Musik machtlos. Was tun, wenn sich ein Ensemble plötzlich
familiär und biografisch auf verschiedenen Seiten einer Frontlinie wiederfindet – wie es einigen Gruppen auch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine geschehen ist? Vielleicht kann Musik in Konflikten Verhärtungen begegnen und Hass abbauen. Doch wie geht man in Zeiten des Krieges mit dem Kulturgut des Aggressors um? Musik ist kein Allheilmittel. Sie wird auch zu Propagandazwecken benutzt und dem Profit zuliebe ihrer Kraft beraubt. Und doch kann sie den dringend benötigten Raum zu etwas Schönem öffnen.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein Austausch stattfindet.


Ausgesperrt
Asylwesen Im Kanton Schwyz werden abgewiesene Asylsuchende in der Unterkunft Kaltbach tagsüber ausgesperrt – wie in einer Notschlafstelle. Egal, ob sie krank sind oder es draussen schneit. Doch die Bewohner wehren sich.
TEXT KIRA KYND UND ANNIKA LUTZKE FOTOS KIRA KYND

Der Container bleibt von 9.30 bis 19 Uhr geschlossen. Wer am Abend verspätet zurück ist, wird sanktioniert.

Ein junger Somalier läuft im Nieselregen um einen weissen Container. Mit einer Hand hält er eine Bierdose, mit der anderen schlägt er unaufhörlich gegen seinen Kopf. Immer wieder zeigt er auf den verschlossenen Container und ruft: «Das ist die Schweiz. Das tut uns die Schweiz an.»
Habbane Bouraz ist einer von sechzehn alleinstehenden Männern, die in der Nothilfeunterkunft Kaltbach in Schwyz leben. Er heisst – wie alle Bewohner der Unterkunft in diesem Text – in Wirklichkeit anders. In der kleinen Ortschaft mit weniger als zweihundert Einwohner*innen gibt es ausser einer Tankstelle keine Einkaufsmöglichkeiten. Nachts schlafen die Asylsuchenden in dem Container zwischen dem Militäramt, dem Verkehrsamt und einer Umfahrungsstrasse. Tagsüber jedoch werden sie auf die Strasse gestellt und ausgeschlossen. «Diese Zustände machen uns psychisch kaputt», sagt Farid Abbas, der vor mehr als zehn Jahren aus dem Iran geflohen ist. Er stellt sich zu Habbane Bouraz in den Regen, ein Vordach gibt es nicht. Der 32-Jährige trägt einen Vollbart, eine Sonnenbrille und eine Kappe mit der Aufschrift «Mr. No One».
Es ist halb sieben Uhr abends, langsam kommen immer mehr Männer auf dem kleinen Kiesplatz vor dem Container zusammen. Die Schweizer Migrationsbehörden haben ihre Asylgesuche abgelehnt oder ihnen die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Seither leben sie in der Nothilfeunterkunft Kaltbach und warten dort jeden Abend vor den vergitterten Fenstern auf den Sicherheitsmann, der sie zu ihren Betten lässt. Einmal, am 13. April, protestierten sie auf ebendiesem Kiesplatz für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, mit Schildern in den Händen, auf denen stand: «Wir haben kein Leben! Wir haben keine Freiheit!» oder «Leere Herzen» und «Sie können uns nicht fühlen». An die Tür der Unterkunft klebten sie einen Zettel mit der Aufschrift «Willkommen im Psych Lab», als sei es ein Versuchslabor.
Nothilfe ist zugleich Druckmittel
Habbane Bouraz ist seit neun Monaten in Kaltbach untergebracht. «Das Leben hier kannst du nicht aushalten.» Einmal reiste er aus und suchte in einem anderen europäischen Land nach einer Perspektive, dort aber nahm die Polizei ihn fest und übergab ihn den Schweizer Behörden, die ihn wieder nach Kaltbach brachten. Auch wenn die Schweiz ihn nicht haben will, bleibt sie gemäss Dublin-Verordnung für ihn zuständig. Für eine Abschiebung fehlt den Schweizer Behörden ein Rückübernahmeabkommen mit Somalia.
Um 19.00 Uhr erscheint ein Angestellter der privaten Sicherheitsfirma Schilter Sichern-Bewachen AG, die vom Migrationsamt mit der Überwachung der Nothilfeunterkunft beauftragt wurde. Er trägt eine Leuchtweste und einen Hut mit breiter Krempe. Hinter ihm reihen sich die Männer zur allabendlichen Anwesenheitskontrolle ein. Er schliesst den Container auf. Wer zu spät kommt, wird sanktioniert. Zehn Franken pro Tag müssen den Männern zum Überleben reichen. Ausbezahlt wird das Geld jede Woche freitags im Amt für Migration im Kantonshauptort Schwyz, erreichbar in dreissig Minuten Fussweg. Einmal zu spät kommen, heisst zehn Franken Abzug.
Das Taschengeld ist Teil der Nothilfe. Laut Artikel 12 der Bundesverfassung hat jede Person in Not Anspruch auf «Hilfe, Betreuung und die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Dieses Recht erhielt seine Bedeutung überhaupt erst mit dem Ausschluss abgewiesener Asylsuchender aus
der regulären Sozialhilfe, die allen anderen Menschen in der Schweiz eine Existenzsicherung gewährleistet. Was also ein «menschenwürdiges Dasein» beinhaltet, wurde somit anhand abgewiesener Asylsuchender diskutiert und umgesetzt. Da abgewiesene Asylsuchende zur Ausreise verpflichtet sind, sollen sie nur das absolute Minimum erhalten. Die Nothilfe dient damit gleichzeitig als Unterstützung in der Not und als Druckmittel zur Ausreise. Damit werden laut Jurist*innen zwei eigentlich unvereinbare Prinzipien in einer Praxis vereint: Eine Verfassungsregelung, die geschaffen wurde, um Menschen vor einer absoluten Notlage zu bewahren, wird gleichzeitig zur Durchsetzung asylpolitischer Ziele verwendet.
Anwesenheitskontrolle, Sachen packen, raus!
Im Container ist es blendend hell. Die Räume sind beengt und kahl, die meisten Männer ziehen sich, sobald der Sicherheitsmann sie einlässt, sofort auf ihre Betten zurück. «Gestern waren wir noch zu sechst im Zimmer. Heute Morgen kam die Polizei und nahm einen Mann aus Nigeria mit. Jetzt sind wir nur noch zu fünft», erzählt Karim Pirani, ein 47-jähriger Mann mit schwarzer Brille. Er lebt seit elf Monaten in Kaltbach und kommt wie Farid Abbas aus dem Iran. Was mit dem Mann aus Nigeria geschah, weiss er nicht: «Ich glaube, er wurde ausgeschafft, das passiert hier regelmässig.»
Die drei Massenschläge mit Hochbetten, die kleine Küche und der Waschraum bieten kaum Privatsphäre. «Da wir den ganzen Tag ausgesperrt werden, gibt es abends grossen Andrang an der einzigen Waschmaschine und dem Kochherd», erzählt Pirani. Um 22 Uhr kommen die Sicherheitsleute wieder und schliessen die Küche ab.

Drei Massenschläge, eine kleine gemeinsame Küche und ein Waschraum –kein Raum für Rückzug.
Auch die Nächte sind schwierig im «Bunker», wie die Bewohner die Unterkunft nennen. «Irgendjemand schnarcht immer», sagt Farid Abbas. Im Gegensatz zu anderen Nothilfeunterkünften gebe es hier zwar Fenster, doch ein Ort zum Leben sei es nicht. Um 8 Uhr morgens wecken zwei Sicherheitsleute die Männer. Dann müssen sie noch einmal zur Anwesenheitskontrolle unterschreiben, ihre Sachen packen und die Unterkunft spätestens um 9.30 Uhr verlassen haben. Farid Abbas erzählt, wie die Sicherheitsleute durch die Räume laufen und zynisch singen: «Guten Morgen, liebe kleine Ausländer! Steht auf, ihr müsst das Land verlassen!» Karim Pirani lacht bitter über die Erzählung und nickt. Was die Schilter AG zu den geschilderten Vorfällen meint, bleibt unklar, da sie «aus Sicherheitsgründen grundsätzlich keine Auskunft» gebe – wie es auf Anfrage heisst. Auch bei Krankheit und psychischen Krisen müssen die Bewohner sich an dasselbe Sicherheitspersonal wenden, teilt das Amt für Migration auf Anfrage mit. Den Tag müssen sie in jedem Fall draussen verbringen. Eine ärztliche Behandlung erhalten die Betroffenen erst, wenn sie sich am Schalter des Migrationsamts melden.
Wie der Minimalanspruch der Nothilfe auf Nahrung, Kleidung und Obdach umgesetzt wird, bestimmen die Kantone. In Schwyz setzt das Migrationsamt also auf eine tagsüber geschlossene Notschlafstelle ohne Aufenthaltsräume. Auf Anfrage schreibt dessen Amtsvorsteherin Tünde Szalay, die Nothilfe solle sich «auf den minimalen Standard» beschränken und keinen Anreiz zum Verbleib in der Schweiz bieten.
In vielen Kantonen erhalten jedoch auch abgewiesene alleinstehende männliche Asylsuchende eine durchgehend zugängliche Unterkunft – etwa im Kanton Bern. Auf Anfrage heisst es von
Kochen bevor der Sicherheitsdienst die Küche verriegelt: Die 10 Franken pro Tag müssen für alle Mahlzeiten reichen.

dort, eine tagsüber geschlossene Unterkunft reiche nicht aus, um «Stabilität, Sicherheit und einen möglichst normalen Alltag» zu bieten. Es sei daher «ein politischer Entscheid», im Kanton Bern auf durchgehend zugängliche Unterkünfte zu setzen. Laut Erfahrungsberichten von Bewohner*innen der Berner Rückkehrzentren ist auch das dortige Leben zermürbend und weit von einem normalen Alltag entfernt. Auch im Kanton Schwyz werden nicht alle abgewiesenen Asylsuchenden tagsüber ausgesperrt. Frauen und Familien werden in einer separaten Unterkunft untergebracht, wo sie auch tagsüber sein können.
Solidarität im Ort
Am nächsten Tag machen sich Karim und Farid auf ins «Mitenand Schwyz». Das alte Haus liegt im Herzen der Stadt Schwyz und dient als Begegnungsort für Asylsuchende und Einheimische. Es ist ein von Freiwilligen getragenes Projekt. Unter dem Vordach sitzt die Mitinitiatorin Charlotte Siegwart auf einer grünen Holzbank und begrüsst die Männer mit einer Umarmung. Dank einer Leistungsvereinbarung erhält der Verein etwas Geld von der Gemeinde, um etwa die Heizkosten zu decken. Das Holzhaus hat keine Zentralheizung und ein undichtes Dach. Der Verein «Mitenand» organisiert Deutschkurse, Malkurse, Kinderbetreuung, Konversationsrunden und bietet kostenlose Kleidung und Velos an. Die Holztreppe ins Obergeschoss knarrt bei jedem Schritt. Drinnen ist es warm, der Duft von Lasagne liegt in der Luft. Heute sind etwa zwanzig Geflüchtete anwesend, zehn davon aus Kaltbach. In der engen Küche wird geredet, gelacht und gekocht – wie jeden Mittwoch.
Für ein paar Stunden können sich die Menschen hier entspannen. «Das ist ein sicherer Ort», sagt Farid Abbas und serviert Tee und Zitronenkuchen, «doch leider kann selbst ‹Mitenand› für uns die Tür nicht immer offen halten.» Berzan Demirtaş, ein junger Kurde, setzt sich dazu. «Gestern waren wir tagsüber am Bahnhof, heute im Einkaufszentrum – wo sollen wir morgen hin?» Siegwart ergänzt: «Die Leute regen sich über ‹rumlungernde Männer› auf, ohne zu wissen, dass diese keinen Ort haben und nicht arbeiten dürfen.» Je nach Wetterbedingungen suchen sich die Abgewiesenen tagsüber andere Orte, führt Farid Abbas aus, oft einfach eine freie Parkbank. «Jeder hat seinen eigenen Plan und Überlebensstrategie.» Einige fahren nach Luzern oder Zürich, um dort Deutschkurse oder andere Einrichtungen zu besuchen, während andere sich mit Sport beschäftigt halten. «Es gibt nichts zu tun. Wir warten nur, dass die Zeit vergeht. Und am nächsten Morgen bedauern wir dann die Verschwendung des vorherigen Tages.»
Vergebens auf Menschlichkeit gehofft
Das Leben im Nothilferegime setzt den Bewohnern psychisch stark zu. Deshalb beschlossen sie im Rahmen der Protestaktion vor der Unterkunft im April, über die Kanäle des «Migrant Solidarity Network» – diese Organisation setzt sich gemeinsam mit (geflüchteten) Migrant*innen für deren Rechte ein – einen offenen Brief zu veröffentlichen. Darin beschreiben sie die unhaltbaren Zustände der Unterkunft: «Wir haben die Wahl zwischen dem Tod oder einem Ort, der uns krank macht.»
Der Brief lag wochenlang auf einem Tisch in der Unterkunft bereit. Farid Abbas hätte ihn gern schon früher veröffentlicht, doch Charlotte Siegwart hielt ihn zunächst zurück. Sie wollte zuerst mit der Migrationsbehörde sprechen. Tatsächlich hatte
«Die Leute regen sich über ‹rumlungernde Männer› auf, ohne zu wissen, dass diese keinen Ort haben und nicht arbeiten dürfen.»
vor fünf Jahren ein Gespräch einige notwendige Verbesserungen gebracht: Das Amt tauschte von Bettwanzen befallene Matratzen aus, installierte eine Waschmaschine und gestattete den Bewohnern, bei Minustemperaturen tagsüber in der Unterkunft zu bleiben – was auch heute noch gilt.
Anfang April setzte Siegwart erneut Hoffnung in einen Dialog mit der Amtsvorsteherin: «Doch diesmal stiessen wir auf Granit.» Sie ist nicht überrascht: «In Schwyz ist die Fremdenfeindlichkeit zu stark.» Die Stimmung gegen Geflüchtete sei menschenverachtend. «Nicht nur in Schwyz, sondern in ganz Europa und weltweit.» Wie auf die öffentliche Protestaktion reagierte das Migrationsamt Schwyz auch nicht auf den offenen Brief. Ende April verlagerten Habbane Bouraz, Karim Pirani, Farid Abbas und drei weitere Bewohner ihren Protest und verbrachten einen ganzen Freitag vor dem Migrationsamt in Schwyz, um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu erwirken. «Trotz Regen sind wir hier, und am Montag machen wir weiter», sagt Farid Abbas. Am Montag sind sie bereits zu acht. Am Dienstag ruft das Amt die Polizei – und die Protestierenden werden des privaten Geländes verwiesen. Die Polizei verhaftet Farid Abbas kurzzeitig, weil er sich in der Schweiz nicht legal aufhalten kann. «Wir werden unsere Praxis nicht ändern», schreibt Amtsvorsteherin Szalay auf Nachfrage von Surprise. Auch die restliche Woche versammeln sich die Bewohner der Nothilfeunterkunft Kaltbach täglich auf einem öffentlichen Platz im Zentrum von Schwyz. Für Farid Abbas und seine Kollegen ist klar: «Wir müssen für uns kämpfen – niemand sonst wird es tun.»
Serie «Hinter Mauern»
In unserer neuen Serie blicken wir hinter unterschiedliche Mauern – bauliche, aber auch soziale oder symbolische.
Teil 1: Schutz und Freundschaft, Surprise Nr. 594
Teil 2: Diese Welt der Ausgrenzung, Surprise Nr. 596
Teil 3: Aus den Augen, auf den Teller, Surprise Nr. 598

Verkäufer*innenkolumne
Freundschaft
In diesem Text stehen leere Linien: Fügen Sie hier den Namen Ihrer*Ihres besten Freund*in ein.
Wie heisst er oder sie oder they?
Wie lange kennen Sie _________ ?
Ist _________ für Sie da, wenn es Ihnen schlecht geht?
Was war das Beste, das Sie mit _________ erlebt haben?
Wie oft hat _________ Sie ignoriert?
Dürfen Sie _________ umarmen?
Darf _________ Sie umarmen?
Wie oft haben Sie mit ____ Krach gehabt?
Wie reagiert _________ , wenn jemand eine verlogene Räubergeschichte über Sie erzählt?
Wie begrüssen Sie _________ ?
Wie begrüsst _________ Sie?
Würde _________ mit Ihnen ins Konzert gehen?
Wie sehr ist _________ Ihnen ähnlich?
Wie viele Kurznachrichten schicken Sie _________ ?
Wie viele Kurznachrichten schickt _________ Ihnen?
Wie reagiert _________ , wenn Sie etwas Verletzendes sagen oder tun?
Was gefällt Ihnen besonders an ?
Was ist ein Laster von _________ ?
So erschien der Fragebogen vor fünf Ausgaben: Antworten darauf finden Sie nebenan.
Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich nichts mehr von _________ hören würden?
Was denken Sie, wie _________ reagieren würde, wenn Sie spurlos verschwänden?
Kann es sein, dass Sie sich mit _________ plötzlich aufs Blut verfeinden?
MICHAEL PHILIPP HOFER, 44, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon. Wenn Sie ihm Ihre Antworten zukommen lassen möchten, schicken Sie sie an heft@strassenmagazin.ch mit dem Betreff «Fragebogen».
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
«Umarmung / Küsse»
Dialo g Surprise-Verkäufer Michael Philipp Hofer hat in seiner Kolumne vor einigen Wochen danach gefragt, wie Freundschaft konkret aussieht. Dies sind die Antworten von Leserinnen.
TEXTE FARINA HIROSHIGE , RAQUEL SANTOS DO Ó , MARIANNE FRIES , ELISA-MARIA JODL UND URSULA SALZMANN
So individuell die Geschichten sind, die in den folgenden Texten anklingen, so verbinden sie doch ein paar grundlegende Gewissheiten: Wer plötzlich nichts mehr hört von der*dem besten Freund*in, forscht nach. Das Vertrauen ineinander ist gross, die grundsätzliche Verlässlichkeit verbindend. Die Texte vermitteln eine Verbundenheit zwischen Menschen, auch wenn die Art der Verbundenheit gar nicht immer klar greifbar oder ausgesprochen zu sein scheint. Interessant ist auch, mit wie viel Selbstverständlichkeit Streit zu einer Freundschaft gehören kann – und dass er nicht unbedingt als etwas nachhaltig Verletzendes
empfunden wird. Und spannend, wie nachsichtig wir sein können, wenn wir genervt sind. Die Antworten auf den Fragebögen zeigen auch, wie Menschen und Menschlichkeit funktionieren können. Es sind Texte über Gesagtes und Ungesagtes, über Gefühltes und Vermutetes. In den knappen Antworten – manchmal nur in Stichworten –klingen vielschichtige Beziehungen an. Innigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen, aber auch Schwieriges und Schmerz. Es ist schön zu sehen, wie viel eine Freundschaft auszuhalten vermag oder wie sehr sie in einem weiterlebt, auch wenn jemand gegangen ist. DIF
Frau D.
TEXT FARINA HIROSHIGE
Wie heisst er oder sie oder they? Frau D. Wie lange kennen Sie ? Ich schätze mal drei Jahre. Ist für Sie da, wenn es Ihnen schlecht geht? Das war noch nie der Fall. Ich denke aber, ja. Was war das Beste, das Sie mit erlebt haben? Einen Spaziergang ohne Streit. Wie oft hat Sie ignoriert? Diese Frage verstehe ich nicht. Meinen Sie, an mir vorbeigegangen ist, ohne zu grüssen? Meinen Sie, auf ein E-Mail nicht geantwortet? Dürfen Sie umarmen? Ja. Darf Sie umarmen? Ja. Wie oft haben Sie mit Krach gehabt? Nach dem zehnten Mal habe ich aufgehört zu zählen. Wie reagiert , wenn jemand eine verlogene Räubergeschichte über Sie erzählt? Das weiss ich nicht. Ich bin ja nicht dabei. Jedenfalls hat mir D. noch nie gesagt, jemand hätte eine verlogene Räubergeschichte über mich erzählt. Wie begrüssen Sie ? «Sali» Wie begrüsst Sie? «Hoi» (D. ist von Zürich) Würde mit Ihnen ins Konzert gehen? Ich glaube eher nein. Wie sehr ist Ihnen ähnlich? Leider viel zu ähnlich! Wie viele Kurznachrichten schi-
cken Sie ? Ich besitze kein Mobiltelefon. Wie viele Kurznachrichten schickt Ihnen? – Wie reagiert , wenn Sie etwas Verletzendes sagen oder tun? Ich kann mich nicht erinnern, dass es einmal diese Situation gegeben hätte. Was gefällt Ihnen besonders an ? Sie ist hart im Nehmen. Man kann nach einem Streit wieder mit ihr abmachen. Was ist ein Laster von ? Ununterbrochenes Reden, ohne andere zu Wort kommen zu lassen. Prahlerei mit ihrer damaligen Berufstätigkeit und ihrem tollen Diplom. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich nichts mehr von hören würden? – Probieren, sie telefonisch zu erreichen. – Einen Zettel in ihren Briefkasten tun. – Bei der Stadtverwaltung fragen, ob sie noch in Basel wohnt. – Wenn ich auf der Strasse Bekannte von ihr treffe, fragen, ob sie etwas wissen. Was denken Sie, wie reagieren würde, wenn Sie spurlos verschwänden? Da habe ich keine Ahnung. Kann es sein, dass Sie sich mit plötzlich aufs Blut verfeinden? Die Möglichkeit besteht durchaus.
TEXT RAQUEL SANTOS DO Ó
Wie heisst er oder sie oder they? Edgar. Wie lange kennen Sie ? 24 Jahre. Ist für Sie da, wenn es Ihnen schlecht geht? Ja. Was war das Beste, das Sie mit erlebt haben? Als sein Sohn zu uns kommen konnte (Zusammenleben). Wie oft hat Sie ignoriert? Mehrmals. Dürfen Sie umarmen? Immer, wenn ich will. Darf Sie umarmen? Ja, wenn ich es erlaube. Wie oft haben Sie mit Krach gehabt? Oft. Fast jeden Tag über die elf Jahre des Zusammenlebens. Wie reagiert , wenn jemand eine verlogene Räubergeschichte über Sie erzählt? Er würde es nicht glauben. Wie begrüssen Sie ? Umarmung/Küsse. Wie begrüsst Sie? Umarmung/Küsse. Würde mit Ihnen ins Konzert gehen? Ja, wenn ich ihn frage. Wie sehr ist Ihnen ähnlich? Extrem anders. Wie viele Kurznachrichten schicken Sie ? Mal ein paar, mal viele. Er mag lieber Telefonate. Wie viele Kurznachrichten schickt Ihnen? Mal ein paar, mal nichts. Wie reagiert , wenn Sie etwas Verletzendes sagen oder tun? Er sagt das Gleiche zu mir oder schlimmer oder geht raus, weg von zuhause für ein paar Stunden. Was gefällt Ihnen besonders an ? Er ist immer dabei, wenn ich ihn nach etwas frage. Was ist ein Laster von ? Früher Alkohol. Jetzt: Telefonate, online verkaufen, Geld sparen, Brocki. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich nichts mehr von hören würden? Ich würde mir Sorgen machen. Ich würde ihn suchen. Was denken Sie, wie reagieren würde, wenn Sie spurlos verschwänden? Es würde ihm Sorgen machen. Er würde mich suchen. Kann es sein, dass Sie sich mit plötzlich aufs Blut verfeinden? Nein. Aber nach elf Jahren hat er sich so verhalten und ich habe das Haus verlassen. Ich komme nicht mehr zurück, weil ich müde bin. Das Zusammenleben ist fertig. Aber er ist immer noch mein bester Freund.
Textwerkstatt
Die Schreiber*innen der Verkäufer*innenKolumne (S. 6) treffen sich etwa alle sechs Wochen in der Gruppe, um Ideen zu entwickeln, Themen zu besprechen, Feedback zu geben. Zusätzlich arbeiten sie selbständig und im bilateralen Austausch mit Redaktion, sozialer Arbeit und dem Autor Ralf Schlatter an Texten. Die Idee, einen Fragebogen zu veröffentlichen, stammt von Michael Philipp Hofer, der ihn auch zusammengestellt hat. DIF
TEXT MARIANNE FRIES
Wie heisst er oder sie oder they? Regula. Wie lange kennen Sie ? 34 Jahre. Ist für Sie da, wenn es Ihnen schlecht geht?
Ja. Was war das Beste, das Sie mit erlebt haben? Zeit zu verbringen. Wie oft hat Sie ignoriert? Nie. Dürfen Sie umarmen? Ja. Darf Sie umarmen?
Ja. Wie oft haben Sie mit Krach gehabt? Nie. Wie reagiert , wenn jemand eine verlogene Räubergeschichte über Sie erzählt? Empathisch nachfragend. Wie begrüssen Sie ? Umarmung. Wie begrüsst Sie? Umarmen. Würde mit Ihnen ins Konzert gehen? Wenn es ihr Stil ist und wenn ich sie brauche. Wie sehr ist Ihnen ähnlich? Nicht in allem, aber in vielem. Wie viele Kurznachrichten schicken Sie ? Täglich zwei. Wie viele Kurznachrichten schickt Ihnen? Zwei bis drei. Wie reagiert , wenn Sie etwas Verletzendes sagen oder tun? Wir verletzen uns nicht. Was gefällt Ihnen besonders an ? Einfühlungsvermögen. Was ist ein Laster von ? Zu hilfsbereit auf ihre Kosten. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich nichts mehr von hören würden? Besorgt. Was denken Sie, wie reagieren würde, wenn Sie spurlos verschwänden? Unendlich traurig. Kann es sein, dass Sie sich mit plötzlich aufs Blut verfeinden? Nein.
TEXT ELISA-MARIA JODL
Wie heisst er oder sie oder they? SY Wie lange kennen Sie ? 26 Jahre. Ist für Sie da, wenn es Ihnen schlecht geht? Vermutlich schon (dass es mir schlecht ging, ist lange her). Was war das Beste, das Sie mit erlebt haben? Wir halten zusammen Kurse. Wie oft hat Sie ignoriert? Nie. Dürfen Sie umarmen? Ja. Darf Sie umarmen? Ja, claro. Wie oft haben Sie mit Krach gehabt? Nie. Wie reagiert , wenn jemand eine verlogene Räubergeschichte über Sie erzählt? Sie würde kräftig protestieren, energisch den Kopf zurückwerfen. Wie begrüssen Sie ? Mit Umarmung. Wie begrüsst Sie? Mit Umarmung. Würde mit Ihnen ins Konzert gehen? Ja, z.B. im Sommer ans Tattoo in Basel. Wie sehr ist Ihnen ähnlich? Von aussen betrachtet: sie klein, ich gross; sie Mutter mit Kindern und Enkelkindern, ich alleinstehend; sie selbständig erwerbend, ich freischaffend mit Unterstützung des verstorbenen Mannes; innerlich betrachtet: ähnliche Fragestellungen, Sehnsüchte, LEBEN zu erfahren. Wie viele Kurznachrichten schicken Sie ? Sehr, sehr wenig. Wie viele Kurznachrichten schickt Ihnen? Sehr, sehr wenig. Wie reagiert , wenn Sie etwas Verletzendes sagen oder tun? Sie würde zurückfragen, was das solle, ob mir das ernst ist? Was gefällt Ihnen besonders an ? Ihre Lebendigkeit. Was ist ein Laster von ? ??? Weiss ich nicht. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie plötzlich nichts mehr von hören würden? Nachfragen bei ihrem Mann, bei Menschen, die sie kennen … Was denken Sie, wie reagieren würde, wenn Sie spurlos verschwänden? Sich sorgen? Auch versuchen herauszufinden, was los ist? Kann es sein, dass Sie sich mit plötzlich aufs Blut verfeinden? NEIN.
Rosmarie
TEXT URSULA SALZMANNN
Meine Freundin heisst Rosmarie
Ich kenne Sie seit zehn Jahren.
Sie ist immer für mich da, wenn es nötig ist. Unsere Begegnungen waren immer sehr angeregt und herzlich.
Rosmarie wollte mir nur einmal ausweichen.
Den Grund kenne ich erst seit kurzem.
Wir umarmen uns jedes Mal.
Streit hatten wir nie.
Über Rosmarie hat nie jemand gelästert, im Gegenteil.
Wir begrüssen uns glücklich über das Wiedersehen.
Wir waren zweimal in einem Konzert.
Wir sind seelenverwandt.
Wir schicken uns keine Kurznachrichten. Wir haben uns nie gegenseitig verletzt.
Rosmaries Herzlichkeit, Interesse und Liebe.
Ich kenne keine Laster.
Rosmarie ist verschwunden. Wir trafen uns jeweils vierteljährlich zum Zmittag. Unsere Gespräche dauerten meistens sieben Stunden lang und waren erfüllend.
Als sie mir auf der Strasse kurz ausweichen wollte, war es, dass sie mir vermutlich nichts von ihrer Krankheit erzählen wollte.
Drei Monate später war sie tot, 82-jährig. Ganz zufällig hörte ich von meinem Bruder, dass sie gestorben war, und auch er hatte es zufällig erfahren. Zum Glück noch so früh, dass ich wenigstens an ihrer Beerdigung teilnehmen konnte. Obwohl mit mir verwandt, hat sie nichts unternommen, dass ich benachrichtigt werden sollte. Sie kannte so extrem viele Leute, die alle um sie trauerten. Sie war jahrzehntelang in Afrika und auf den Malediven für ihren Gott unterwegs als Krankenschwester und Hebamme. Ich war so schockiert und bin heute noch am Nagen, weil sie einfach gegangen ist! Ich weiss, dass sie sich auf Gott und den Himmel gefreut hat. Das ist ein Trost.


Die Vergangenheit mit der Gegenwart vernähen
Kunst Die Romni und Künstlerin Malgorzata Mirga-Tas näht aus Textilien visuelle Erzählungen. Und thematisiert so aus feministischer Sicht das Alltagsleben wie auch stigmatisierende Darstellungen von Rom*nja in der Kunstgeschichte.
TEXT EMILIA SULEK
Spisz ist eine multikulturelle Region in den Bergen zwischen Polen und der Slowakei. Nicht weit entfernt erheben sich die Gipfel der Tatra, eines Teils der Karpaten. Die Menschen dort sprechen polnisch, slowakisch und romanes. Seit dem 15. Jahrhundert leben Rom*nja in diesem Gebiet. «Sie sind keine Fremden oder Neuankömmlinge, sondern Teil dieser Kultur», sagt Małgorzata Mirga-Tas, Romni und Künstlerin aus dem Dorf Czarna Góra (Kali Berga auf Romanes). Ausschnitte aus dem Dorfleben sind noch bis am 15. Juni in Form von Textilkollagen in ihrer Ausstellung «Eine alternative Geschichte» im Kunstmuseum Luzern zu sehen.
Mirga-Tas hat Bildhauerei studiert. «Das hilft mir auch bei meiner jetzigen künstlerischen Praxis: Indem ich Materialschichten übereinander lege, forme ich daraus die Realität.» Diese besteht aus Kleiderresten und anderen Textilien, die sie von der Familie und Nachbar*innen gespendet erhalten oder in Second-Hand-Läden entdeckt hat. Mehr als nur eine Bluse hat sie selbst für ihre Kunst geopfert. In ihren Werken finden sich auch Fotos, Spielkarten und anderer Krimskrams, eine abgebildete Henne hat sogar echte Federn. Fotos spielen eine wichtige Rolle, Mirga-Tas sammelt sie und integriert sie in ihre künstlerische Arbeit. So entsteht fast eine Form von Reportage-Kunst: Man sieht eine Gruppe Frauen Karten spielen, einige Jungen schälen
Kartoffeln, eine alte Romni raucht eine Zigarette im Bett. Überall gibt es Hunde, Katzen und Hühner, untrennbare Begleiter ihrer mobilen Lebenswelt.
Schon als Teenagerin begann Mirga-Tas mit dem Nähen und schuf 2016 ihre erste genähte Kunstinstallation. Der Durchbruch kam auf der 59. Biennale in Venedig im Jahr 2022, als sie als erste Romni überhaupt ein Land an der Biennale vertrat. Inspiriert wurde sie für ihr monumentales Werk «Re-enchanting the World», das im polnischen Pavillon zu sehen war, von den Renaissance-Fresken im Palazzo Schifanoia im italienischen Ferrara. Die in zwölf Monate unterteilten Textiltafeln schildern die Migration der Rom*nja nach Europa, präsentieren prominente Romnja, aber auch Szenen aus dem Heimatdorf der Künstlerin und dessen Veränderung im Laufe der Jahreszeiten. Alle Figuren leben oder lebten in Czarna Góra, bevor Abbilder von ihnen in die Museumssäle kamen.
Perspektive vom Strassenrand
Mirga-Tas vernäht Vergangenheit und Gegenwart miteinander und damit die Community mit dem Rest Europas, das irrtümlicherweise glaubt, die Rom*nja sowie andernorts Sinti*zze oder in der Schweiz Jenische seien ein kultureller Fremdkörper. Vielmehr sind sie ein organischer Teil der europäischen Identität:


1 Grosse Stoffe in Arbeit: Das Zusammennähen der Kunstwerke ist Gemeinschaftsarbeit.
2 Jedes Textil hat seine Geschichte. Als Wandteppich erzählen sie gemeinsam etwas Neues.
3 Małgorzata Mirga-Tas schafft persönliche und doch politische Bilder der Rom*nja in Südpolen.
Das macht die Künstlerin in ihrer Arbeit deutlich, in der sie oft mit Werken anderer Autor*innen spielt. «Es ist erstaunlich, wie viele Werke der europäischen Kunst auch Roma-Figuren zeigen», sagt sie. «Aber immer nur am Rande, immer im Hintergrund.» Während sie bei anderen oft lediglich die farbenfrohe Kulisse für Nicht-Rom*nja-Charaktere darstellen, vertauscht Mirga-Tas die Rollen. Sie holt die Rom*nja aus dem Schatten und gibt ihnen damit ihre Handlungsfähigkeit zurück.
Nun präsentieren sich die Rom*nja selbst, ohne Exotisierung und Überhöhung, ohne Klischees und Vorurteile. Und ohne Stereotype. Sie sitzen bequem, eingebettet in einem weichen Patchwork-Hintergrund, und schauen den Betrachtenden direkt in die Augen. Mirga-Tas befreit sie vom Antiziganismus, vom Rassismus gegen Rom*nja, Sinti*zze und Jenische (sowie andere sich zugehörig fühlende Gruppen), den sie auch selbst erlebt hat. «Als Roma-Kind muss man sich doppelt anstrengen, um seinen Wert zu beweisen.»
«Re-enchanting the World» ist nun auch in Luzern zu sehen. Der Titel ist dem Standardwerk der italienisch-amerikanischen Feministin Silvia Federici entlehnt, die dazu aufruft, die Geschichte aus der Perspektive vom Strassenrand, der Fensterbank, der Küche neu zu schreiben, all jener Aktivitäten, die das soziale Gefüge bilden, unser Gemeingut. Mirga-Tas arbeitet nicht allein – ihre Verwandten und Nachbar*innen helfen, ihre Werke zusammenzunähen. Kunst als kollektive Handlung. Auch die feministischen «Herstories», eine Porträtserie für das Festival Autostrada Biennale 2019 in Prizren im Kosovo, die ebenfalls im Kunstmuseum Luzern ausgestellt ist, nähte Mirga-Tas zusammen mit Rom*nja aus dem Kosovo. Aus grossen Textilcollagen blicken – wie von Bannern – Künstlerinnen, Sängerinnen und ganz normale Frauen, nicht nur aus Czarna Góra, sondern vom gesamten Balkan.
Rom*nja und Sinti*zze als Holocaust-Opfer Mirga-Tas ist auch Erinnerungsaktivistin. Sie schuf eines der ersten Denkmäler in Europa zum Gedenken an den Porajmos, wie der von den Nationalsozialist*innen verübte Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja in der Romani-Sprache auch genannt wird. Die Installation wurde 2011 in einem Wald in der Nähe von Borzęcin in Polen enthüllt und ist älter als das entsprechende Berliner Denkmal. Rund eine halbe Million Rom*nja und Sinti*zze starben in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des «Dritten Reichs». Das Kunstmuseum Luzern zeigt nun u.a. einen Film über Alfreda Noncia Markowska, eine Holocaust-Überlebende. Mithilfe animierter Textilcollagen von Mirga-Tas erzählt der Film die Geschichte der Romnja-Teenagerin, die etwa 60 Kinder – Rom*nja und Jüd*innen – vor der Vernichtung rettete. «Frauen sind der Motor der Roma-Gemeinschaften, egal wie patriarchalisch die Welt ist», sagt die Künstlerin. Die Frauen, die sie porträtiert, strahlen Stärke aus. Sie spielen in ihrer Kunst die Hauptrolle, auch wenn sie in ihrem Leben Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren haben. «Die zeitgenössische Roma-Kunst ist eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Emanzipationsbewegung», so Mirga-Tas. Ihre Stärke liege in der Transnationalität, im Denken über Grenzen hinweg. In den Patchworks treffen sich Rom*nja-Aktivistinnen aus aller Welt mit Rom*nja aus Czarna Góra und Nachbardörfern der Region Spisz.
Allerdings wurde der Jahreslauf von «Re-enchanting the World» unterdessen kürzer: Einen der zwölf Monate, aus denen das Werk besteht, erwarb das Kunsthaus Zürich. Einige andere wurden ebenfalls verkauft. Nicht alle aber können erworben werden. Eines hat die Künstlerin behalten, nämlich den Monat Oktober: ein sehr persönliches Bild, das die Beerdigung ihrer Tante zeigt. Die Kunst von Mirga-Tas ist international und persönlich zugleich. Das Private ist politisch. Und umgekehrt.
«Małgorzata Mirga-Tas – Eine alternative Geschichte», bis So, 15. Juni, Kunstmuseum Luzern. kunstmuseumluzern.ch
Veranstaltungen
Bern «Konsequenzen», Ausstellung, bis 6. Juni, Di bis So, 14 bis 19 Uhr, Werkhof Egelsee, Muristrasse 21E. vereinamsee.ch

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert an. Viktor Holikov, geboren 1985, für seine Berner Freunde kurz «Vitja», ist als ukrainischer Soldat an der Front. Eigentlich ist er aber Fotograf. Kulturschaffende in Bern stellen nun eine Auswahl seiner neuesten Bilder aus. Ob Berner Stadtansichten oder ukrainische Landschaften, Holikovs Bilder sind geprägt von technischer Präzision und einem feinen Gespür für Komposition. Nun hat der Krieg auch auf seinen Bildern seine Spuren hinterlassen. Seine Aufnahmen treffen in der Ausstellung auf die aktuelle Lebensrealität hierzulande, wie sie die Berner Künstlerin Nicole Michel zeigt. Aus einer Fülle von Medienbildern zum aktuellen Weltgeschehen schafft sie vielschichtige Collagen und Malereien. 2018 ist Michel mit dem Frauenkunstpreis ausgezeichnet worden. Finissage der Ausstellung ist am 6. Juni mit Konzert von Trummer um 19 Uhr. DIF
Baden
«Till Velten. Pulver», Ausstellung, bis So, 20. Juli, Mi bis Fr, 15 bis 18 Uhr, Sa/ So, 12 bis 17 Uhr, Kunstraum Baden, Bruggerstrasse 37. kunstraum.baden.ch

Till Velten (*1961 in Wuppertal, lebt und arbeitet in Zürich und Berlin) nutzt das Gespräch als zentrales Element seiner Kunst. Er spannt ein Geflecht von Themenfeldern auf und bringt überraschende Zusammenhänge ans Licht. Seine komplexen (Raum-)Installationen werden zur Bühne für weitere Gespräche und machen die vielfältigen gesammelten Erfahrungen hör- und sichtbar. Im Projekt «Pulver» für den Kunstraum Baden
auch, speziell wenn es auf den Kulturjournalismus gemünzt ist, der zunehmend ausgedünnt wird. So hat der Tagesanzeiger unlängst seinen Züritipp auf eine magere Seite zurechtgestutzt. Da sind wir bei Surprise doch stolz, dass wir an der Kulturberichterstattung festhalten, weil unsere Welt eine andere wäre, wenn künstlerische Zugänge im öffentlichen Leben keine Rolle mehr spielten. Verloren ginge eine Methode, Dinge zu betrachten, sich an sie heranzutasten, sie dabei vielleicht gar nicht so genau zu verstehen, mehr Fragen als Antworten zu haben, sich seiner Sinne zu bedienen und sich dabei auch der Logik von richtig und falsch zu entziehen. Offenbar generiert all das wenig Klicks – aber das sollte kein Grund sein, den Kulturjournalismus zusammenzuschmürzelen. Soweit schon mal unser eigener Beitrag im Voraus zur Diskussion in Chur. Vor Ort werden Joachim Braun, Chefredakteur der Südostschweiz, Daniele Muscionico, Kulturjournalistin sowie Mathias Balzer, Kulturjournalist und Mitbegründer des FRIDA-Magazins, miteinander reden. Autor und Regisseur Julian M. Grünthal moderiert. DIF

bar geworden und ihre Herkunft und Glaubwürdigkeit ist oft ungewiss. Eine Ausstellung, die sagt, was ist: mit Selbsterfahrungselementen in Sachen Journalismus, informativ und lehrreich auch für Schüler*innen. DIF
Basel
geht Velten von der «Visionärin» Emma Kunz aus (Telepathie, Prophetie, Pendel und solche Sachen, gelebt hat sie von 1892 bis 1963) und bringt sie in einen Dialog mit der «visionären» Geschichte des Badener Unternehmens Merker (Waschmaschinen, Wäschetrockner und Geschirrspüler, gegründet 1873, der heutige Kunstraum Baden liegt auf dem einstigen Produktionsareal). Dabei fragt Till Velten auch: Ist es möglich, eine künstlerische Vision in ein Unternehmertum zu transformieren? (Die Ausstellungen im Kunstraum Baden sind jedenfalls nach wie vor gratis. Aber so ist die Frage wahrscheinlich nicht gemeint.) DIF
Chur
«Schreiben wir darüber», Podium zur Kulturberichterstattung, Postremise, Mi, 4. Juni, 18 Uhr, Engadinstrasse 43, Eintritt frei. postremise.ch
«Nicht nur was rentiert, ist vernünftig!», ist auf dem Bild zur Veranstaltung zu lesen. Das finden wir
Zürich, Schweiz «Auf der Suche nach der Wahrheit», Ausstellung, bis So, 6. Juli, Mi und So, 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa, 12 bis 21 Uhr, Photobastei, Sihlquai 125. Weitere Stationen folgen: Derendingen, Basel, Zug, Genf, Kreuzlingen. suchewahrheit.ch
Die öffentliche Diskussion wird ermöglicht, vermittelt, moderiert und befeuert durch den Journalismus – er ist unverzichtbar für eine funktionierende Demokratie. Unabhängig geprüfte Fakten, Medienfreiheit und damit Meinungsvielfalt sind die Voraussetzung für politische und gesellschaftliche Debatten und die Entscheidungsfindung der Bürger*innen auch in politischen Fragen. Zudem brauchen wir Informationen, um unser eigenes Leben zu organisieren und uns in der Gesellschaft zu orientieren. Traditionellerweise werden Informationen von Medien vermittelt, deren Glaubwürdigkeit eingeschätzt werden kann. Mit Internet und Social Media hat sich das Gefüge verschoben, die verfügbaren Informationen sind unüberschau-
«Einblick Basel – zu Besuch in sozialen Institutionen», Tag der offenen Tür, Fr, 13. Juni, 14 bis 20 Uhr, verschiedene Standorte Basel. einblickbasel.ch
Entdecken Sie 75 soziale Institutionen, verteilt in der ganzen Stadt. Sie alle öffnen einen Tag lang ihre Türen, laden zum Gespräch ein und geben mit Führungen und Mitmach-Workshops Einblick in ihre Arbeit. Menschen, die hier täglich ein und aus gehen, berichten aus ihrem Leben und von «ihren» Orten, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, sie erzählen von Hürden und Marginalisierung im Alltag. Das vielfältige Programm rückt Themen wie Armut, Migration oder Sucht in den Fokus – aus verschiedenen Perspektiven. Alle Angebote sind kostenlos und funktionieren ohne Voranmeldung. Auch Surprise ist dabei: Erfahren Sie an unserer Lesebar mehr über das Strassenmagazin und blättern Sie durch vergangene Ausgaben. Lassen Sie sich vom Strassenchor mit Sänger*innen aus elf verschiedenen Ländern verzaubern. Seien Sie dabei, wenn der Surprise Talk aufgezeichnet wird, und erleben Sie in einer Ausstellung, wie sich Surprise gegen die soziale Ausgrenzung von armutsbetroffenen Menschen engagiert. FUX

Tour de Suisse
Pörtner in Basel, Eglisee
Surprise-Standorte: Migros
Einwohner*innen: 176 329
Sozialhilfequote in Prozent: 6,1
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 39,5
Gartenbad: Das im Kleinbasel gelegene Eglisee verfügt über das einzige Frauenbad der Stadt.
Der Eglisee, so erklärt es das Strassenschild, ist nicht etwa nach dem darin lebenden Fisch benannt, sondern nach den Egeln, die sich in dem ehemaligen Waldtümpel tummelten. Als dieser 1911 zum Gartenbad umfunktioniert wurde, war es Zeit für ein Rebranding, werden doch Egel allgemein mit Ekel assoziiert. Inzwischen ist das Badeareal umzäunt und beherbergt neben dem Garten- auch noch ein Hallenbad sowie eine Kunsteisbahn. Durch den Zaun lässt sich eine grosszügige Grünanlage erspähen, an die Mauer eines Eckgebäudes ist das Wort «Klassenkampf» gesprayt. Möglicherweise damit in Zusammenhang stehen die neuen, bezugsbereit wirkenden Hochhäuser mit Badblick, die allenfalls einer höheren Preisklasse angehören als die bestehenden, denn Hochhäuser gibt es auf dieser Seite der Tramgeleise einige.
Bei der Tramstation wartet ein gedeckter Velounterstand, «Bike and Ride» genannt, auf Fahrradpendler*innen, während der grössere Veloständer, der über Extraparkplätze für Fahrzeuge mit Anhänger verfügt, zum Bad gehört, jedoch nicht «Bike and Swim» genannt wird. Auf den für Velos reservierten Plätzen der Migros steht ein Auto, dafür stehen die Fahrräder direkt vor dem Geschäft.
Ein hölzernes Wartehäuschen wird nur von Jugendlichen zur Zwischenverpflegung genutzt. Möglicherweise kommen sie vom nahegelegenen Skatespot der Jugendarbeit Basel, wo zwischen mit Graffiti verzierten Baracken Rampen, Hindernisse und ein Basketballkorb zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich an ältere Semester gerichtet ist das Plakat, das vor «Romance Scams» warnt.
Von der Hinterseite des Bades aus gelangt man in den Landschaftspark Wiese und fühlt sich sogleich fern der Stadt, bis man vor der nächsten grossräumigen Umzäunung steht.
Etwas kompliziert ist die Verbotsbeschilderung, es herrscht sowohl Fahr- wie auch Hundeverbot, wobei ersteres nicht auf geteerten und zweiteres auch auf allen anderen Wegen nicht gilt. Seit über hundert Jahren gibt es das Wasserkraftwerk Riehenteich, vor dem sich das Wasser in einer Art Kanal staut. Der Beitrag dieser Anlage an den Gesamtenergieverbrauch der Stadt dürfte seit der Einweihung stetig gesunken sein.
Immer wieder trifft man auf Betonblöcke, die mit Dialektbegriffen versehen sind. Während «Lamaaschi» und «Glunggi» auch Auswärtigen verständlich sind, gibt «Gleezi» eher Rätsel auf.
Wer abstrakte Kunst geniessen will, kann das auf zwei Bänken tun, die Sicht auf eine Eisenplastik bieten, die von einer der grossen Pharmafirmen gespendet wurde. Dahinter befindet sich das Gebäude der Trinkwasseraufbereitung, das über eine eigene Bushaltestelle verfügt. So ist denn auch das nächste eingezäunte Gebiet mit «Grundwasseranreicherung, Zutritt verboten» ausgeschildert. Wie etwas weiter entfernt dargestellt, wird hier das Rheinwasser durch den Waldboden gefiltert.
Der Rückweg zum Eglisee führt über den Finkenweg. Fink, einheimischer Singvogel, präzisiert die Strassentafel. Damit soll allenfalls vermieden werden, dass fälschlich davon ausgegangen wird, dass der Weg in Finken zu begehen sei.

STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Peter Deubelbeiss AG, Brandschutzberatung
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
Automation Partner AG, Rheinau
SVIT Zürich
Stiftung Litar
Gemeinnützige Frauen Aarau
BODYALARM - time for a massage
Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich
Evangelisch-Lutherische Kirche Basel
Madlen Blösch, Geld & So, Basel
AnyWeb AG, Zürich movaplan GmbH, Baden Hagmann-Areal, Liegenschaftsverwaltung Maya Recordings, Oberstammheim
Neurofeedback-tzk.ch, Kirchberg SG TYDAC AG, Bern
CPLTS GmbH
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken
Holzpunkt AG, Wila InhouseControl AG, Ettingen
ZibSec Sicherheitsdienst, Zürich
Mach24.ch GmbH, Dättwil
Martina Brassel - Grafik Design, Zürich
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Praxis Carry Widmer, Wettingen
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?
Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.
Spendenkonto:
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt:
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SURPLUS – DAS
NOTWENDIGE EXTRA
Das Programm
Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?
Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende
Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
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Seynab Ali Isse, Pirmin Beeler, Marianne Fries, Farina Hiroshige, Elisa-Maria Jodl, Kira Kynd, Annika Lutzke, Anna Pirato, Daniel Rumiancew, Ursula Salzmann, Raquel Santos Do Ó, Laura Schoch, Emilia Sulek, Wolfgang Tonninger, Hendrik Zeitler
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#598: Verlorene Kindheiten
«Gesundheit und Entwicklung der Kinder gefährdet»
Menschen mit einem negativen Asylentscheid leben in der Schweiz am Rande der Gesellschaft. Frau Ransberger vom Migrationsdienst meint im Artikel: «Mir ist es wichtig, dass es den Kindern und Jugendlichen gut geht.» Ich habe regelmässig Kontakt mit Menschen aus dem Rückkehrzentrum Enggistein, dort leben 10 Familien mit insgesamt 35 Kindern und Jugendlichen. Ihnen geht es nicht gut. Sie haben jeden Tag Stress, weil sie ab und zu Zwangsausschaffungen am frühen Morgen miterleben, Freund*innen, die ausgeschafft werden. Freizeitaktivitäten sind nur bedingt möglich, weil das Geld fehlt. Natürlich ist es eine minime Verbesserung, dass Familien getrennt von alleinstehenden Männern in Zentren leben dürfen, aber das nimmt nicht den Alltagsstress, die Angst vor der Ausschaffung, die täglich erlebte Ausgrenzung. Frau Kobiashvili beschreibt eindrücklich ihre Situation, und in dieser lebt sie bereits seit 8 Jahren. Gefragt wurde sie, ob mal eine Freundin der Schule im Zentrum zu Besuch war. In Enggistein dürfen die Kinder und Jugendlichen ihren Besuch nur ins Besucher*innenzimmer einladen, die Grösse dieses Raumes ist ausgelegt auf 20 Personen, es leben 80 Personen im Zentrum. Viele Kinder schämen sich wegen ihrer Situation und laden nie eine Freundin oder einen Freund ein. Frau Rumpel erläutert eindrücklich, was es mit den Kindern macht, jahrelang in einem Rückkehrzentrum zu leben. Auch gibt es eine Studie vom MarieMeierhoferInstitut, die zum Schluss kommt, dass das Leben in der Nothilfe die Gesundheit und Entwicklung der Kinder gefährdet – für alle, die Kontakt haben mit Menschen in Rückkehrzentren, ist das kein überraschendes Resultat. Die Situation ist laut einem Rechtsgutachten der Universität Neuenburg mit der Bundesverfassung und der UNOKinderrechtskonvention nicht zu vereinbaren. Und was ändert sich? Leider im Moment nichts, und es sieht auch nicht nach grossen Veränderungen in der Zukunft aus. Auch diese Kinder und Jugendlichen sind vom Glück vergessen wie die Verdingkinder und administrativ Versorgten. Schauen wir hin und nicht weg.
EVELYNE BROGLE, Walkringen
«Beeindruckend»
Vielen Dank für das Magazin Surprise, ich bin seit Jahren Leserin und finde das Magazin und das, was dahintersteht, super! Gerade auch den Artikel in der neusten Ausgabe ‹Verlorene Kindheiten› finde ich ganz toll und beeindruckend. Ich bin seit Jahren Freiwillige im Asylbereich (Rückkehrzentrum Aarwangen) und kenne Ketevan Kobiashvili und ihre Familie persönlich. Herzliche Gratulation für diesen sehr wichtigen und gelungenen Artikel!
MONIKA WÄLTI, Aarwangen
In ei g ener Sache
Gute Vertretung
Weil Autorin Yvonne Kunz sich derzeit weiterbildet, berichtet vertretungsweise William Stern für uns aus dem Gerichtswesen. Seinen ersten Text finden Sie auf Seite 5 wie üblich. Herzlich willkommen, William!
DIE REDAKTION
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Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Ich möchte
ein Haus bauen»
Als wir uns gegenübersitzen, fällt mir sein langärmeliges T-Shirt auf, das aussieht wie ein Hemd mit Sakko und Fliege. Ja, von denen habe er einige, meint Vasile Aurelian. Er trägt sie, wenn er zu wichtigen Terminen geht. Wir müssen lachen. Das Eis ist schnell gebrochen, obwohl wir uns nicht direkt unterhalten können, sondern nur über die Dolmetscherin Alina, die mit uns am Tisch sitzt. Sie kommt wie Aurelian aus Rumänien und kennt ihn von der Caritas, wo sie arbeitet.
Während wir uns vorstellen und ich ein paar Eckdaten erfrage, gewöhnen wir uns an die Übersetzung. Name. Vorname. Wolfgang. Vasile. Wir schütteln uns noch einmal die Hand. Herkunftsland. Ort. Rumänien. Slănic. Wie es dort aussieht, in Slănic, möchte ich von Aurelian wissen. «Das Dorf ist wunderschön. Es gibt viel Wald und Berge», meint er mit einem breiten Lächeln hinter dem gepflegten Bart. «Und wie gross ist es?» «Nicht gross», Vasile zögert. «Ein Siebzig-FamilienDorf.» Auf Google Maps finde ich es als Kleinstadt in der Walachei am Südostrand der Karpaten. Einwohnerzahl: 4669. Ich rechne durch 70 und weiss jetzt auch, welche Dimension eine Familie hat, von der Vasile spricht. Knapp 67 Personen.
Seine Geschichte beginnt vor 47 Jahren. Seine Eltern waren sehr arme Leute. Bauern. Besenbinder. Waldarbeiter. Als sein Vater bei einem Unfall ein Bein verliert, muss er als ältestes von acht Kindern einspringen und die Familie ernähren. Und so wurde aus dem Kind über Nacht ein Holzfäller. Ende der Kindheit. Keine Zeit für Schule. Auf zwei Jahre kommt er, wenn er alles zusammenzählt. «Da lernst du nicht schreiben. Nur Nummern halt.» Für den Rest hat er eine Handy-App, die ihn unterstützt.
Wenn Aurelian von Rumänien erzählt, hat er glasige Augen. Die Not hat ihn von dort weggetrieben. Zuerst nach Schweden, dann 2021 nach Österreich, weil es nicht so weit weg von zuhause ist. Zuhause? Er zeigt mir ein Bild auf dem Handy. Ein schiefes Lehmhaus mit zwei Zimmern unter einem Rest von Dach, das wie auf die Mauern geworfen wirkt. Dort, erzählt mir Aurelian, leben seine Mutter und seine zwei Töchter – mit fünf Enkelkindern – und warten auf das Geld, das er und seine Frau in Salzburg Tag für Tag zusammenkratzen.
Er zeigt mir sein Wochenticket für die Fahrt nach Bischofshofen zu seinem Standplatz als Apropos-Verkäufer – es kostet 47 Euro –, und ich frage ihn, wie sich das rechnet, zumal ja auch in Salzburg die Not seine Begleiterin ist. «Irgendwie geht es immer», meint Aurelian beinahe beschwichtigend, «auch wenn ich beim Aufstehen nicht sagen kann, wie der Tag wird.» Und dann seien da ja auch noch die netten Menschen bei der Caritas, wo er und seine Frau schlafen, essen und sich waschen können. Dort hat er von Apropos gehört. Dass er jetzt einen Ausweis als Zeitungsverkäufer hat, macht alles leichter – auch

Vasile Aurelian, 47, verkauft das Salzburger Strassenmagazin Apropos und spart auf das Baumaterial für ein kleines Haus in Rumänien.
wenn er heute noch keinen Cent verdient hat. Er lacht. Vielleicht auch darüber, dass er das Wort «leicht» gebraucht hat und dabei nicht über seinen Blutdruck spricht, der viel zu hoch ist. Oder über seine kaputten Bandscheiben. Und auch nicht über sein Loch im Trommelfell, das vieles verschluckt, was er gerne hören würde.
Ich frage Aurelian, was er unternimmt, wenn er keine Zeitungen verkauft. Am liebsten sei er im Mirabellpark, antwortet er. Die Wiese dort unter den ausladenden Bäumen, die liebt er. Das bunte Treiben. Die vielen unterschiedlichen Menschen, die vorbeigehen. Er beobachtet gern. Und manchmal kocht er sich auch etwas, wie neulich frische Brennnesseln. «Im Mirabellpark?» «Nein, dazu geh ich auf einen Platz hinter dem Bahnhof.»
Und seine Pläne? «Ich habe viele!» Aurelian gestikuliert, als reichten ihm die Finger an den Händen nicht. «Nein. Eigentlich habe ich nur einen Plan. Ich möchte ein kleines Haus bauen auf meinem Land. Eisen und Beton liegen in Rumänien schon bereit. Jetzt fehlen noch die Ziegel. Dann kann es losgehen. Und wenn das Haus fertig ist, dann wird auch meine Zeit in Salzburg zu Ende sein.» Auch wenn es schön hier ist und sauber und die Menschen freundlich sind.
Aurelian lächelt. «Ich bin wie ein Baum, der nach aussen hin blühen und die Welt erfreuen will. Auch wenn im Inneren die Sorgen gross sind.»
Aufgezeichnet von WOLFGANG TONNINGER
Mit freundlicher Genehmigung von APROPOS / SALZBURG / INSP.NGO

Café Surprise – eine Tasse Solidarität
Zwei bezahlen, eine spendieren
Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.












































































