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Kilian Ziegler
Kunst anschauen
TEXT KILIAN ZIEGLER
Nach einer kurzen Busfahrt, während der ich schon vermutet hatte, dass Thierry wieder eine seiner Nummern abziehen würde – er war aufgekratzt gewesen, wie ein kleines Kind –, standen wir beide in einem verlassenen Industriegebäude nahe der Stadtgrenze.
«Na, was hältst du davon?», fragte er, kurz nachdem er das Licht eingeschaltet hatte.
«Geräumig. Etwas dreckig, aber cool.»
«Nicht die Halle. Wie findest du es.»
Ich schaute mich um, was hatte ich übersehen?
«Es?», fragte ich.
«War ja klar, du hast kein Auge für die Kunst.»
Da konnte ich nicht widersprechen. Zwar gehöre ich nicht gerade zu jenen Banausen, die im Louvre ohne Umwege zur Mona Lisa sprinten, nur um wenig später enttäuscht direkt wieder hinauszueilen («Hatte ich mir grösser vorgestellt»), aber beim Auseinanderhalten von grossen Malern wie Picasso, Matisse oder Pollock bekunde ich, so peinlich es ist, bereits Mühe. Ich bin mir sicher, jedes Mal, wenn ich in einem Museum versuche, die Künstlerin oder den Künstler eines Werkes zu benennen, stirbt irgendwo ein Kunstexperte.
«Du siehst meine bisher beste Arbeit», sagte Thierry. «Grossartig, nicht wahr?»
«Sorry, aber ich sehe gar nichts.»
«Versuch’s nochmal, schau genauer hin.»
Die leere Fläche vor mir schien mich genauso fragend anzusehen wie ich sie. Ich suchte Boden, Wände, Decke nach Details ab, doch ich konnte nichts entdecken. Als Thierry erwartungsvoll und etwas zu demonstrativ die Brauen hob, begriff ich: «Ein unsichtbares Kunstwerk?»
Ich rechnete damit, dass er jede Sekunde einen Lach anfall bekommen und mir sagen würde, er verarsche mich. Aber darauf hätte ich lange warten können, seine Begeisterung war echt: «Es ist genial! Die absolute Reduktion. Es ist, ohne zu sein. Das hat es noch nicht gegeben.»
«Das hat es ganz sicher schon gegeben», ich nahm mein Handy hervor, um zu googeln.
«Und selbst wenn», hielt er dagegen, «dann bestimmt nicht mit meiner Handschrift.»
Ich seufzte, das Geräusch war so etwas wie ein Soundtrack unserer Freundschaft.
«Der Mensch ist blind für das Wesentliche der Welt. Vielleicht muss er erst einmal nichts sehen, um zu sehen, dass es überhaupt was zu sehen gibt.»
Ich verdrehte die Augen – wenn ich sie schon nicht zum Sehen brauchte, dann immerhin zum Rollen. «Wenn du jetzt noch den Saint-Exupéry auspackst, von wegen ‹Man sieht nur mit dem Herzen gut›, dann sehe ich schwarz für dich. Mit Augen und Herz. Ganz ehrlich, dein
‹Ich sehe was, was du nicht siehst› mag vielleicht ZHdK-Studis beeindrucken, und selbst das bezweifle ich, aber ich falle darauf nicht rein. Sorry.»
Es war offensichtlich: Die einzige Galerie, in die es das «Werk» schaffen würde, war jene seiner Misserfolge. Und die war gross. Alle paar Wochen erzählte Thierry von einer neuen, noch nie dagewesenen Idee oder einem lebensverändernden Projekt. Es mag für Aussenstehende witzig klingen, aber wenn dich dein Kumpel um drei Uhr nachts anruft, nur um dir zu sagen, er schreibe an einer bahnbrechenden Fernsehshow, in der Kinder ihren Eltern die Schulden zurückzahlen, mit dem Titel «Mini Payback Show», dann nervt das nur. Alle seine Ideen hatten eine traurige Gemeinsamkeit: Sie scheiterten.
Eine erneute Niederlage durfte ich nicht zulassen. Zum einen war er trotz allem ein Freund und zum anderen wollte ich ihm nicht monatelang zuhören müssen, wie sehr er missverstanden werde und wie dumm und ahnungslos die Leute seien. Ich musste ihn vor einer weiteren Schmach bewahren – hier half nur Ehrlichkeit: «Thierry, es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass dies als Kunst durchgeht. Die Leute werden dich als Schwindler beschimpfen und deine Arbeit durchschauen, im wahrsten Sinne des Wortes.»
«Die meisten Menschen erkennen Kunst selbst dann nicht, wenn sie direkt vor ihnen steht. Hast du vorhin eindrücklich bewiesen – nichts für ungut. Sieh’s doch mal so: Du kennst mein Werk seit zwei Minuten, und schon diskutieren wir darüber, was Kunst ist und was nicht. Was mehr kann ein Werk leisten?!»
Ich atmete tief durch (ich versuchte angestrengt, nicht zu seufzen) und beschloss, dem Ganzen eine Chance zu geben: «Und wie heisst das gute Stück? Lass mich raten: ‹Durchblick›? Oder: ‹Sehen und gesehen werden›? Nein, ich hab’s: ‹Das grosse Nichts›.»
«Findest du es zu gross?» Der Typ war unglaublich. «Nein, ich nenne es ‹Anschauungsunterricht›.»
«Clever! Du bist ein echter Visionär.»
«Spar dir den Sarkasmus.»
Meine Geduld war allmählich aufgebraucht: «Sag schon, warum bin ich hier? Soll ich dir helfen, es in eine Galerie zu tragen?»
«Ich dachte mir, du könntest an der Vernissage was spielen. Auf dem Klavier.»
Es konnte nicht sein Ernst sein. Wie oft schon hatte ich ihn zu Konzerten meiner Band eingeladen? Ihn beinahe angefleht zu kommen, weil ich mir – warum auch immer – seine Anerkennung erhoffte? Doch Thierry hatte mich nie spielen sehen. Ich muss zugeben, es war das erste Mal, seit wir in der Lagerhalle angekommen waren, dass bei mir so etwas wie Interesse aufkam: «Nun, ich hätte ein paar aktuelle Songs, ziemlich artsy, die könnten ganz gut passen. Oder ich schreibe neue Sachen, extra für die Ausstellung, Arbeitstitel: ‹Art aber herzlich›.»
«Also ich dachte eher an 4'33" von John Cage.»
«Du willst, dass ich viereinhalb Minuten am Klavier sitze, ohne nur einen Ton zu spielen?»
«Ist dir das zu schwierig?»
«Mir reicht’s, ich gehe.» «Warte, hör mir zu! Wenn du jetzt gehst, hinterlässt du ein Loch. Man mag es nicht sehen, aber es ist da. Und es lässt mich etwas fühlen. So ist es auch bei meinem Werk hier, ich weiss einfach, dass es da ist. Und es macht mir Freude. Vielleicht ist es ja gar nicht so wichtig, was du anschaust und was nicht, sondern wie es dabei in dir aussieht.»
Obwohl es Thierry, die alte Pathosschleuder, kaum schnulziger hätte formulieren können und er tatsächlich nichts anderes als den Saint-Exupéry paraphrasierte, musste ich zugeben: Ich war gerührt. (Aber vielleicht war es auch bloss der Asbest der Industriehalle, der mir die Tränen in die Augen trieb.)
Ich seufzte. Nun gut. Wenn schon scheitern, dann zusammen.
«Ich mach’s. Aber ich werde das Lied nicht üben.»
Thierry nickte zufrieden. «Glaube mir, das wird ein Erfolg.»
«Wir werden sehen.»
KILIAN ZIEGLER lebt in Olten, ist Slam Poet und Kabarettist. Er wurde 2018 doppelter Poetry-Slam-Schweizermeister (im Einzel und im Team, zusammen mit Phibi Reichling) und ist derzeit mit «Geschickt», seinem dritten abendfüllenden Programm, auf Tour, bei der er vom Solothurner Musiker Samuel Blatter begleitet wird.
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Shirana Shahbazi, [ Diver-02-2011 ] , 2011, Silbergelatineprint auf Aluminium, 90× 70 cm, Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde, Gruppe Junge Kunst, 2015 © Shirana Shahbazi


