8000 Männer wurden im Juli 1995 von bosnischserbischen Soldaten ermordet. Wie der Genozid von Srebrenica mit der aktuellen Weltlage verbunden ist.
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«Meine
Tour ist ein Auflehnen gegen das Wegsehen»
Seit Lilian Senn Soziale Stadtführerin in Basel ist, schämt sie sich nicht mehr für ihre Armut und kann ihre jahrelange Obdachlosigkeit akzeptieren.
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Flüchtiges und Tiefgründiges
Ein langer Tisch unter knorrigen Bäumen, die Füsse im Gras, in der Luft die Sommerwärme. Ein Essen mit Freund*innen. Mal ist das Gespräch wild, die Worte – ernst und wichtig – von einem Tischende ans andere gerufen. Irgendwann lockere Sprüche, schnell und chaotisch hin und her. Dann wieder wird es leiser. Später werden aus dem einen ganz viele Gespräche. Schweres neben Leichtem, Heiterkeit neben Ernst, Tiefgründiges und Flüchtiges, Kleines und Grosses, die Gleichzeitigkeit des Lebens.
Ähnlich wie bei einem guten Essen mit Freund*innen, wo alles Platz hat, vielleicht nacheinander, vielleicht sogar im selben Moment, und das gerade deswegen so schön, so bedeutend wird, ist es mit dieser Ausgabe. Klaus Petrus nimmt das Massaker von Srebrenica, das sich im Juli zum 30. Mal jährt, zum Anlass, um über Entmenschlichung und Gleichgültigkeit,
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! IV-Rente: Zweite Chance
5 Vor Gericht Kein Selbstbedienungsladen
6 Verkäufer*innenkolumne Im Quartier
7 Moumouni antwortet Was soll man feiern?
8 Kriegsverbrechen Srebrenica –30 Jahre später
14 Orte der Begegnung Im Zug
16 Lebensqualität Der Alltag auf IkarÍa
aber auch über Gerechtigkeit und Menschlichkeit nachzudenken. Lesen Sie den Essay ab Seite 8.
Wir nehmen Sie mit nach Griechenland, auf die ägäische Insel Ikaría. Dort wirtschaftet zum Beispiel der Olivenbauer Lefteris Trikiriotis, dessen Vorfahren seit Jahrhunderten dort leben. Er, erst mit 24 Jahren von Athen hergezogen, lebt in einem einfachen Steinhaus und ernährt sich von viel selber angebautem Gemüse und Obst. Die Reportage des schwedischen Strassenmagazins Faktum ab Seite 16.
Und dann hat Klaus Petrus im Zug mitbekommen, wie zwei Männer ins Gespräch kamen, die sich vorher nie gesehen hatten und die sich dann einen kleinen Teil ihres Inneren gezeigt haben. Unseren neusten «Ort der Begegnung» ab Seite 14.
22 Kunst Wenn der Ritter küsst statt tötet
23 Kultur «Himmelszelt» über dem Margarethenpark
24 Kino Fehler im System
25 Buch Katastrophe und Normalität
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner in Hombrechtikon
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Straftaten gegen Obdachlose
Die Zahl der in Deutschland registrierten Straftaten gegen Obdachlose hat sich seit der ersten Erhebung 2011 bis heute mehr als verdreifacht – von 602 auf 2194. Das ergibt sich aus Statistiken des Bundeskriminalamts. Etwa drei Viertel der Straftaten sind Körperverletzungen, die sich meist gegen männliche Obdachlose richten. Bei mehr als 300 Straftaten geht es um Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Übergriffe. In diesen Fällen waren vorrangig obdachlose Frauen betroffen. Bei den Zahlen handelt es sich nur um die Fälle, die Opfer bei der Polizei angezeigt haben. Das tatsächliche Ausmass von Straftaten gegen Obdachlose dürfte deutlich grösser sein.
Dieser Wandteppich von Künstler Mart Veldhuis thematisiert die Schuldfrage von Schulden.
sind es heute.
Obdachlose erlebten im Jahr 2011 eine Straftat.
Kunst der anderen
Während seines Studiums an der Kunsthochschule Utrecht sorgte sich der niederländische Künstler Mart Veldhuis um seine Studienschulden. Würde er je in der Lage sein, diesen hohen Kredit zurückzuzahlen? Als Teil seines Abschlussprojekts schuf er einen grossen Wandteppich, seit langem ein Symbol für Macht und Reichtum. Veldhuis webte sein Werk mit Goldfäden und nannte es «Eigene Schuld». Auf beiden Seiten stehen Löwen mit Messern, die auf eine Figur gerichtet sind, sie stellen den verschuldeten Studenten dar. Löwen sind Teil des niederländischen Wappens, hier symbolisieren sie den Staat, der das geliehene Geld zurückzufordert. Veldhuis’ Arbeit erregte landesweit Aufmerksamkeit, er konnte den Teppich für den vollen Betrag seiner Studienschulden verkaufen: 46 000 Euro. Mit einem Partner startete der Künstler in der Folge das Projekt «Andermans Schulden» (Deutsch: «Die Schulden von jemand anderem»). Nach Interviews mit verschuldeten Menschen schufen sie fünf Stücke, die alle eine von finanzieller Not geprägte Lebensgeschichte erzählen. «Wir hoffen, das Tabu rund um Verschuldung zu brechen und die Frage aufzuwerfen: Sind Schulden deine Schuld?», so Veldhuis.
FAKTUM, GÖTEBORG, 5. MAI 2025
HINZ & KUNZT, HAMBURG, #387, MAI 2025
IV-Rente:
Zweite Chance
Sie sind die Grundlage für die Entscheidung, ob jemand mit körperlichen oder psychischen Leiden eine IVRente erhält: die medizinischen Gutachten. An diesen gibt es immer wieder Kritik – Versicherte würden gesundgeschrieben, die Invalidenversicherung erspare sich damit Rentenzahlungen. So hat etwa die Firma PMEDA ihre Aufträge wegen gravierender Mängel in ihren medizinischen Gutachten mittlerweile verloren. Neu sollen zweifelhafte IVEntscheide überprüft werden können. Dem hat der Ständerat – wie bereits vorher der Nationalrat – in der Sommersession zugestimmt.
Menschen, deren IVLeistungsanspruch ganz oder teilweise abgelehnt wurde, können bisher keine Neubeurteilung verlangen. Sogar dann nicht, wenn das Gutachten nachweislich mangelhaft war. Bis 2023 führte Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, eine entsprechende Meldestelle. Dabei hätten die Rückmeldungen von Versicherten sowie deren Rechtsvertreter*innen und Ärzt*innen deutlich gezeigt, dass die Qualität der IVGutachten «höchst problematisch» sei.
Versicherte sollen ein Revisionsgesuch stellen können, wenn sich ein IVEntscheid auf die Beurteilung einer Gutachterstelle oder von Ärzt*innen stützt, mit der die Zusammenarbeit eingestellt wurde. Die IVStelle muss dann den Anspruch auf IVLeistungen erneut prüfen und allenfalls rückwirkend Renten auszahlen. Mit der Annahme der Motion wird der Bundesrat damit beauftragt, die Rechtsgrundlage dafür zu schaffen. LEA
Vor Gericht
Kein Selbstbedienungsladen
«Ist einer von Ihnen zufällig Herr Kuzmani?», erkundigt sich der Richter wenig zuversichtlich bei den beiden Journalisten, die im Foyer des Bezirksgerichts Laufenburg sitzen und warten. Es ist Dienstagnachmittag, 13.35 Uhr, und die Verhandlung wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung hätte vor fünf Minuten beginnen sollen. Aber keine Spur vom Beschuldigten. Nachdem die «Respektviertelstunde» verstrichen ist, eröffnet der Richter die Verhandlung in Abwesenheit von Herrn Kuzmani (Name geändert).
Überraschen tue es ihn nicht, dass sein ehemaliger Angestellter nicht aufgetaucht sei, sagt Schreiner Steiger (Name ebenfalls geändert). Er nimmt als Privatkläger an der Verhandlung teil. Und falls stimmt, was in der Anklageschrift steht, täte der Beschuldigte auch in näherer Zukunft gut daran, einen grösseren Bogen um Schreiner Steiger und seinen Betrieb zu machen. Kuzmani, Ex Geschäftsführer der SchreinerBude aus dem Fricktal, habe sich, so der Vorwurf, mit der Firmendebitkarte Annehmlichkeiten geleistet, die vieles waren, aber sicherlich nicht betriebsrelevant: Eintritte in Kinos und den EuropaPark, Zigaretten. Und immer wieder: Benzin. Dabei verfügte die Schreinerei über gar kein Benzinauto. Insgesamt 23 000 Franken habe Kuzmani gemäss Staatsanwaltschaft für sich abgezweigt. Geld, das in der Kasse der Schreinerei fehlt. Auch deshalb kämpfe der Betrieb inzwischen ums Überleben.
besondere der Inhaber, Herr Steiger. Ohnehin sei in dieser Geschichte vieles verdreht worden, in Tat und Wahrheit sei er gleichberechtigter Eigentümer der Schreinerei gewesen und von Steiger aus dem Betrieb gedrängt worden, auch Lohn stehe ihm noch zu. Vom Richter dazu befragt, lacht Schreiner Steiger auf. Die Sache mit dem ausstehenden Lohn: eine «hirnrissige Behauptung». Dass sie gleichberechtigte Partner gewesen seien: «falsch!». Und dass er die Karte ebenfalls für persönliche Besorgungen verwendet habe: «Es ist mein Geschäft. Ich mache mit meinem Geschäft, was ich will.»
Der Rechtsvertreter von Schreiner Steiger sagt im Plädoyer, die Schreinerei sei für den Beschuldigten Kuzmani «wie ein Selbstbedienungsladen» gewesen. Kuzmani kann darauf nichts entgegnen. Weder sitzt er im Gerichtssaal noch hat er einen Verteidiger. Auch das Urteil hört er nicht persönlich. Erfreulich ist es für ihn nicht. Denn der Richter ist von den Aussagen der PrivatklägerSeite derart überzeugt, dass er Kuzmani nicht nur schuldig spricht, sondern noch über die Anträge der Staatsanwaltschaft hinausgeht. Kuzmani wird nicht nur zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen à 100 Franken und einer Busse von 4500 Franken verurteilt. Er erhält dazu auch noch eine Freiheitsstrafe von 8 Monaten unbedingt. Die Staatsanwaltschaft hatte bloss eine bedingte Freiheitsstrafe gefordert. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen. Geschäft: 25.3006, eingereicht von der Sozialkommission des Nationalrats.
In einer früheren Befragung hatte Kuzmani ausgesagt, die Nutzung der Firmenkarte für private Zwecke sei gang und gäbe gewesen, das hätten alle so gemacht, ins
WILLIAM STERN ist Gerichtsreporter aus Zürich.
Verkäufer*innenkolumne
Im Quartier
Mein Quartier, wo ich seit 2009 wohne, heisst auf Hochdeutsch «Veltheim», im Dialekt sagt man «Välte». Man kann es vielleicht verwechseln, weil es auch im Kanton Aargau und an der Weser Veltheime gibt. In Välte, Winterthur, hat es eine Villa neben der anderen. Was nicht heisst, dass ich selber Villenbesitzer bin. Ich wohne in einem Haus, das in zehn einzelne Wohnungen aufgesplittet worden ist.
Der untere Teil des Quartiers liegt nahe am Bahnhof Winterthur, für den oberen Teil gibt es die Trolleybuslinie 3. Välte ist das kleinste Quartier von Winterthur, hat aber zwei Vertretungen im Nationalrat (Nik Gugger, EVP, und Mattea Meyer, SP). Es ist einer der linksten Wahlkreise in der Nordostschweiz.
Anfang Sommer ist bei uns immer die «Dorfet», ein Quartierfest, dann muss ich unbedingt auf den Pedalos fahren. Wenn es im Sommer heiss ist, badet man im Brunnen an der Kreuzung Feldstrasse/Bachtelstrasse, dazu ist der auch da. Gleich visàvis ist die Cafeteria, wo man sich trifft. Die haben so schöne Menükarten, verpackt in Kinderbuchumschlägen. Die Bachtelstrasse ist ein bisschen die Einkaufsstrasse von Välte (auch wenn sie nicht gerade die Fifth Avenue in New York ist).
Walcheweiher, Brühlberg, Schützeweiher, Gretelberg, Juchpark, Delphinpark und Güetli sind gute Spazierziele in und um Välte. Auf dem Brühlberg hat es einen Aussichtsturm, von wo aus man ganz Välte sehen kann. Die Dorfkirche in der Nähe der Bachtelstrasse hat vier Glocken im Turm, und die grösste davon ist 2,5 Tonnen schwer. Ich gehe dort gerne in die Kirche, weil wir ein gutes Pfarrerteam haben. Välte hat auch eine Fussballmannschaft und ein Blasorchester. Der Hauptfriedhof von Winterthur ist auch in Välte. Ich hatte da ein paar Monate lang einen Arbeitseinsatz als Gärtner. Viermal im Jahr erscheint in Välte die Quartierzeitung «Gallispitz», die mich schon zweimal auf Themenideen brachte für meine SurpriseKolumnen.
Die Treppe in dem Haus, in dem ich wohne, ist inzwischen wahrscheinlich diejenige, die ich in meinem Leben am häufigsten rauf und runtergegangen bin – weil ich oft unterwegs bin.
MICHAEL PHILIPP HOFER, 44, verkauft Surprise am Neumarkt Oerlikon. Diesen Text schrieb er als Kolumne für Surprise, publizierte ihn aber in einer leicht anderen Version zuerst in der Veltheimer Quartierzeitung «Gallispitz».
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Moumouni antwortet
Was soll man feiern?
Wir sind hier so privilegiert, dass jeder, der jammert, sich fürs Mimimi geniert
Hier gibts ja keine Hindernisse, hier baut man Tunnel in den Berg Hopp Schwyz! – Wehe allem, das den Tunnelblick verdirbt
Die halbe Welt ein Abgrund und wir: leben auf der Alp
Hier glaubt man an Heidi, Klara und das Märchen von der Weid’ also: dass die Bergluft alles heilt Und trotzdem fragt der Steuerzahler, wer das alles zahlt?
Hier gibt es ganze Täler, nicht nur Schattenseiten
Drei von vier Vierteln sind Wähler, doch wer zittert wohl zu Abstimm-Zeiten?
Der raue Wind schluckt unsre Stimmen Und unberechenbare Stürme ham auch politisch ihr System
Menschen mit schwarzen Schafen im Sprachbild
Wer weiss, welcher Wolf uns morgen Nacht wieder wach hält.
Vor kurzem hingen am Bahnhof überall schrille Plakate, auf denen stand: «Jetzt erst recht, die Schweiz bleibt…» und dann, in einer Comicsprechblase: «WOW». Die Kampagne ruft dazu auf, gemeinsam zu sammeln, was alles toll ist an der Schweiz und «was im Alltag oft übersehen wird». Man kann eine Reise im Glacier Express gewinnen (anzutreten bevor noch mehr Gletscher schmelzen und die Berge weiter ins Tal rutschen). Im Kampagnentext steht: «Vieles, was heute selbstverständlich scheint, ist das Ergebnis von gemeinsamer Verantwortung, Engagement und Weitblick. Daran wollen wir erinnern.»
In der Schweiz herrscht Frieden, und das ist wertvoll zu bewahren. Sich in Krisenzeiten auf das Gute zu besinnen mag helfen und Mut spenden – die Kampagne jedoch wirkt auf mich wie Promo für den klassisch schweizerischen Tunnelblick, der Missstände allzu gern mit toxischer Positivität übertönt. Am 25. Mai ist schon wieder ein Schwarzer Mann nach der Festnahme durch die Polizei
in Lausanne gestorben. Michael Kenechukwu Ekemezie war 39 und hatte zwei kleine Kinder. Im Ausschaffungsgefängnis in Kloten – einer Struktur, die Menschen eine Strafe auferlegt für genau das, was die Schweiz ja selber ständig macht: vor der Welt fliehen – gab es in den letzten Wochen zwei Tote und zwei Suizidversuche. Häftlinge veröffentlichten einen verzweifelten Brief über die schlimmen Verhältnisse und die psychische Belastung.
Aber ja, zum x-ten Mal: Die Natur ist schön, die Äpfel sind fein und der Service public funktioniert astrein. (Wenn er nicht gerade mit Kürzungen, Privatisierungen und strategischer Herunterwirtschaftung beschäftigt ist.) Ich vertrete ja schon lange die These, dass es die Schweiz eigentlich gar nicht gibt und sie sich deswegen immer mit Zaubersprüchen heraufbeschwören muss, à la: «Augen feste zu, die Schweiz ist schön und gut! Hex hex!»
Die Welt brennt und bombt und blutet und stirbt vor sich hin, während die Schweiz, die sich für ihre humanitäre Tradition und ihre Rolle als Vermittlerin in Krisenzeiten rühmt, an ihrer berghaften Unbeweglichkeit festhält.
Die Schweiz sitzt immerzu am Fenster. Doppelglas, frisch geputzt, Nach aussen gibt’s ’nen Sichtschutz Das ist der Trick, den sie schon durch ihre ganze Geschichte nutzt Und dann tut sie wieder pflichtbewusst, hat vergessen oder nicht gewusst Wer Swissness eben richtig nutzt, nennt es neutral: nichts tun ohne Gesichtsverlust.
Ab und zu brennt es ja doch auch bei uns trotz Plakatkampagnen: In einer Ausschaffungsgefängnis-Zelle oder mal eine Abfalltonne, zum Beispiel auf Demos für Gaza.
FATIMA MOUMOUNI findet die Schweiz auch WOW, und schreibt bewusst im generischen Maskulinum.
Wenn das Mitgefühl erstirbt
Krie gsverbrechen Das Massaker von Srebrenica, bei dem 8000 Bosniaken von bosnisch-serbischen Soldaten ermordet wurden, jährt sich zum 30. Mal.
Warum die Frage, ob es sich um einen Genozid handelte oder nicht, alleine nicht reicht.
TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
BOSNIENHERZEGOWINA
In einer Fabrikhalle, in welche die Männer im Juli 1995 gesperrt wurden, erinnert ein Bild an einen der Getöteten.
Srebrenica
Den Opfern ihre Namen zurückgeben, wollen etwa die «Mütter von Srebrenica». Sie haben ihre Söhne und Männer beim Genozid verloren.
Vor dreissig Jahren – vom 11. bis zum 19. Juli 1995 – massakrierten bosnisch-serbische Einheiten unter der Führung von General Ratko Mladić in der Nähe der Stadt Srebrenica im Osten von Bosnien und Herzegowina über 8000 Bosniaken, alles muslimische Bosnier. Die Vereinten Nationen (UN) hatten das Gebiet im Zuge der Jugoslawienkriege, die 1991 begannen, zur Schutzzone erklärt, woraufhin 40 000 Bosniak*innen in Srebrenica Zuflucht suchten. Als die bosnisch-serbischen Truppen zu Tausenden aufmarschierten, sahen die 350 dort stationierten UN-Soldaten tatenlos zu. Viele der Verfolgten versuchten in bosnisch-muslimische Gebiete zu gelangen, andere flohen in die benachbarte Kleinstadt Potočari, darunter 25 000 Frauen, Kinder und ältere Menschen. Bereits am Abend des 11. Juli war von Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen und Mädchen durch bosnisch-serbische Soldaten die Rede, in den Tagen darauf wurden die männlichen Bosniaken von den Übrigen getrennt, in Fabrikhallen oder Schulhäuser gesperrt und später in Lastwagen an entlegene Orte gekarrt, wo bosnisch-serbische Soldaten sie fesselten, nebeneinander aufreihten und exekutierten. Die Erschossenen waren Männer und Jungen im Alter zwischen 13 und 78 Jahren, auch ein Baby war dabei.
Monate nach dem Völkermord von Srebrenica endete mit dem Dayton-Friedensabkommen ein Krieg auf dem Balkan, der 200 000 Menschen das Leben kostete und zwei Millionen in die Flucht trieb. Die Ursachen dieses Konflikts sind komplex, er hat ethnische, religiöse, nationalistische
sowie volkswirtschaftliche Wurzeln. Bis heute haben sich Opfer wie Täter auf «drei Wahrheiten» über die historischen Ereignisse geeinigt, auf eine bosniakische, eine kroatische sowie eine serbische. Entsprechend kontrovers sind die Einschätzungen der Kriegshandlungen, so auch des Massakers von Srebrenica, das als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gilt.
Die Absicht ist entscheidend Juristisch geht der Begriff «Genozid» (oder die deutsche Übersetzung Völkermord), der 1944 vom polnisch-jüdischen Friedensforscher Raphael Lemkin geprägt wurde, auf die UN-Völkermordkonvention von 1948 zurück, die nach dem Holocaust verabschiedet wurde. Gemäss Art. II der Konvention gehören dazu unter anderem die «Tötung von Mitgliedern einer Gruppe», die «Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern einer Gruppe» sowie die «vorsätzliche Auferlegung lebensfeindlicher Bedingungen für eine Gruppe». Damit ein Kriegsverbrechen als Völkermord gilt, reicht es jedoch nicht aus, dass eine oder mehrere dieser Bedingungen erfüllt sind. Ausschlaggebend ist die Absicht hinter den Taten. Es muss bewiesen werden, dass Kriegsverbrechen willentlich ausgeführt wurden oder werden, um «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören», wie es in der Konvention heisst. Das ist im Übrigen der Grund, wieso die Anzahl der Opfer nicht ausschlaggebend ist für einen Völkermord. Ein solcher kann bereits
vorliegen, wenn ein einziger Mensch ermordet wird – sofern es eine Absicht gibt, die Gruppe, der diese Person angehört, in Teilen oder als Ganzes zu vernichten.
Nur, wie kann eine solche Absicht nachgewiesen wiesen? Im Falle Srebrenicas waren es zum einen Äusserungen von Politiker*innen oder Militärs, die eine Auslöschung des bosniakischen Teils der bosnischen Bevölkerung befürworteten, und zum anderen die Systematik hinter dem Verbrechen, wie Vergewaltigung als Kriegswaffe oder die Exekution von Zivilist*innen. Obschon die Beweise dafür eindeutig waren, zog sich die Diskussion darüber, ob das Massaker von Srebrenica tatsächlich als Genozid einzustufen sei, über Jahre hin. So kam der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag erst 2007, also zwölf Jahre später, zu einem Entscheid – er bewertete das Massaker von Srebrenica als Völkermord –, und es dauerte weitere zehn Jahre, bis Ratko Mladić 2017 als Hauptverantwortlicher des Massakers zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Trotzdem ist der Genozid von Srebrenica weiterhin ein Politikum, er wird beispielsweise von serbischer Seite relativiert oder gar geleugnet. Es wird etwa argumentiert, dass nur männliche Personen getötet wurden und nicht alle bosniakischen Geflüchteten; zudem sei die Zahl der Ermordeten im Vergleich zum Holocaust (6 Millionen), zum Genozid in Armenien (1,5 Millionen) oder jenem in Ruanda (800 000) vergleichsweise niedrig. Zwar wird von serbischer Seite inzwischen eingeräumt, dass es sich bei Srebrenica um ein Fehlverhalten mit schwerwiegenden Konsequenzen für die
Zivilbevölkerung gehandelt habe oder, wie sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić noch 2015 ausdrückte, um ein «monströses Verbrechen». Von Völkermord aber ist nicht die Rede. Ihn zuzugeben hiesse eingestehen, an einem Gewaltakt allerschlimmsten Ausmasses beteiligt gewesen zu sein.
Tatsächlich gilt der Genozid als «Verbrechen aller Verbrechen», wie das Ruanda-Tribunal drei Jahre danach, 1998, den Völkermord bezeichnete. Was auch erklären mag, weshalb kaum ein anderer Vorwurf im Kontext von Kriegshandlungen derart heftige politische, aber auch emotionale Reaktionen hervorruft.
«Völlige Zerstörung»
Jüngstes Beispiel ist der Krieg in Gaza. So hat Südafrika Ende Dezember 2023 beim IGH eine Klage gegen Israel wegen Verdachts auf Genozid an den Palästinenser*innen im Gazastreifen eingereicht. Inzwischen gibt es zahlreiche GenozidFachleute, die diesen Vorwurf ebenfalls erheben, darunter jüdische Historiker wie Amos Goldberg, Raz Segal oder Omer Bartov. Sie nennen die Zahl der Opfer – laut UN wurden seit dem Massaker der Hamas an 1200 israelischen und ausländischen Personen im Oktober 2023 allein im Gazastreifen 52 000 Palästinenser*innen getötet, siebzig Prozent sind Frauen und Kinder –, die wiederholte und gezielte Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und Moscheen, das Lahmlegen der Strom- und Wasserversorgung oder das Aushungern der Zivilbevölkerung. So zuletzt zwischen dem 2. März und dem 20.
Mai, als die israelischen Behörden sämtliche Hilfslieferungen mit Nahrung in den Gazastreifen blockierten. Gemäss Internationalem Strafgerichtshof (IStGH), wie der IGH ebenfalls in Den Haag, schafft Israel damit «gezielt Lebensbedingungen, die auf die Zerstörung eines Teils der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen abzielen».
Was der IGH wie auch Fachleute als Genozid-Absicht deuten: Eine Reihe von politisch sowie militärisch Verantwortlichen befürwortet die Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung zumindest im Gazastreifen unverhohlen. Darunter sind Itamar Ben-Gvir – er wurde wegen Rassismus rechtskräftig verurteilt, ist aber immer noch Mitglied des israelischen Parlaments –, Staatspräsident Izchak Herzog, von dem die Losung «Wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen» stammt, Verteidigungsminister Israel Katz, der im März die «völlige Zerstörung» des Gazastreifens in Aussicht stellte, oder sein Vorgänger Yoav Galant, der die Palästinenser*innen wiederholt als «Tiere» bezeichnet hat und gegen den der IStGH im November 2024 – wie auch gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und mehrere Hamas-Führer – einen Haftbefehl erliess. Ob Israel tatsächlich wegen Genozids an den Palästinenser*innen verurteilt werden wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen; bestimmt würde es, wie auch im Falle von Srebrenica, Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis entsprechende Urteile gefällt werden.
Genozid ist über die Gerichtssäle hinaus längst zu einem politischen Kampfbe-
Erst wenn die Opfer auf systematische Weise entmenschlicht werden, werden Verbrechen von solchem Ausmass möglich.
Ob eine Regierung einen Völkermord anerkennt, kann von eigenen Interessen abhängen.
Geht es um Kriegsverbrechen, sagt der israelische Soziologe Moshe Zuckermann, könne es keine Hierarchie von Gräueltaten geben.
Gestern waren sie vielleicht noch die Nachbarn ihrer Opfer, heute sind sie Täter.
griff geworden. Was sich auch daran zeigt, dass die Anerkennung von Völkermorden durch Regierungen oft willkürlich anmutet oder eher den eigenen Interessen dient. So streitet die Türkei nach wie vor den Genozid von 1915 und 1916 an der armenischen Bevölkerung ab, für den sie verantwortlich ist, verlangt von der serbischen Regierung jedoch mit Vehemenz die Anerkennung des Massakers von Srebrenica als Völkermord. Auch Israel weigert sich bis heute, eine Resolution zum Genozid an den Armenier*innen zu unterzeichnen. Für den israelischen Soziologen Moshe Zuckermann geschieht dies in erster Linie aus der Sorge heraus, die Einzigartigkeit des Holocausts könne dadurch infrage gestellt werden; dabei könne es, geht es um Kriegsverbrechen, keine Hierarchie von Gräueltaten geben. Problematisch ist, dass der Genozid als «Goldstandard des Bösen» (Hannah Arendt) dazu führen kann, mit moralisch aufgeladenen Diskussionen von offenkundigen Kriegsverbrechen abzulenken. Die Frage, ob es sich um einen Völkermord handelt oder nicht, ist wichtig und muss beantwortet werden. Genauso wichtig aber ist die Pflicht aller Staaten, die hinter dem Völkerrecht stehen, derlei Kriegsverbrechen vorzubeugen und zu verhindern. Andernfalls droht man zum Komplizen des Grauens zu werden – und nimmt irgendwann hin, dass Opfer – im Fall von Völkermorden fast ausschliesslich Zivilist*innen – auf systematische Weise entmenschlicht und Verbrechen von solchem Ausmass möglich werden. Eine extreme Ausprägung solcher Entmenschlichung sind Feindbilder, die dem Gegenüber alles
absprechen, was es verwundbar macht –und damit zu einem Wesen, welches man selber ist. Menschen werden zu Tieren, mehr noch zu Sachen.
Wie das überhaupt möglich ist, hat der französische Journalist Jean Hatzfeld in einem einzigartigen Dokument festgehalten, das Gespräche mit Tätern des Ruanda-Genozids versammelt und dabei auf erdrückende Weise nachzeichnet, wie organisiertes Morden «normalisiert» wird. Dass Menschen, zumal unschuldige, mit grosser Gleichgültigkeit und Selbstverständlichkeit gequält und ermordet werden, davon berichten Augenzeugen von Kriegsverbrechen immer wieder. Umso erschreckender, wenn die Täter von heute, wie oft bei Genoziden, gestern noch die Nachbarn ihrer Opfer waren. Was nur dann keine Rolle mehr spielen kann, wenn jedes Mitgefühl erstirbt.
Um Mitgefühl geht es den «Müttern von Srebrencia», einem Opferverband von Frauen, die ihre Männer und Söhne beim Genozid verloren haben. Sie wollen nicht nur alle für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht bringen, sondern auch daran erinnern, dass es Menschen waren, die massakriert wurden, und nicht bloss «Bosniaken», eine anonyme ethnische Gruppe. «Ohne unser Engagement hätten viele der Opfer keine Namen», sagte die inzwischen verstorbene Gründerin der Organisation, Hatidža Mehmedović, deren Mann und zwei Söhne ermordet wurden, kurz nach der Verurteilung des Kriegsverbrechers Mladić im Jahr 2017. «Es geht uns nicht um Rache, es geht uns um Gerechtigkeit, um Menschlichkeit.»
Von beissenden Hunden und verschwundenen Beizen
TEXT KLAUS PETRUS ILLUSTRATION PIRMIN BEELER
ZUG In einem Zug zwischen Biel-Bienne und Basel, viertel vor zehn am Morgen, die Abfahrt verzögert sich, zwei Männer sitzen sich in einem Abteil gegenüber, beides Pensionäre, beide mit kariertem Hemd, der eine hat ein beigefarbenes Chäppi auf, ich quer gegenüber, lauschend. Der mit Chäppi ergreift die Initiative:
«Jetzt habe ich das Handy auf dem Küchentisch liegengelassen, gopferteckl!»
«Ohjemine.»
«So kommt man wenigstens ins Gespräch, nicht wahr?»
«Geschieht nichts Schlimmeres.»
Beide lachen. Der ohne Chäppi:
«Wo wohnen Sie denn?»
«In Nidau.»
«Schönes Örtchen. Hatte dort früher mal Aufträge. Und einen guten Metzger gibt es da.»
«Die Stedtli Metzg? Die musste zutun voriges Jahr.»
«Ohje, ohje. Die guten Metzger sind inzwi-
schen rar geworden.»
«Das können Sie laut sagen, gopferstüdeli. Alle rennen ins Coop. Mit den Bäckereien ist es genauso.»
«Und den Beizen. Man muss schon sehr lange gehen, um noch eine gemütliche zu finden.»
«Überall nur noch Pizzas. Und Kebab.»
«Sagen Sie nüt.»
Längere Pause. Dann der mit Chäppi:
«Wenn man das Handy vergisst, kommt man leicht ins Lafferen.»
«Ehja.»
«Sie kommen von wo?»
«Bin in Kleinbasel zuhause.»
«Dann fahren Sie jetzt aber in die lätze Richtung!»
Beide lachen. Der ohne Chäppi:
«Habe in Biel eben eine Bekanntschaft, deswegen.»
«Das ist auch gäng etwas.»
Beide lachen. Der mit Chäppi:
«Was für Aufträge?»
«Wie Aufträge?»
«Sie sagten, Sie hätten in Nidau Aufträge gehabt, nicht wahr?»
«Achso, jaja. War Hochbauzeichner, da hatten wir immer wieder mal Arbeit in der Gegend. Also in der ganzen Schweiz. Gut, persönlich habe ich jetzt nicht so gute Erinnerungen an dieses Nidau.»
«Wieso denn das?»
«Wir gingen da immer in eine Beiz zum Zmittag, den Namen weiss ich nicht mehr. War grad neben dem Elektronikladen, wissen Sie wo? Vis-à-vis ein Schmuckladen mit so buntem Klimbim im Schaufenster, die Inhaberin eine sehr freundliche. Eh ja, die Wirtin hatte einen Hund, so einen Appenzeller, würd ich meinen. Der meinte wohl, er müsse das Restaurant beschützen wie ein schottischer Hund seine Schafherde, diese schwarzweissen ... Jedenfalls, kaum stiegen wir aus dem Auto, bellte der
uns an, aber wie.»
«Ja, die können, wenn sie wollen.»
«Glauben Sie mir, das war jedes Mal ein Zeugs, bis wir am Tisch sassen. Einmal hat er mich gebissen, dieser Kläffer.»
«Also so richtig? Tut’s immer noch weh?»
«Achwo, das war vor, warten Sie mal: Zweiundzwanzig Jahre dürften das schon sein.»
«Achso, achso.»
«Ürsu hiess der.»
«Der Hümpu?»
«Ja. Urs, der Bär. Komisch, dass ich mich noch an den Namen erinnere, nicht wahr?
Aber wie die Beiz heisst, das weiss ich nicht mehr. Löcherhirni. Aber ich komme schon noch drauf.»
«Beissende Hunde, die vergisst man halt nicht so schnell.»
Beide lachen, derweil aus der Sprechanlage die Durchsage: «Das Zugteam der SBB begrüsst Sie im Intercity 51 von Biel nach Delémont, Laufen, Basel SBB. Der Zug hat derzeit eine Verspätung von circa sieben Minuten.» Der ohne Chäppi:
«Deutsche Verhältnisse hier.»
«Nicht grad.»
«Gottlob.»
Längere Pause. Der mit Chäppi:
«Ich hatte einen Schweizer Sennenhund.» «Ohalätz.»
«Ja, die stellen noch etwas dar. Gute 60 Kilo bringen die auf die Waage.»
«Aber der hiess nicht etwa Ürsu?»
«Um Gottes willen nein. Benno.»
«Jetzt aber nicht wahr, oder? So heissen die doch alle!»
«Eben.»
Beide lachen. Längere Pause. Dann wieder der mit Chäppi:
«Eine schöne Strecke ist das, über Delémont.»
«Jaja, das ist so.»
«In Delémont hatte ich mal eine Bekanntschaft.»
«Jetzt sagen Sie! Dann sind Sie fliessend im Französisch?»
«Wo denken Sie hin! Sie kam aus Bern. Die hätte ich gern geheiratet, gopferteckl.»
«Aber dann ging es in die Hosen?»
«Das kann man wohl sagen. Sie hatte über Nacht einen anderen. Einen aus Le Locle. Nicht grad die feine Art, oder? Aber ist lange her. Und Sie, verheiratet?»
«Das wäre mir noch!»
Beide lachen, der mit Chäppi schlägt sich auf die Schenkel. Längere Pause. Der ohne Chäppi:
«Rössli, so hiess die Beiz in Nidau.»
«Hmm. Nicht dass ich wüsste.»
«Ist ja schon lange her. Vielleicht hat die
jetzt auch zu. Wie die Metzg.»
«Jaja, ein Jammer ist das.»
Längere Pause. Der ohne Chäppi: «Ich Löli, die Räblus war’s.»
«Nein, das ist nicht in Nidau, das ist auf der anderen Seite des Sees. Aber guter Spunten, würd ich meinen.»
«Jetzt habe ich ein Gstürm.»
«Macht nichts, in unserem Alter, gell. Soli, Delémont, hier steige ich aus.»
«Aha, immer wieder Delémont, was?»
Der ohne Chäppi zwinkert dem mit Chäppi zu, beide lachen. Der mit Chäppi: «Einen schönen Tag wünsche ich. Ab jetzt fährt der Zug rückwärts.»
«Dann setze ich mich auf Ihren Platz. Alles Gute Ihnen.»
«Vergälts Gott und eine schöne Fahrt.»
Der Zug fährt an, der ohne Chäppi hockt sich auf den Fensterplatz gegenüber, holt das «20 Minuten» aus seinem Rucksack, eine Wasserflasche und das Handy.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein Austausch stattfindet.
Eine griechische Insel nährt Menschen – und Träume
Lebensqualität Die Menschen auf Ikaría lebten gesünder und werden älter, meinte ein US-amerikanischer Bestsellerautor und machte die griechische Insel berühmt.
Eine Reporterin des schwedischen Strassenmagazins Faktum hat sich vor Ort ein Bild gemacht.
TEXT MALIN CLAUSSON FOTOS LISA THANNER
1 Einst arbeitete er in Athen für grosse Firmen und war ständig am Handy. Heute verbringt Lefteris Trikiriotis die meiste Zeit in seinen Olivenhainen.
2, 3 Verwandte und Bekannte helfen bei der Ernte und der Verarbeitung der Früchte zu Olivenöl.
Die Reise nach Ikaría kann eine harte Probe sein, wenn man nicht gemütlich die Fähre nimmt: erst die kleine Propellermaschine, die auf der kurzen Landebahn mit den schweren Bremsspuren aufsetzt, dann die Serpentinen im kleinen Mietwagen, Tempolimit 20 km/h. Stellenweise sind die Kurven praktisch U-Turns, oft ohne Leitplanken. Später geht es bergab durch Wälder und üppige Olivenhaine, die im Zweiten Weltkrieg die Inselbewohner*innen vor den deutschen und italienischen Invasor*innen schützten. Damals lieferte die kommunistische Griechische Volksbefreiungsarmee (ELAS) den faschistischen Besatzungsmächten einen harten Kampf. Das machte sie bei der Bevölkerung beliebt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollten die konservativ-monarchistischen und rechtsnationalen Kräfte in Griechenland, unterstützt von Grossbritannien, einen möglichen Wahlsieg der Linken verhindern. Es folgte ein Bürgerkrieg, in dem die Kommunist*innen 1949 unterlagen, nachdem sie infolge des Bruchs zwischen Tito und Stalin den logistischen Rückhalt durch Albanien und Jugoslawien verloren hatten. Eine regelrechte Hetzjagd begann, zahlreiche Menschen wurden interniert, hingerichtet oder flohen ins Exil. Die genauen Zahlen sind schwer zu ermitteln, da eine spätere griechische Regierung einen Grossteil der Akten vernichten liess.
Auf Ikaría weiss man, dass hier zeitweise 10 000 bis 15 000 Kommunist*innen als vom Festland exilierte Gefangene festsassen. Noch heute wählen die rund 9000 Bewohner*innen der In-
sel, die auch eine eigenständige Gemeinde ist, bei Parlamentswahlen zu etwa vierzig Prozent die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE).
Sich nicht auf Kosten der anderen bereichern
Der Olivenbauer Lefteris Trikiriotis nennt den Kommunismus auf Ikaría «soziale Weisheit»: Ein Lebensstil, der bereits lange vor seiner politischen Ausprägung entstanden war; ein wirtschaftliches Verteilungsmodell, bei dem es darum ging, dass die Ressourcen der Insel für alle reichten und niemand sich auf Kosten der anderen bereichern konnte. Trikiriotis zeigt auf einen kleinen See, in dem sich das Quellwasser vom Gipfel eines Berges sammelt. In seiner Umgebung liegen etwa zwanzig Haushalte verstreut auf verschiedenen Höhenlagen. Das Seewasser werde nach einem festen Schlüssel auf die Anzahl der hier lebenden Menschen verteilt. Familien können so wachsen – andere Formen der Expansion werden gebremst. «Nehmen wir an, Sie wollen Ihren Olivenanbau verdoppeln, um mehr Geld zu verdienen. Daran kann Sie niemand hindern, aber Sie bekommen nicht mehr Wasser für Ihre Bäume. Die Ration ist, wie sie ist», sagt Trikiriotis. Vor zwanzig Jahren übernahm Lefteris Trikiriotis zehn Hektar schwer zu bearbeitendes, terrassiertes Land auf 700 Metern Höhe, das nun auf mehrere Haushalte seiner Verwandtschaft verteilt ist. Die Olivenernte wird zu gleichen Teilen unter den Haushalten dieser Familie aufgeteilt. Seine Vorfahren leben seit
2 3
4 Drei Generationen tragen zum guten Essen bei: Sekundarschullehrerin Vasilia Samiotis (2.v.r.) mit ihren Eltern und Sohn Angelo (Mitte).
5, 6 Ernte aus dem eigenen Garten und häufiges Zusammensein: gehört auf Ikaría zum Alltag.
dem 14. Jahrhundert auf Samos und Ikaría. Doch Trikiriotis selbst ist erst als Erwachsener auf die Insel gezogen. Mit 24 Jahren liess er Athen und seine Karriere hinter sich. «Ich war der Leiter eines grossen Unternehmens, das Industrien auf der ganzen Welt belieferte, darunter Coca-Cola in den Vereinigten Staaten. Ich arbeitete rund um die Uhr. Das Handy war immer an, immer auf Stand-by. So wollte ich nicht mehr leben.» Es trieb ihn dorthin, wo er die Sommer seiner Kindheit bei den Grosseltern verbracht hatte. «Meine Eltern und Freund*innen glaubten, dass ich scheitern würde, weil ich nicht hier aufgewachsen bin. Aber ich musste es versuchen, sonst hätte es mir für den Rest meines Lebens keine Ruhe gelassen», sagt Lefteris Trikiriotis.
Vielfalt und ein sorgfältiger Umgang mit dem Boden Heute teilt der Olivenbauer sein einfaches Steinhaus aus dem 18. Jahrhundert mit seiner Frau und der achtjährigen Tochter. Sie versorgen sich hauptsächlich mit Lebensmitteln aus eigenem Anbau: Obst und Gemüse, verschiedene Kartoffelsorten, Weintrauben auch mit Kräutern, Heilpflanzen, Lavendel und essbaren Blumen. «Wir lieben die Vielfalt», sagt Trikiriotis. Diversität sei auch Strategie, denn «man wird sehr verletzlich, wenn man nur eine Sache anbaut». Und auch wie man anbaue sei wichtig, sagt er. Auf seinem Land kehren die Schalen der Oliven auf den Boden zurück, wenn das Öl gepresst ist; auch die Reste der Trauben, sobald der Wein in Erdkellern eingelagert ist. Es sei die Rolle des
Menschen, den Boden zu schützen, ihn nicht etwa durch Kunstdünger zu verunreinigen, glaubt Trikiriotis. Die Oliven, die für den Verzehr geerntet werden, pflücken sie von Hand. Die anderen werden mithilfe eines einfachen Werkzeugs vom Baum geholt, das ist eine Art drehendes Rad, das die Oliven auf den mit Netzen bedeckten Boden schleudert, ohne die Bäume zu beschädigen. In Säcken transportieren sie die Oliven dann zu einer Ölmühle in einem der Dörfer, wo die Ernte gewogen, von Blättern befreit, gepresst und in Kanistern abgefüllt wird.
Im Herbst 2024 sind die Oliven ungewöhnlich früh reif geworden. «Die Dürre hat die Bäume gestresst. Wir mussten sie abernten», sagt Trikiriotis und erzählt, dass reife, nicht geerntete Oliven den Bäumen die Nährstoffe entziehen. Im schlimmsten Fall könnten die älteren Bäume verfaulen, wenn sie nicht rechtzeitig geerntet werden. Es war trotzdem ein gutes Jahr, viele Oliven, sagt er. Etwa einmal im Monat führt Trikiriotis Menschen auf Wanderungen über die Insel. Auch das trägt zum Lebensunterhalt der Familie bei, wie auch die Hautpflegeprodukte auf Olivenbasis, die seine Frau Irini herstellt.
Sekundarschullehrerin Vasilia Samiotis lädt zum selbst gekochten Essen. Ihre Eltern, die Subsistenzwirtschaft betreiben, sind hungrig und kommen direkt aus dem selbst angelegten Nutzgarten. Ihre Mutter tritt durch die Tür und stellt sich als Popy vor, begrüsst Vasilia als «Vaso» und küsst alle auf die Wangen. Auf dem Tisch steht der «Star der Oliven», kleine, schrumpelige
schwarze Früchte, die direkt vom Baum genossen werden können – ziemlich bitter, aber köstlich. Samiotis serviert verschiedene vegetarische Gerichte mit einer grossen Schüssel Reis. Die Farbenpracht und der Geschmack sind beeindruckend. Samiotis ist meist die Köchin für die Familie, während ihre Mutter sich um den Garten kümmert. Ihr Vater und ihr 14-jähriger Sohn Angelo helfen mit. Angelo arbeitet aber nur während der Erntezeit, ansonsten besteht sein Leben aus Schule und Fussball. 120 Kinder besuchen die örtliche Schule, an der seine Mutter unterrichtet. Das tägliche Beisammensein bei einer Mahlzeit mit mehreren Generationen am Tisch trägt massgeblich zum hohen Wohlbefinden auf Ikaría bei, so scheint es. Zusätzlich lassen die Dorfbewohner*innen keinen Anlass aus, zu einem Panagiri auf dem Dorfplatz zusammenzukommen, einer traditionellen Zusammenkunft mit Essen, Wein, Musik und Tanz bis in die frühen Morgenstunden. «Wir feiern alles!», erzählt Vasilia Samiotis. Speisen und Getränke werden auf langen Tischen angerichtet und unabhängig davon, ob man in der Lage ist, etwas beizutragen, darf jede*r sich satt essen und Kontakte pflegen.
Wie geht es den jungen Menschen?
Ikaría sei sicher, ein ruhiger und schöner Ort zum Aufwachsen, sagt Angelo. Trotzdem will er weg von hier, sobald er alt genug ist. «Ich denke darüber nach, Computeringenieur zu werden», sagt er. «Zuerst möchte ich reisen und andere Orte sehen –
Schweden, Italien, die Alpen.» Als er jünger war, lebten er und seine Mutter ein Jahr lang in Athen. «Es hat mir nicht besonders gut gefallen. Aber heute bin ich neugieriger auf das Grossstadtleben.» Dann schaut er seine Mutter an und fügt hinzu: «Vielleicht komme ich zurück, wenn ich so alt bin wie Opa.»
Vasilia Samiotis versteht die Sehnsucht ihres Sohnes. Aber sie kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als auf Ikaría. Sie liebt ihre Arbeit und die engen familiären Beziehungen zu ihren Schüler*innen, die sie in Griechisch, griechischer Geschichte und Literatur unterrichtet. Sie glaubt, dass das Ziel, das auf der Insel viele verfolgen – nicht reich zu werden, sondern gemeinsam ein nachhaltiges Leben zu führen – die jungen Menschen positiv prägt. «Aber ich bin nicht hier aufgewachsen, also sehe ich vielleicht nicht, wie sehr man als junger Mensch hier leiden kann, unter dem Klatsch und der Einmischung und so weiter», sagt sie.
Samiotis zog als alleinerziehende Mutter hierher und fand eine Gemeinschaft vor, in der man sich gegenseitig unterstützt. Sie fühlt sich gerettet – allerdings nicht im religiösen Sinne. Über die Frage, ob die Inselbewohner*innen religiös seien, lacht Samiotis. «Überhaupt nicht! Keine*r geht in die Kirche. Die Insel ist rot!» Aus ihrer Sicht ist das moderne Leben in Athen und im Rest der westlichen Welt eine Katastrophe: eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht glücklich sind. Sie kann gut verstehen, dass Menschen mit dem Traum von einem alternativen Leben hier-
Armut in Griechenland: Bald zwei Jahrzehnte Krisen und steigende Kosten
Die internationale Bankenkrise ab 2008 und die daraus folgende griechische Schuldenkrise (2009–2015) hat viele Griech*innen in existenzielle Not gestürzt. In der Folge haben zwischen 2010 und 2024 über eine Million Menschen das Land verlassen. Andere flohen aus Athen aufs Land oder auf die Inseln, wo vielleicht noch ein Haus der Eltern steht, Subsistenzwirtschaft möglich ist und die Lebenshaltungskosten niedriger sind. Die hohe Anzahl Flüchtender, die zwischenzeitlich in Griechenland ankamen, sowie die Pandemie mit ihrem vorübergehenden Reisestopp wirkten krisenverstärkend. Inzwischen hat sich Griechenlands Wirtschaft zwar etwas erholt, es kommt aber weiterhin nicht ausreichend bei den Menschen an: So kommen 60 Prozent der Haushalte mit ihrem Einkommen nicht über die Runden; Löhne und Renten wurden während der Finanzkrise radikal gekürzt und haben das Vorkrisenniveau noch lange nicht erreicht; gleichzeitig sind die Preise etwa für Lebensmittel und Wohnraum stark gestiegen. So betrug die monatliche Durchschnittsrente im Jahr 2009 rund 1080 Euro, heute liegt sie bei 839 Euro. WIN
7 Giannis Melissokomos verdient nicht viel mit seinen fast 150 Bienenstöcken – aber er ist Teil eines Kollektivs.
8 Besucher*innen zeigt er auch mal eine Wabe.
9 Wer naturnahen Tourismus sucht, fühlt sich auf Ikaría ziemlich wohl.
herkommen, so wie sie. Arbeitsstellen sind jedoch rar. «Jede Person, die einen Bauernhof hat und wirtschaften beziehungsweise etwas anbauen kann, hat es hier gut. Für die anderen wird es kein einfaches Leben. Aber immerhin eines in guter Gesellschaft.» Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt fast vollständig selbstversorgend. Einen Allgemeinmediziner gibt es, eine*n Kinderärzt*in nicht.
Giannis Melissokomos lebt in einem kleinen Steinhaus hoch in den Bergen an der Südwestküste von Ikaría, wo auch seine fast 150 Bienenstöcke stehen. Früher arbeitete er als Motorradmechaniker in Athen. Nun heizt er sein Häuschen ab November mit einem holzbefeuerten Eisenofen und zieht sich gegen die Kälte wärmer an. Manchmal kommt ihn seine Freundin aus Amsterdam besuchen. «Ich habe nie daran gedacht, Griechenland zu verlassen. Ich habe keine höhere Bildung, also war das für mich keine Option. Aber ich hatte den Wunsch, auf eine andere Art zu leben.» Er zählt auf, was ihm wichtig ist und was er am Inselleben eher schwierig findet. Die starke Motivation der Bevölkerung, die Insel als Heimat mit ihren Traditionen zu erhalten, die engen sozialen Bindungen und die fröhlichen Feste fallen auf die positive Seite. Aber die Infrastruktur sei schlecht – das Strassennetz, das Gesundheitswesen, auch die Schulen. Und es sei schwierig, Lehrer*innen zu finden, die sich hier niederlassen wollen. Wenn es mit der Imkerei gut läuft, möchte Melissokomos trotzdem bleiben. Wegen der Solidarität. «Wie Bienen denken
die Bewohner*innen von Ikaría nicht in erster Linie an sich selbst. Sie denken an die Gemeinschaft.» Wie Trikiriotis bietet er Führungen für Besucher*innen an. «Die Bio-Imkerei ist nicht besonders profitabel, aber ich habe mich einem Kollektiv von Imker*innen angeschlossen, das dieselben Ideale vertritt wie ich.»
Ausserdem müsse er seine Tür nie abschliessen, sagt Melissokomos. Auf Ikaría stehle niemand.
Der einzige Polizist der Insel sitzt in einer kleinen Wache am Rande des Dorfes Evdilos. Er bestätigt, was Melissokomos erzählte. Verbrechen auf der Insel? Gibt es nicht, sagt er. Es brauche hier keine Polizist*innen, ausser im Sommer zur Ferienzeit. Dann werde er für sechs Wochen von Samos hierher geschickt. Wenn er eingreifen müsse, sei es meist wegen häuslichen Konflikten –die Ferienzeit belaste die Beziehungen.
2008 wurde Ikaría vom US-amerikanischen Bestsellerautor und Weltenbummler Dan Buettner als sogenannte «blaue Zone» ausgezeichnet. Als solche beschrieb der Autor weltweit Orte, an denen er die Lebenserwartung als bemerkenswert hoch einstufte. Auf Ikaría lebten dreimal so viele gesunde Menschen im Alter von 90 Jahren oder älter als in Griechenland insgesamt und es gebe mehr Hundertjährige pro 100 000 Einwohner*innen als an jedem anderen Ort der Welt, so Buettner – dessen Methoden der Datenerhebung aber auch als spekulativ und unwissenschaftlich kritisiert wurden. Dennoch produzierte Netflix die darauf basierende Dokumentationsserie «Live to 100: Secrets of the Blue Zones». Es erschienen auch Bücher über das Essen und die Lebensweise auf der Insel. Für einige Bewohner*innen Ikarías hat das Label «blaue Zone» auch eine Kehrseite. Ein Mann mittleren Alters erzählt von Facebook-Gruppen für die Privatvermietung von Ferienunterkünften, die konfrontiert sind mit wütenden Posts. Vasilia Samiotis dagegen schaut hoffnungsvoll in die Zukunft und ist stolz auf das positive Image der Insel. Sie hofft, dass sich durch die neue Bekanntheit mehr Menschen dauerhaft auf der Insel niederlassen. Als Lehrerin betrachtet sie die Binnenmigration als notwendigen Faktor zur Sicherung der demografischen Stabilität. Ihr Sohn Angelo ist jedoch besorgt. «Es war ein Fehler, öffentlich bekannt zu machen, dass wir eine blaue Zone sind, denn jetzt kommen immer mehr Menschen hierher, und für die Strom- und Müllsysteme wird es schwierig, damit umzugehen. Bald reichen die Ressourcen vielleicht nicht mehr aus», sagt er. «Das ist vielleicht meine zukünftige Aufgabe: unsere Insel sauber halten.»
Und wer weiss, vielleicht wirken die kommunistisch-politischen Ideale als Bremse gegen zu viel Zuzug. Wer Reichtum und Luxus sucht, wird hier nicht fündig: Es gibt kaum etwas zu kaufen, und wenn man in Schwierigkeiten gerät, ist man auf seine Nachbar*innen angewiesen.
Mit
Wenn der Ritter
plötzlich küsst statt tötet
Kunst «Zur frohen Aussicht» im Walliser Dorf Ernen kreist diesen Sommer um Volkserzählungen. Für die Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst steuern Bewohner*innen Räume, Material und lokales Wissen bei.
TEXT CÉLINE GRAF
Auf dem Pfad zum Galgen oberhalb von Ernen begegnen Spazierende diesen Sommer einem Drachen. Vier Bild-Skulpturen aus Keramik des Künstlers Felix Stöckle erzählen die Legende des Heiligen Georg, der einen Drachen tötet. Doch dieses Mal fliesst kein Blut: Der Ritter hängt seinen Helm an den Nagel. Die beiden Gegner nähern sich sogar zum Kuss. Georgs Pferd erhält zudem eine eigene Szene. Es kackt vor Angst, statt sich stolz aufzubäumen, wie das typisch wäre für ein Heldenporträt. «Pferde sind ja eigentlich Fluchttiere», erklärt Stöckle.
Der Bieler Künstler beleuchtet gern widersprüchliche und absurde «Hintergeschichten» von europäischen Sagen und Legenden. Das birgt auch aktuelle Fragen. «Wer schreibt die Geschichten? Und wer fragt die, die keine Geschichten schreiben können, wie das Pferd?», so Stöckle. Ihn erinnern Volkserzählungen an Reels und Memes auf Instagram und TikTok, die sich ebenfalls stetig verändern und oft keine eindeutigen Quellen haben.
Georg und der Drache prangen am Portal und im Innern der Pfarrkirche von Ernen aus dem 16. Jahrhundert. Lokale Sagen, Legenden, Mythen und Erzählungen stehen an der fünften Ausgabe von «Zur frohen Aussicht» im Gomser Bergdorf im Mittelpunkt. Seit 2015 ist an dieser Sommer-Ausstellung ungefähr alle zwei Jahre junges Kunstschaffen aus der Schweiz zu sehen. Eine Handvoll Künstler*innen lässt sich von Ernen und der Umgebung zu den Beiträgen für die Ausstellung inspirieren.
Malerei, bildende Kunst, Tanz und Film bespielen ab Ende Juni drinnen und draussen das schmucke 540-Seelen-Dorf. Das Programm – alles kann gratis besucht werden – ist klein, aber fein. Tänzerin Cosima Grand wütet und taumelt in einer Performance zu Klängen von Demi Jakob als verletzter Erzengel über den Dorfplatz. Alizé Rose-May verwebt queere und nonbinäre Perspektiven mit visuellen Mustern aus dem Dorfbild. Maler Noah Kohlbrenner wanderte auf den Spuren von Totenprozessionen über Gletscher und drehte mit David Dragan einen Film über mythische Landschaften in den Walliser Alpen und den transsilvanischen Karpaten. Die Malerin Flora Klein, selber aus Ernen, bannt Farben der Elemente in Quadrate. Rund die Hälfte der Ausstellenden stammt jeweils aus dem Wallis. Viele von ihnen stellen zum ersten Mal im Kanton aus, in dem sie aufgewachsen sind. Einige seien deshalb richtig aufgeregt, sagt die Kuratorin Josiane Imhasly. «Zurückkommen und sich seinen Verwandten zu zeigen, ist eine Art Coming-out.»
«Zur frohen Aussicht» sei kein Tourismusanlass, betont Imhasly. «Die Ausstellung soll den Menschen vor Ort eine Auseinandersetzung bieten und nicht in erster Linie Städter*innen bespassen.» Städte seien ja eher übersättigt von Kunst, während viele Dörfer weit vom nächsten Kunstmuseum entfernt sind.
Mit ihrer Ausstellung möchte Imhasly diesen geografisch bedingten ungleichen Zugang zu Kunst verringern. Das erreichte zum Beispiel auch der Schweizer Künstler Peter Trachsel (1949–2013) mit seinem «Museum in Bewegung» im Prättigau, den Imhasly im Gespräch erwähnt. Die Kulturwissenschaftlerin unterrichtet Kunsttheorie an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich und übernimmt ab September die künstlerische Leitung der Fundaziun Nairs in Scuol.
Kurze Wege im Dorf
In der Region Ernen ist die 1986 geborene Josiane Imhasly über ihre Familie verwurzelt. Als Kind verbrachte sie viel Zeit dort, später wieder als Erwachsene. Dabei kam die Idee auf, hier eine Ausstellung aufzubauen – ihr erstes Projekt als Kuratorin. Die Gemeinde sagte sofort zu. Auch von der Bevölkerung erlebt Imhasly grosse Offenheit: «Die Wege für Kultur sind hier kurz.» Das zeigt sich ebenfalls daran, dass Ernen seit fünfzig Jahren mit «Musikdorf Ernen» ein Klassikfestival zelebriert.
Bewohner*innen steuern Räume, Material und lokale Expertise zu «Zur frohen Aussicht» bei. Es gibt ein Rahmenprogramm mit Schulworkshops, Spaziergängen und Präsentationen. An der Finissage lädt Künstler Felix Stöckle zum Austausch bei Schlangenbrot am Feuer. Manche Kunstwerke provozieren Diskussionen. Und manchmal spült die Ausstellung verdrängte Dorfgeschichten an die Oberfläche. So arbeitete ein Künstler an einer früheren Ausgabe einen Mobbingfall im Jugendverein auf. Einmal fand sich Josiane Imhasly selbst unerwartet im Dorftratsch wieder. Ein Verwandter hatte sich über eine Vogel-Installation empört, weil er meinte, sie spiele auf einen ungeliebten Spitznamen von Josiane Imhaslys Grossvater an. Lachend sagt sie: «Da habe ich einiges über das Dorf und alte Familienfehden erfahren.»
«Zur frohen Aussicht»: Ausstellung, 29. Juni bis 20. September, Vernissage Sa, 8. Juli, Dorfplatz Ernen. zurfrohenaussicht.org. Weitere nicht urbane Orte, an denen dieses Jahr Kunst zu sehen ist: kunst-entdecken.ch
1 Beim Bieler Künstler Felix Stöckle will der Heilige Georg nicht töten.
2 Alizé Rose-May beschäftigt sich mit Queerness im Alpenraum.
3 Der Maler Noah Kohlbrenner zeigt neuste Werke, inspiriert von Walliser Sagen.
«Himmelszelt» über dem Margarethenpark
Kultur Das Basler Pop-up-Kulturzentrum veranstaltet drei Wochen lang Workshops und Konzerte, offen und kostenlos für alle.
Es ist Sommer, die Klassenzimmer stehen leer, die Kitas sind geschlossen – sechs Wochen Ferien, aber das Familienbudget reicht gerade mal für ein paar Tage in den Bergen. Und auch zuhause bleiben kostet, die Ausgaben summieren sich rasch: Mit den Kindern in den Zolli, ins Schwimmbad, ins Museum und auf Ausflüge. Wie gut, ist da der Eintritt ins Basler Himmelszelt gratis!
Im Pop-up-Kulturzentrum im Margarethenpark, der zum Gundeli-Quartier gehört, finden während gut drei Wochen, vom 5. bis 27. Juli, täglich ausser an den Montagen von früh bis spät Veranstaltungen statt. Das Programm für Kinder, Eltern, Anwohner*innen und andere Interessierte ist vielfältig: Kreativ-Workshops, Theater, Tanztheater, Zirkus, Geschichten, ein offenes Zelt, dazu Mittag- und Abendessen. Auch Konzerte mit Musiker*innen aus der Region oder von so weit her wie Paris, Argentinien und Polen wird es geben. Die Veranstaltungen sollen insbesondere Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen; die Organisator*innen des «Himmelszelts» wollen kulturelle Vermittlung möglichst zugänglich gestalten, diesen Sommer etwa mittels einer «fantasievollen Reise, ganz ohne Kofferpacken». Dazu passt auch das diesjährige Thema des Kulturzentrums ganz gut: «Wunderwesen».
Der Theaterschaffende Marius Kob, der zusammen mit Iris Keller für das Programm zuständig ist, sagt zum «Himmelszelt», das es dieses Jahr erst zum zweiten Mal gibt: «Es soll ein Ort sein, an dem man zusammenkommt.» Die Besucher*innen, jung wie alt, sind eingeladen, sich zu beteiligen, sich künstlerisch einzubringen. Letztes Jahr hatten sie mit rund 4000 Besucher*innen mehr Zulauf als erwartet. Auch für diese Ausgabe rechnen die Organisator*innen mit vielen Neugierigen und Abenteuerlustigen.
Die morgendlichen Workshops für Kinder sind anmeldepflichtig. Nachmittags und abends laden offene Ateliers und Aufführungen dazu ein, sich spontan auszutoben – ohne vorherige Anmeldung. Und für kreative Pausen oder einen Schwatz bietet das Himmelszelt-Café Getränke und Essen zum Selbstkostenpreis.
Marius Kob und sein Team wirken nicht nur hinter den Kulissen, sondern stehen auch auf der Bühne und leiten Workshops – zusammen mit Kindern erschafft Kob etwa eine Welt der Fantasiewesen. Und sie werden, so viel sei verraten, das diesjährige «Himmelszelt» mit einer feierlichen Parade abschliessen. ADELINA GASHI
«Himmelszelt»: Pop-up-Kulturzentrum, 5. bis 27. Juli, Margarethenpark Basel. himmelszelt.org
Fehler im System
Kino Der Film «On Falling» thematisiert die prekären Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus. Ein Sozialdrama, das auch Hoffnung zulässt.
TEXT GIULIA BERNARDI
Sie sucht das Regal, scannt den Barcode, sucht das Produkt, scannt den Barcode, platziert das Produkt im Wagen, scannt den Barcode. Das ist der tägliche Arbeitsablauf der Protagonistin Aurora, die in Edinburgh in Schottland im Verteilzentrum eines Online-Giganten arbeitet.
Während Aurora durch die langen Gänge entlang der hohen Regale läuft und die Produkte einsammelt, die online bestellt werden, mag sich bei den Zuschauer*innen gleich zu Beginn jenes bedrückende Gefühl einstellen, das sie durch den ganzen Film begleiten wird. Zu diesem Gefühl trägt das oft beengend wirkende Bildformat bei oder auch das Sounddesign: Das aufdringliche Piepsen des Scanners steht im Kontrast zur dumpfen Soundscape der Lagerhalle, die weitläufig und beengend zugleich wirkt: Denn das neoliberale Versprechen des Aufstiegs, das weiss Aurora, wird sich für sie nicht einlösen.
Wiederholung und Ausweglosigkeit
Der Film «On Falling», den Laura Carreira gemeinsam mit dem Regisseur Ken Loach produziert hat, thematisiert die prekären Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus. Aurora arbeitet im Null-Stunden-Vertrag – ein Modell, bei dem keine feste Anzahl Stunden geregelt ist –, lebt in einer Wohngemeinschaft, weil es für mehr vermutlich nicht reicht, mit anderen Menschen, die, so lässt der Film vermuten, ähnlichen Arbeitsbedingungen unterstellt sind. Zu ihnen hat Aurora kaum Kontakt, ausser die zufälligen Begegnungen in der Küche; zu unterschiedlich sei der Rhythmus, erzählt Aurora ihrem neuen Mitbewohner, der sich nach dem Zusammenleben erkundigt.
Es ist der Rhythmus der Niedriglohnarbeit, den Aurora meint, aber nicht benennt, der sie wie dichter Nebel umhüllt, auch ihre Lebensrealität taktet, keinen Platz für Bedürfnisse oder Beziehungen lässt. Entsprechend wird die Filmerzählung durch sich wiederholende Abläufe und sich ebenso wiederholende Schauplätze strukturiert: Lagerhalle, Kantine, Lagerhalle, Küche, Schlafzimmer, Lagerhalle. Und so, wie sich die Orte wiederholen, wiederholen sich auch die Gespräche, über die immer gleichen Serien oder das vorhersehbar regnerische Wetter, an denen Aurora meist nicht teilnimmt, sondern in der Kantine nur beiläufig mithört. Ein Gefühl der Ausweglosigkeit stellt sich ein, das durch die Wiederholungen verstärkt wird.
Und dann, der Lichtblick
Den prekären Arbeitsbedingungen, dem Alltag, dem die Armut eingeschrieben ist, nähert sich der Film auch aus intersektionaler Perspektive. Wie die meisten der porträtierten Arbeiter*innen hat auch Aurora eine Migrationsgeschichte. Sie wanderte von Portugal nach Schottland aus, wie die Regisseurin Laura Carreira selbst. Entsprechend thematisiert der Film, wie migrantische Menschen leistungsfähiger und nützlicher zu sein haben, weil etwa ihr Aufenthaltsstatus von einem gültigen Arbeitsvertrag abhängt und vielleicht weitere Angehörige oder Familienmitglieder auf ihren Verdienst angewiesen sind. Der Film verdeutlicht, wie Prekarität für migrantische Menschen verstärkt wird – und an ihnen erprobt werden kann. Diese Prekarität schlägt sich auch in ihren Körpern nieder, physisch und auch psychisch, das zeigt der Film immer wieder: Der Mitbewohner von Aurora, der sich
FOTOS: ZVG
Vom Zeitkorsett zermürbt und gleichzeitig zusammengehalten: Ausserhalb ihres Arbeitsalltags weiss Aurora nicht so richtig etwas mit sich anzufangen.
den verspannten Nacken massiert, oder Aurora selbst, die ausserhalb ihres Arbeitsalltags nicht so richtig etwas mit sich anzufangen weiss, vom Zeitkorsett zermürbt und gleichzeitig zusammengehalten wird.
Aurora wird als zuverlässige Arbeiterin porträtiert – in den Augen der Dominanzgesellschaft wohl die ideale, die nützliche Migrantin, die aber hoffentlich nicht bleiben wird. In einer Szene wird Aurora von einem Aufseher ins Büro gerufen, er lobt sie, dass sie an dem Tag die schnellste Lageristin war. Daraus resultiert allerdings keine finanzielle Verbesserung, sondern lediglich das Gefühl des Kontrolliertseins und des Dankbar-sein-Müssens. Denn Aurora weiss um ihre Ersetzbarkeit, das wird auch in einem Gespräch mit ihrem Mitbewohner deutlich, der sie fragt, ob sie einen David kenne, der auch als Lagerist arbeite. Aurora verneint, erwidert, dass es von ihnen eben viele gebe. Eine Antwort, in der viel steckt: die Austauschbarkeit, die Anonymität, die Unmöglichkeit einer Solidarisierung.
Am Ende gibt es in der grauen Filmerzählung von «On Falling» dann doch einen Lichtblick, in dem auch das Gefühl von Gemeinschaft wieder aufblitzt: ein Fehler im System, der alles stilllegt, das Potenzial einer neuen Realität eröffnet, in der sich die Arbeiter*innen neu begegnen. Manchen Zuschauer*innen mag das zu simpel vorkommen – doch vielleicht liegt genau in seiner Einfachheit die Utopie.
Katastrophe und Normalität
Buch Bea Davies erzählt in ihrer Graphic Novel «Super-GAU» vom Umgang der Menschen mit einer fernen Katastrophe.
Am 11. März 2011 wurde Japan vom stärksten je gemessenen Erdbeben betroffen. Es löste mehrere Tsunami aus, die 500 km² Fläche überfluteten. 20 000 Menschen kamen ums Leben, eine halbe Million Menschen verlor Hab und Gut. Die Flutwellen beschädigten auch das Kernkraftwerk Fukushima, und es kam zur zweitgrössten Atomkatastrophe nach Tschernobyl, zum sogenannten Super-GAU, dem grössten anzunehmenden Unfall. Ein Ereignis mit Auswirkungen rund um den Globus.
Die in Berlin lebende Illustratorin und Comiczeichnerin Bea Davies erzählt in ihrer zweiten Graphic Novel «Super-GAU» in eindrücklichen Schwarz-Weiss-Bildern von dieser Katastrophe und auch davon, wie ein solch fernes Ereignis unser Leben beeinflussen kann. Exemplarisch tut sie dies anhand der Schicksale von acht Menschen in Berlin, die auf mitunter unerwartete Weise verbunden sind, durch Beziehungen, Begegnungen oder auch nur durch Zufälle. Und wie der 11. März 2011 in Japan wie jeder gewöhnliche Tag beginnt, so tut er dies auch in Berlin. Die Menschen träumen, arbeiten, treffen sich im Café oder auf der Strasse. Wie in Filmausschnitten lernen wir die Hauptpersonen kennen. Lea, die nicht weiss, wo ihre alkoholkranke Mutter abgeblieben ist, und in einer Notunterkunft für Obdachlose arbeitet. Ihren Kumpel Quang, der als Kellner jobbt. Josie, Leas Betreuerin. Nacho Morales, Schriftsteller und Ex von Josie. Seinen Freund Alp, eine blinde Frau und einen schweigsamen jungen Mann.
Die ersten Nachrichten der fernen Katastrophe machen sich erst spät und bruchstückhaft bemerkbar. Und nicht alle sind so direkt betroffen wie etwa Josie, die befürchtet, dass ihre Kinder den in Japan lebenden Vater verloren haben. Für viele sind es nur Nachrichten unter vielen. Denn gerade auch davon erzählt diese Graphic Novel. Dass neben all den Katastrophen auch immer der ganz normale Alltag stattfindet. Und dass viele Menschen die Schreckensmeldungen kaum beachten, manche sogar mit einem «Was geht’s mich an!» darüber hinweggehen.
Bea Davies gelingt es, diese Gleichzeitigkeit von Katastrophe und Normalität in Bildern zu fassen, die einen nachhallenden Sog entfalten. Mit den Schreckensbildern in Japan, mit auch stillen Momenten, Gesprächen und Träumen, und immer wieder dem quirligen Grossstadtleben von Berlin. Die letzten Szenen gelten einer wunderbaren Idee, die auf poetische Weise Trost spendet. CHRISTOPHER ZIMMER
Falling», Regie: Laura Carreira, Drama, GB/PT 2024, 104 Min. Läuft derzeit im Kino.
Aarau «Dishcomfort», Ausstellung, bis So, 24. August, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch
Diese Ausstellung ist aus einem Experiment heraus entstanden: Auf Einladung des Aargauer Kunsthauses fand eine Gruppe junger Menschen zusammen mit dem Ziel, gemeinsam eine Ausstellung zu entwickeln. Ihre Beweggründe für dieses Projekt waren völlig unterschiedlich. Manche wollten das Ausstellungsmachen kennenlernen, andere einen neuen Zugang zur Kunstwelt oder zu Menschen finden. Sie kamen mit kritischen Fragen zur Institution an sich, zu Themen wie Zugang, Repräsentation und elitäre Strukturen – und wurden mit den Monaten zum Kollektiv. In «Dishcomfort» widmen sie sich dem Essen als soziale Praxis. Und da steckt viel drin: Es widerspiegelt Identität, Herkunft, soziale Strukturen oder persönliche Geschichten. «Dishcomfort» zeigt das Essen als verbindendes Element, als biografischen Bezugspunkt und als gesellschaftliches Statement. Es gibt auch einen «Comfort Room», einen Rückzugsraum mitten im Museum, der die gewohnte Sterilität durchbricht. Hier verweilt man und tauscht sich aus – wie bei einem gemeinsamen Essen eben. DIF
Biel
«The Rude Museum», Ausstellung, So, 29. Juni bis So, 28. Sept., Mi bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/So 11 bis 18 Uhr, Kunsthaus Biel / Centre d’art Bienne, Seevorstadt / Fbg du Lac 71. kbcb.ch
Die Ausstellung «The Rude Museum» entstand in enger Zusammenarbeit zwischen dem Kunsthaus Biel und dem Masterstudiengang für Museumswissenschaften der Universität Neuenburg. Sechs Studierende wählten aus den Sammlungen vom Kunsthaus Biel und MAMCO (Musée d’art moderne et contemporain) in Genf Werke und Dokumente aus, die aufzeigen, wie Kunstschaffende seit den 1930er-Jahren bis heute die Logik sowie die kulturellen, symbolischen und ökonomischen Faktoren von Kunstmuseen kritisieren und ad absurdum führen. DIF
für die Benutzung vor Ort). Die antike Entdeckung des Feuers wird damit zur zeitgenössischen Suche nach einem Ort der Zusammenkunft. Die Gemeinschaft buchstäblich zu nähren, ist für Quinteros die beste Form des Zusammenseins. Sie bezieht sich in ihrem Werk «Temple of Fire» auf den griechischen Mythos von Prometheus, der den Menschen das Feuer in Form eines glühenden Stücks Holzkohle überbrachte, das er im Mark des Stängels eines Riesenfenchels verbarg. Der Riesenfenchel – eine Pflanze, die nicht nur feuerresistent, sondern auch giftig ist –wächst am Mittelmeer, ist aber schwer zu finden. Quinteros’ eigene Suche blieb erfolglos – also erschuf sie die Pflanze selbst und gab ihren verborgenen Eigenschaften eine physische Form im öffentlichen Raum. Der Tempel gehört zur Reihe «Public Art@Freilager-Platz», einer Kooperation zwischen der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW, dem Haus der Elektronischen Künste HEK und dem Kunsthaus Baselland. DIF
Winterthur
«Lucia Moholy – Exposures», Ausstellung, bis So, 13. Juli, Di bis Fr, 11 bis 17 Uhr, Mi bis 20 Uhr (freier Eintritt ab 17 Uhr), Sa/So 11 bis 18 Uhr, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45. fotostiftung.ch
Lebens verbrachte Moholy in Zollikon bei Zürich – dort baute sie ihre Beziehung zur damals noch jungen Fotostiftung auf. Weswegen sich hier ein grosser Bestand ihrer Fotografien befindet. DIF
Zürich
Basel / Münchenstein «Temple of Fire», Grillstelle und Ort der Zusammenkunft, bis Sa, 30. August, Freilager-Platz, Dreispitz. fhnw.ch
Der «Temple of Fire» der chilenischen Künstlerin Pilar Quinteros auf dem Basler Freilager-Platz ist ein aus drei Säulen bestehender Tempel, der ironischerweise als profaner Grill genutzt werden kann (öffentlich zugänglich, Anleitung
Mit dem Bauhaus erfand Walter Gropius das Feld des Designs neu. Die Kunstschule verband Kunst mit Handwerk, funktional, effizient und schnörkellos. Die Architekturaufnahmen des Bauhauses Dessau prägen die Wahrnehmung der Institution bis heute. Gemacht hat sie Lucia Moholy (1894–1989). Moholy bezeichnete sich als «Dokumentarin», ihre Arbeit reichte aber über die Fotografie hinaus. Sie war auch Kunsthistorikerin, Kritikerin, Schriftstellerin und Archivarin. Die Ausstellung in der Fotostiftung, die in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Prag entstand, zeigt ihr Schaffen von den 1910er- bis in die 1970er-Jahre und macht ihre Rolle in der Avantgarde der Zwischenkriegszeit fassbar. Einblicke gibt es auch in Moholys Jugend in Prag, in ihre redaktionelle Tätigkeit in Deutschland, in die Arbeit als Porträtistin in London sowie in ihre Beschäftigung mit der frühen Mikrofilmtechnik in England und der Türkei. Die letzten 30 Jahre ihres
«Kosmos Altstadt», Ausstellung, bis Anfang 2027, Mi bis Sa, 14 bis 17 Uhr, Do und So, 12 bis 17 Uhr, Heimatschutzzentrum in der Villa Patumbah, Zollikerstrasse 128. heimatschutzzentrum.ch Im vergangenen Sommer startete das Heimatschutzzentrum einen Aufruf, in dem es Geschichten aus Schweizer Altstädten suchte. Über 40 Menschen haben sich gemeldet und ein Teil davon nahm an einem Workshop in der Villa Patumbah teil. Gemeinsam wurden Themenfelder für die Ausstellung definiert und mögliche Umsetzungen skizziert. So erfahren wir nun, wie eine umgebaute Garage in der Genfer Altstadt zum lebendigen Quartiertreffpunkt wird, weshalb sich in Bern die grünste Gasse der Schweiz befindet und wie die Ilanzer*innen versuchen, ihre Altstadt zu beleben. Alles zweisprachig Deutsch/ Französisch und mit reichhaltigem Rahmenprogramm, z.B. Crashkurs im «Urban Sketching» im Zürcher Niederdorf am 27. August um 17.30 Uhr. DIF
Pörtner in Hombrechtikon
Surprise-Standort: Migros
Einwohner*innen: 9386
Sozialhilfequote in Prozent: 2,1
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 23,5
Landi: Nach mehr als 130 Jahren schloss Ende Januar die Landi im Hombrechtiker Dorfzentrum, Grund: Sie sei zu klein und in die Jahre gekommen.
Hombrechtikon verfügt über einen schönen und historisch wertvollen Bahnhof. Davon zeugt die ausgestellte Bahnglocke, mit der unter anderem «Zug entlaufen» signalisiert werden konnte. Sie stammt allerdings von einer anderen Station. Statt eines Buffets gibt es ein Kafi, das von einem gemeinnützigen Verein betrieben wird, mit nicht allzu ausgedehnten Öffnungszeiten, ein Gegenentwurf zu den praktisch rund um die Uhr geöffneten Bahnhofsverpflegungsstätten. Vielleicht liegt es auch daran, dass hier längst keine Züge mehr fahren, selbst die Geleise sind rückgebaut. Eine zweite, grössere Glocke kann geläutet werden, den Bahnhofplatz ziert das Denkmal eines unbekannten Gitarristen. Hinter dem Bahnhofsgebäude, auf einer Parkbank, ist eine Art inoffizieller
Jugendtreff. Mit den Parkbänken hat es hier eine eigene Bewandtnis, viele von ihnen sind mit Plaketten ausgezeichnet, die meist darauf hinweisen, von wem die Bank gespendet wurde. Etwa vom Fritig-Abig-Club: «Ein Club für Männer, eine Bank für alle!». Es gibt auch ein Plauderbänkli, wer sich darauf setzt, signalisiert Bereitschaft für einen spontanen Schwatz. Es sind aber nur zwei in der Nähe aufgestellte Bänke benutzt, von Menschen, die ins Smartphone schauen. Jene Bank, die ans 100-Jahre-Jubiläum des Verkehrsvereins erinnert, ragt aus einer Efeuhecke.
Auf einer ungemähten Wiese stehen Wahlplakate, die darin versinken. Ein Kandidat wird als fair und kompetent beschrieben. Was mit ein wenig schlech-
tem Willen auch als Umschreibung für «Er ist ein bisschen ein Langweiler» gelesen werden kann. Da aber flamboyante Menschen in der Politik auch nicht wirklich segensreich sind, muss das nicht gegen ihn sprechen.
Das Gemeindegebiet von Hombrechtikon umfasst den Lützelsee, und auch das am Zürichsee gelegene Feldbach gehört dazu, was für die Hombrechtikoner*innen zu der komfortablen Lage führt, über zwei Strandbänder und drei Seen zu verfügen, denn es gibt auch noch den Seeweidsee, der jedoch eher Weihergrösse aufweist. Auch Spielplätze scheint es überdurchschnittlich viele zu geben. «Fit?», fragt die Sportbox am Rande des Rasens neben einem dieser Spielplätze.
«Züri isch ois» steht an einer Bauabschrankung, eine Aussage, der die Bewohner*innen der Kantonshauptstadt kaum zustimmen dürften.
Der Aushang der Kirche ruft zu «Einfach heiraten» auf. Übersichtlich und vielfältig sind die Aushänge am Gemeindehaus. Es gibt unter anderem Ausstellungen im Dorfmuseum, Exkursionen entlang der Südroute durch den Ort, eine Operettenbühne, den Frauenchor, den ornithologischen und den Musikverein. Zu einem guten Ende gekommen ist der Streit über ein im Bau befindliches Mehrfamilienhaus, bei dem «die Verhältnismässigkeit in einer juristisch verzwickten Lage» gewahrt werden konnte.
Ein öffentlicher Jäteinsatz ist beim Aushang am Gemeindehaus ebenfalls angekündigt. Indem die invasiven Neophyten ausgerissen werden, soll die Biodiversität geschützt werden. Eine Reihe Fotos erinnert an das vergangene Radquer-Rennen. Das Dorfleben ist äusserst vielfältig, und für diejenigen, denen das alles noch nicht genug Unterhaltung bietet, ist eine gemeinsame Carreise zu Karls kühne Gassenschau organisiert worden.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Tour de Suisse
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt:
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GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN
Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.
Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.
Einer von ihnen ist Negussie Weldai
«In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die Heftausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»
Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.
Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.
Unterstützungsmöglichkeiten:
1 Jahr CHF 5000.–
½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–
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Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Ralf Schlatter, William Stern, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Pirmin Beeler, Giulia Bernardi, Malin Clausson, Adelina Gashi, Céline Graf, Michael Philipp Hofer, Mina Roth, Lisa Thanner
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#599: Kriminalisiert
«Nicht offensichtlich mittellos zeigen»
Ich bin Schweizer ursprünglich aus Genf, lebe in Basel und bin sehr oft in Freiburg (Deutschland). Das Thema Ihrer letzten Ausgabe ist hervorragend. Ich bin selber eher links in meiner Weltanschauung, aber ich habe mit Betteln und Bettler*innen grosse Mühe: ein*e Verkäufer*in des Strassenmagazins oder Ähnlichem ist sicher nicht reich, aber verdient, unterstützt zu werden, weil er*sie immerhin etwas tut. Der geniale Akkordeonist auf dem Dorfplatz bei mir stammt wohl aus Osteuropa und ist wohl ebenso arm. Ich spende ihm immer etwas. Wenn ich jedoch Personen sehe, die völlig gesund sind und einfach nur dasitzen und betteln, dann packt mich die Wut: Es wird überall Hilfe gesucht. Warum tun diese Menschen nicht etwas? Im Supermarkt beim Einpacken helfen oder älteren Menschen assistieren. Nicht zu reden von den Putzhilfen, die überall gesucht werden. Auf diese Weise müsste man sich nicht offensichtlich mittellos zeigen.
DANIEL GROSGURIN, ohne Ort
#600: Trotz allem
«Macht viel Mut»
Ein wunderbarer und wichtiger Text von Klaus Petrus! Er benennt die Dinge, ohne sie zu beschönigen, und trotzdem macht er viel Mut. Ich habe mich sehr inspiriert gefühlt und denke jeden Tag, wie ich konkret dem Ganzen, was da noch auf uns zukommt, ein «trotz allem» entgegensetzen könnte. Besonders wichtig finde ich den Appell an unsere Vorstellungskraft – aus ihr entstehen Visionen, um die zu kämpfen sich in jedem Fall lohnt.
T. LANDEROS, Bern
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Anm. d. Red.:
Wer auf der Strasse bettelt, hat in dem Moment in den allermeisten Fällen keine andere Wahl. Oft stecken komplexe individuelle Geschichten dahinter, mögen diese in der Schweiz spielen oder in anderen Ländern. Betteln auf der Strasse ist ein Ausdruck extremer Bedürftigkeit und damit eine akute Notsituation. Über die Verfassung hat der Staat den Auftrag, die Bürger*innen vor akuten ökonomischen Notlagen zu bewahren. Niederschwellige Angebote wie der Verkauf eines Strassenmagazins können dabei ergänzende Angebote aus der Zivilgesellschaft darstellen, erreichen aber genauso wie andere nichtstaatliche Akteure des Sozialund Gesundheitswesens nicht alle. Die Idee der spontanen Einpackhilfe im Supermarkt oder der freiwilligen Assistenz für ältere Personen geht an der Realität vorbei: In der Regel ist es ja nicht der Unwille, keinem «geregelten Job» nachzugehen, sondern das Unvermögen oder der fehlende Zugang, der Menschen zum Betteln bringt. In Bezug auf zugewanderte Menschen u.a. aus Südosteuropa spielt darüber hinaus eine jahrhundertealte Tradition der Ausgrenzung, des Rassismus und der staatlichen Repression (hier wie dort) eine Rolle sowie die extreme Armut, die diese Menschen in die (teilweise temporäre) Emigration zwingt.
Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.
25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50)
Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.
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«Ich würde gerne alleine wohnen»
«Seit neun Jahren wohne ich in Oerlikon in der Stadt Zürich, ich bin von der Stadt in diese Wohnung verwiesen worden. Ich war zuerst in Eglisau in einer Asylunterkunft. Meine Wohnsituation ist ein bisschen schwierig, da ich mit einer Gruppe jüngerer Menschen in einer Wohngemeinschaft wohne. Ich habe keine andere Wahl, als in dieser WG zu wohnen. Ich bin der Älteste dort, die anderen machen Musik und sind laut, aber so ist es halt.
Musik ist kein Problem, die mag ich auch gerne, aber wenn die anderen trinken und laut sind, ist es manchmal schwierig. Viele, die ich kenne und die alleine hierherkamen, leben in einer WG. Ich würde gerne alleine wohnen.
In Eritrea habe ich in einer Geschirrfabrik gearbeitet. Jetzt arbeite ich seit Juli 2017 bei Surprise, es ist mein erster Job in der Schweiz, und er gefällt mir gut. Aber es ist nicht genug, um unabhängig zu sein. Ich möchte mich von der Sozialhilfe befreien. Es würde mich freuen, wenn ich meine Miete selber zahlen könnte. Deswegen möchte ich einen passenden Job finden.
Ich verkaufe früh am Morgen, sieben Tage die Woche. Das Verkaufen mag ich, und es ist toll, mit Menschen Kontakt zu haben und Kontakte zu knüpfen. Ich habe eine paar Stammkund*innen, die immer wieder zu mir kommen. Viele von ihnen habe ich auch schon besser kennengelernt.
Zu Surprise bin ich über meinen Bruder gekommen, der schon hier gearbeitet hat. Weil ich Rückenprobleme habe, ist es schwierig, einen anderen Job zu finden. Aus gesundheitlichen Gründen konnte ich vorher nicht arbeiten. Surprise zu verkaufen ist mit dieser Einschränkung aber möglich und macht Spass.
Ich mache eine Therapie, die mir mit dem Rücken hilft. Wenn es kalt ist und ich die Therapie nicht mache, wird es schlimmer. Jetzt im Sommer geht es mir besser als im Winter. Ich darf nur drei Mal pro Jahr Physiotherapie machen, die Krankenkasse bezahlt nicht mehr. Der Arzt – ich habe Glück mit ihm – hat mir gesagt, dass er noch einmal mit der Krankenkasse spricht.
Ich bin alleine in die Schweiz gekommen. Aber ich verbringe gerne Zeit mit meiner Schwester, die auch hier lebt; sie ist nicht verheiratet und hat keine Familie. Auch mein Bruder lebte hier, doch vor ein paar Jahren ist er aus dem Nichts gestorben.
Mehari Teclai, 53, verkauft das Strassenmagazin bei der Migros in Langnau am Albis und in Greifensee. Er wohnt in einer WG und ist der Älteste dort.
Ich vermisse meine Frau und meine Familie, die in Eritrea sind. Meine Frau konnte ich nie mehr sehen, seit ich hier bin – ich darf nicht mehr nach Eritrea zurück. Zwei Söhne leben auch in der Schweiz, in Zürich. Der eine macht gerade eine Lehre und der andere arbeitet bei der SBB, sie sind 25 und 28 Jahre alt. Ich sehe sie ab und zu, sie besuchen mich manchmal.
Ich bewege mich gerne, mache zuhause Fitness und lese die Bibel. Ich bin christlichorthodox und habe in Zürich eine grosse Community. Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche – und danach spazieren.
In Oerlikon gibt es Orte, wo ich Kaffee trinke. Alkohol trinke ich nicht viel, aber es gibt Orte, wo ich mal etwas trinken gehe. Ich gehe gerne in Restaurants hier. Ich esse zum Beispiel gerne Spaghetti. Auch wenn es hier eritreische Restaurants gibt, gehe ich gerne Spaghetti essen.»
Aufgezeichnet von HANNA FRÖHLICH
FOTO: BODARA
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer
Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Alle
Ein
Strassenmagazin kostet 8 Franken.
Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
info@surprise.ngo
GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2025!
Surprise nimmt im August 2025 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Oslo, Norwegen, teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!
Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!
Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens Mo, 18. August 2025 an: Surprise Strassenfussball, Münzgasse 16, CH-4051 Basel