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Milena Moser
Warum Robin Hood Grün trug
TEXT MILENA MOSER
Der Regen prasselte aufs Autodach. Romy schloss die Augen. Sie hatte keine Lust auszusteigen. Keine Lust auf die Sprüche der Kollegen. «Flitterwochen zuhause, was?» Das hatte sie nun davon, dass sie einen so viel jüngeren Mann geheiratet hatte. Einen Ausländer auch noch!
Der Gedanke an Chidi, der bereits seit drei Stunden wieder bei der Arbeit war, mit tadellos sitzender Uniform und nach Rasierwasser duftend, gab ihr die Kraft, das Radio auszuschalten und auszusteigen. Sie nahm die Schachtel mit dem Süssgebäck vom Rücksitz und zog sich den Mantelkragen über den Kopf. Bis sie den Eingang erreicht hatte, war sie klatschnass und die Schachtel bog sich bedenklich.
Drinnen wurde sie mit Pfiffen und Johlen begrüsst. Sie stellte die Schachtel mit dem Gebäck im Pausenzimmer ab, zog den Mantel aus und deutete eine Verbeugung an.
«Sind das Schoggigipfel?», fragte Toni scheinheilig und öffnete die Schachtel. «Oder darf ich das jetzt auch nicht mehr sagen?»
«Ach was, Romy hat Humor! Nicht, Romy?» Karin, die einzige Frau im Team, konnte mit Tonis Sprüchen leicht mithalten. Nur Martin hatte den Anstand, die Augen zu verdrehen.
«Hab ich was verpasst?», lenkte Romy ab. «Wie viele entlaufene Katzen habt ihr eingefangen, während ich weg war?»
«Ha, das weisst du ja gar nicht: Wir hatten einen Banküberfall», sagte Toni mit vollem Mund. Einen Moment lang starrte sie auf seinen offenen Mund, das halbzerkaute Gebäck darin, dann wandte sie sich ab.
«Das glaubst du nicht, gell. Das einzige Mal, dass hier wirklich was passiert, und du bist nicht da!»
«In unserer kleinen Filiale hier», sagte Karin. «Wo gibt’s denn sowas!»
«Eben, in unserer kleinen Filiale hier», murmelte Martin, und Romy verkniff sich ein Grinsen.
«Keine Gewaltanwendung, keine grosse Beute, unter zehntausend Franken», fuhr er fort. «Und keine brauch bare Beschreibung der Täter.»
Romy runzelte die Stirn. «Moment», sagte sie. Gedankenverloren zupfte sie eine Zimtschnecke auseinander. «Kam das eben im Radio? Das hab ich doch in den Lokalnachrichten gehört.»
«Nein, das kann nicht sein, wir haben noch keine Mitteilung gemacht.»
«Aber …»
Das Telefon klingelte, der Arbeitstag begann, und sie vergass die ganze Sache wieder. Erst am Nachmittag, als sie eine Kaffeepause einlegen wollte und sich fragte, ob wohl noch ein Mandelgipfel übrig wäre, fiel es ihr wieder ein. Sie loggte sich ins System ein und las die Zeugenaussagen durch, die Karin zu Protokoll genommen hatte.
Doch das Einzige, was die nicht besonders traumati siert wirkende Bankkauffrau mit Sicherheit sagen konnte, war, dass der Täter – oder die Täterin – schon älter sein musste. «Kurze graue Haare, oder vielleicht auch halblang. Schwer zu sagen.» Freundlich sei er – oder sie – gewesen, habe sich erkundigt, wie ihr Tag verlaufe und wie es ihren Kindern gehe.
«Also kannten Sie ihn?»
«Oder sie … Nein … ich weiss nicht …»
Die unscharfen Aufnahmen der Überwachungskamera gaben auch keinen Aufschluss, allenfalls konnte man feststellen, dass die Körperhaltung der Person, die sich im Schalter ihren Rucksack mit Geldscheinen füllen liess, nichts Bedrohliches an sich hatte.
Romy scrollte durch die Pressemitteilungen der letz ten Wochen und fand schnell den Vorfall, der heute Morgen im Radio erwähnt worden war. Neugierig geworden, ging sie weiter zurück und durchsuchte dann auch die Mitteilungen der umliegenden Kantone. In den letzten drei Monaten waren siebzehn fast identische Überfälle durchgeführt worden. Immer in kleinen Filialen und ohne Gewaltanwendung, und immer handelte es sich nur um kleinere Beträge von unter zehntausend Franken. Es gab nicht eine einzige brauchbare Beschreibung des Täters oder der Täterin, es war nicht einmal klar, ob es sich um eine oder mehrere Personen handelte.
Freundlich waren sie gewesen. Darin waren sich alle Betroffenen einig. Jede einzelne dieser Ermittlungen war im Sand verlaufen. Hatte wirklich niemand das Muster erkannt, das Romy nach fünf Minuten schon aufgefallen war? Und sie war noch nicht mal Polizistin!
Sie druckte die Suchergebnisse aus und zeichnete die relevanten Stellen mit Leuchtstift gelb an. Dann steckte sie die Blätter ordentlich in eine blaue Mappe. Martin war nicht an seinem Pult. Als sie am Pausenzimmer vorbeiging, hörte sie seine Stimme: «Ein Schweizer war ihr wohl nicht gut genug», und dann Karins wieherndes Lachen.
Sie steckte die Mappe in ihre Handtasche und nahm das Handy heraus, das sie während der Arbeitszeit pflichtbewusst stumm schaltete.
Wann kommst du nach Hause, Prinzessin?
«Jetzt.»
Ein halbes Jahr früher
Sie hatte es mit Atmen versucht. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden den Atem anhalten, acht Sekun
den ausatmen. Sie hatte es mit ihrem Mantra versucht. Es hatte keinen Sinn. «Okay, stopp!», rief sie, lauter als beabsichtigt. «Ich kann’s nicht mehr hören! Immer dieselbe Platte: Niemand beachtet mich. Niemand begehrt mich. Sniff, sniff, sniff!»
Einen Moment lang war es still. Dann redeten plötzlich alle durcheinander. Zufrieden lehnte Lilly sich zurück. Diese Gruppe war mit Abstand die anstrengendste, die sie je besucht hatte. Aber das gehörte nun einmal zu ihren Bewährungsauflagen.
«Lilly! Das war nicht gerade konstruktiv!» Mara, die Gruppenleiterin, versuchte, die Gesprächsführung wieder an sich zu nehmen.
«Ist doch wahr!»
Olivia begann zu weinen. «Das verstehst du nicht», schniefte sie. «Früher wurde es still, wenn ich einen Raum betrat. Ich konnte die Blicke spüren wie eine Liebkosung. Heute – könnte ich ebenso gut unsichtbar sein.»
«Ja und?» Lilly verstand das nicht. Sie hatte sich immer bemüht, nicht aufzufallen, kein Aufsehen zu erregen, ungesehen davonzukommen. Davon hing in ihrem Beruf alles ab. Es war ihr Mundwerk, das sie immer wieder in Schwierigkeiten brauchte. Ihr aufbrausendes Temperament. «Was ist daran so schlimm? Ich sag euch mal was: Unsichtbar zu sein, hat seine Vorteile. Wer unsichtbar ist, kommt mit allem durch. Unsichtbar zu sein ist eine Superkraft!» Während die Gruppe das noch verdaute, wachte Mara
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Written & Directed by CARMEN STADLER KATHRIN VEITH DURAID ABBAS GHAIEB JEANNE DEVOS DANIEL KASZTURA VILMAR BIERI THIS MAAG



wieder auf. «Das ist ein interessanter Gedanke.» Sie stand auf und ging zur Tafel. «Überlegt doch mal: Was würdet ihr tun, wenn euch wirklich niemand sehen könnte? Wenn ihr unsichtbar wärt?»
«Tanzen», murmelte Sibylle.
«Ungeschminkt das Haus verlassen», Olivia.
«Die Pfingstrosen meiner Nachbarin klauen.»
Pflichtbewusst schrieb Mara alles auf. Diese Liste al lein wäre Grund genug, um aus dem Fenster zu springen, dachte Lilly.
«Mit dem Busfahrer ausgehen, der mich neulich an gesprochen hat.» Das war Romy, von der Lilly sich wohlweislich fernhielt, da sie als Sekretärin bei der Regionalpolizei arbeitete. «Mein Auto ist schon lang aus dem Service, aber ich nehm immer noch den Bus, nur seinetwegen …»
Na prima, dachte Lilly. Männer! Noch so ein Thema …
Doch dann sagte Rosa zögernd: «Eine Bank ausrauben?» Ausgerechnet Rosa, die immer so zurückhaltend war. Wenn sie sich zu Wort meldete, erzählte sie nur von ihren zahlreichen Kindern und Enkeln und musste von Mara ermahnt werden, «bei sich zu bleiben».
«Eine Bank ausrauben?», fragte Lilly nach. «Warum denn das? Brauchst du Geld?»
Rosa schaute sie herausfordernd an. «Wer braucht schon kein Geld? Aber ich dachte grad an Helen, die unter mir wohnt. Ihr Sohn hat eine – ich weiss nicht, wie man das heute nennt, eine Lernstörung? Jedenfalls braucht er spezielle Unterstützung, aber das kostet so viel, und manchmal höre ich sie nachts weinen. Und dann ist da der junge Mann, der im Lebensmittelladen an der Ecke arbeitet … Ganz zu schweigen von Simone, die seit Jahren in eine Kampfscheidung verwickelt ist …» Beinahe trotzig schaute sie Lilly an. «Geld löst nicht alle Probleme, aber manche eben schon.»
Sibylle, die neben Rosa sass, drückte ihre Hand. Andere nickten nachdenklich. Lilly konnte beinahe sehen, wie sie eine imaginäre Beute verteilten. Jetzt wird’s spannend, dachte sie. Doch dann war die Stunde zu Ende. Und bis Mara ihre Bestätigung abgestempelt hatte, waren die anderen verschwunden. Doch auf dem Parkplatz holte sie Rosa ein.
«Hey, warte!» Rosa blieb stehen und schaute sie erwartungsvoll an. Und Lilly fehlten für einmal die richtigen Worte. Das passierte ihr sonst nie.
Magst du noch ein Glas Wein mit mir trinken?
Können wir reden?
Hast du das ernst gemeint?
Willst du wirklich eine Bank ausrauben?
Rosa kam ihr zuvor. «Weisst du, warum Robin Hood nur Grün trug?» Ohne Lillys Antwort abzuwarten, hängte sie sich bei ihr ein.
MILENA MOSER hat über zwanzig Bücher, zahlreiche Essays, Kolumnen und Hörspiele verfasst. Sie stand mit dem Zwei-FrauenStück «Die Unvollendeten» auf der Bühne und gibt Workshops in kreativem Schreiben. Die gebürtige Zürcherin lebt in San Francisco.
