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Gabriele Markus

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Milena Moser

Milena Moser

Das neue Buch

TEXT GABRIELE MARKUS

Das Ganze schien ihm derart unglaubhaft, dass er sich noch einmal in aller Ruhe vergewissern wollte. Er war ein vernünftiger Mensch, der sich gerne an Tatsachen hielt. Phantastereien waren ihm verdächtig. Nachdenklich putzte er seine Brille, setzte sie dann wieder auf und schloss, wie um Zeit zu gewinnen, nochmals die Augen. Nun würde der Spuk ein Ende haben. Doch als er das Buch ein zweites Mal öffnete, um endlich mit der ersehnten Lektüre zu beginnen, fand er sich aufs Neue irritiert. Wie schon kurz zuvor traten einzelne Silben und Buchstaben aus den geraden schwarzen Reihen und benahmen sich äusserst befremdlich. Sie warfen sich übereinander, bildeten Knäuel, verkeilten sich, um sich gleich darauf zu trennen und zu neuen Wortbildern zu paaren. Und nicht nur die erste Seite, das ganze Buch schien in wilder, ruheloser Bewegung. Wo er es auch aufschlug, überall tanzten Buchstaben und Silben vor seinen Augen, kein Wort blieb beim andern. Es war zum Verrücktwerden! Gerade als er das Buch wütend in die Ecke schleudern wollte, bildete sich ein Wort, das ihn traf: «Geist».

Ärger und Enttäuschung machten sogleich einer Faszination Platz, wie sie ihn nur in den frühesten Zeiten seines Schriftstellerlebens erfüllt hatte. Damals war er nicht müde geworden, nächtelang über Ursprung und Sinn eines einzigen Wortes nachzudenken. Wenn sich ihm dann Welt um Welt öffnete, empfand er ein nie gekanntes Glück. Aber längst war er ein Vielschreiber geworden, ein Bestseller-Autor, berühmt und sehr gefragt. Längst blieb ihm keine Zeit mehr, sich um ein einzelnes Wort zu kümmern, galt es doch, immer mehr zu schreiben, immer neue, noch ergiebigere Storys zu erfinden. Brillant, zeitnah und spannend sollten sie sein, so wollte es seine grosse Leserschaft.

Vor einigen Tagen war sein neuestes Buch auf den Markt ge kommen, ein umfangreicher Roman, von der Fachkritik bereits mit Vorschusslorbeeren bedacht. Nun war er begierig, in seinem neuen Werk zu blättern, denn er liebte es, seine Gedanken und Formulierungen endgültig geordnet und gedruckt zu sehen. An der Brille konnte es nicht liegen, dass jetzt die Buchstaben noch frecher und provokanter aus der Reihe tanzten. Seine Augen seien in Ordnung, hatte ihm kürzlich ein namhafter Spezialist versichert, für seine sechzig Jahre sei er in bester Form. Und mit dem Kreislauf könne er zufrieden sein. Woher dann dieses Chaos? Er trat an das offene Fenster und tat einige tiefe Atemzüge. Es wird eine kleine Übermüdung sein, nichts Ernstes, redete er sich ein. Als er sich wieder setzte, war er ganz gelassen. Doch wie erschrak er, als er die ersten Seiten seines Buches nun völlig leer fand. Irritiert und verstimmt zog er sich in sein Bett zurück und schlief bald darauf ein. Er träumte von lebensgrossen Buchstaben und Silben, deko rativen Monstern, die sich zu immer neuen Wortbildern paarten und ob ihrer dreisten Selbständigkeit noch zu kichern schienen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sein Buch leer, von der ersten bis zur letzten Seite. Ihm wurde übel. Dem ersten heftigen Impuls, seinen Verleger anzurufen, gab er nicht nach. Später, nach dem Frühstück, fühlte er sich besser, aber das Buch blieb leer. Un fassbar! Ausgerechnet ihm, dem Realisten, musste dies geschehen!

Gegen elf Uhr traf er pünktlich zur Signierstunde ein, eine soignierte, elegante Erscheinung von überlegener Gelassenheit, ganz der erfolgsgewohnte Autor. Die Leute standen bereits Schlange, als der Lautsprecher ankündigte, der berühmte Schriftsteller T. werde nun sein neues Buch signieren. Ein flüchtiger Blick in das erste aufgeschlagene Exemplar trieb ihm den Schweiss auf die Stirn. Er blickte, auf eine leere Seite tippend, nervös zum Buchhändler auf. Aber dieser lächelte zufrieden und schien kei neswegs beunruhigt. Ganz im Gegenteil, sein Geschäft würde heute auf vollen Touren laufen, bei diesem Andrang. Als T. die ersten leeren Bücher signiert hatte, zitterte er noch leicht. Aber das gab sich, als ihm klar wurde, dass niemand etwas zu merken schien. Es wurde gekauft wie noch nie. Die Leute waren sichtlich aufgeschlossen, stellten gezielte Fragen, formulierten Widmungswünsche und dankten anschliessend mit gebührendem Respekt. Einige ganz Beflissene begannen sogleich zu lesen, während die Fernsehkameras surrten. Am Ende zählte der Abteilungschef 227 verkaufte Exemplare. Ein glanzvolles Ergebnis, das noch gefeiert werden musste. Der Verleger hielt eine Rede, in der er seiner Meinung Ausdruck gab, dieses Buch sei in jeder Hinsicht das Beste, das der erfolgreiche Autor bisher geschrieben habe. Es werde die Bestsellerlisten stürmen, ein Grosserfolg sei ihm gewiss.

Den seltsamen Ausdruck im Gesicht des Schriftstellers T. nahm niemand wahr. Er hatte ausgesorgt. Schliesslich war es nicht seine Schuld, dass die Leute nichts merkten. Sollten sie in dem Buch lesen, was sie wollten. Er wusste seit heute, dass nichts darin stand.

Der Text stammt aus «Das Geschichtenhaus», Erzählungen, erschienen bei Edition Isele, 2013.

GABRIELE MARKUS lebt als Schriftstellerin und Gesangspädagogin in Zürich. Von ihr wurden Prosa, mehrere Lyrikbände und der Kindheitsroman «Zugvögel wir legen uns auf den Wind» publiziert und einzelne Gedichtzyklen vertont. Mehrere Auszeichnungen, unter anderem Ehrengabe und Werkhalbjahr der Stadt Zürich.

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