Literatur
Migmar Dolma
Azad Şîmmo
Lubna Abou Kheir
Shukri Al Rayyan
Ilia Vasella
Azizullah Ima
Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Johanna Lier
Dominic Oppliger
Vincent Glanzmann
Urs Habegger

Literatur
Migmar Dolma
Azad Şîmmo
Lubna Abou Kheir
Shukri Al Rayyan
Ilia Vasella
Azizullah Ima
Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass
Johanna Lier
Dominic Oppliger
Vincent Glanzmann
Urs Habegger
«Eine Ode an die Magie der Kunst und den Mut der Unterdrückten.» – closer
WIE MIT GERAUBTEN KÖNIGSSCHÄTZEN UMGEHEN ?
Jedes Produkt hat seine eigene Geschichte. Bei Changemaker hast du die Gewissheit, dass es eine gute ist.
Wir haben für Sie Licht eingefangen. Literarisch, aber auch visuell. Der Fotograf dieser Ausgabe hat das Licht die Arbeit gleich selber machen lassen. Denn Peter Hausers Bilder sind Luminogramme. Entstanden ohne Kamera als direkte Belichtungen von Fotopapier.
Das Licht verbindet die Texte als gemeinsames Motiv. Aber auch ganz andere Verknüpfungen stecken in diesem Heft. Mehrere Beiträge stammen von Autor*innen, die wir beim Projekt Weiterschreiben Schweiz kennengelernt haben, geflüchteten Schriftsteller*innen aus Kriegs und Krisengebieten. Weiterschreiben existiert seit fünf Jahren, das Projekt feiert sein erstes Jubiläum. Lesen Sie die Texte von Azad Şîmmo (S. 7), Shukri Al Rayyan (S. 11) und Azizullah Ima (S. 15). Auch Lubna Abou Kheirs Geschichte ist in diesem Rahmen entstanden (S. 8) – unterdessen geht sie ihren Weg als Autorin und Schauspielerin selbständig.
Fotografie
Peter Hauser ist Fotograf und arbeitet gerne in der Dunkelkammer. Für die Bildserie im Surprise hat er Luminogramme, Lichtbilder, die auf Fotopapier festgehalten werden, aus vier verschiedenen Serien kombiniert.
5 Migmar Dolma Lavendelöl
7 Azad Şîmmo Der erste Schritt
8 Lubna Abou Kheir Nicht Normal
11 Shukri Al Rayyan Königin von Damaskus
Auf eine weitere Verknüpfung stiess ich zufällig bei Dominic Oppliger: Sein Jugendroman ist zusammen mit dem Musiker Vincent Glanzmann entstanden (Auszug S. 21). Angetan vom Gedanken, dass sich Menschen zusammentun, fiel mir bald darauf in Johanna Liers Newsletter der solidarische Hinweis auf weitere Autor*innen auf: Lesen Sie nun also die Texte von Johanna Lier (S. 18) und Ilia Vasella (S. 13) in diesem Heft, und Gina Buchers Schattengeschichte im nächsten.
Auch die Kurzgeschichte von Urs Habegger (S. 24) steht für eine besondere Verbindung: Wir lernten ihn vor vielen Jahren als Surprise Verkäufer kennen, jetzt ist er auch Buchautor. Und Migmar Dolma (S. 5) wiederum, die einen ihrer ersten literarischen Texte einst im Surprise veröffentlicht hat, arbeitet an ihrem Debütroman.
13 Ilia Vasella Windstill
15 Azizullah Ima Neue Horizonte
18 Johanna Lier Bell
21 Dominic Oppliger Vincent Glanzmann Wi mer dere Farb seit
24 Urs Habegger Das Eichhörnchen und die Schnecke
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Internationales Verkäufer*innenPorträt «Ein dichtes Dach überm Kopf»
TEXT MIGMAR DOLMA
Ich dimme das Licht und gebe zehn Tropfen Lavendelöl in den Diffuser. Ich nehme meine homöopathische Tablette mit dem Glas Wasser, das ich immer nur halb leer trinke, bevor ich mich schlafen lege. Ich beobachte den Nebelschwall, der aus dem weissen Keramik emporsteigt und atme immer ruhiger, während ich dem Plätschern lausche. Lavendelduft verbreitet sich im Zimmer. Der Stift, den ich mir auf die Lippen streiche, schmeckt nach Rosen. Ich lege mich ins Bett und schalte das Licht aus.
Bevor ich die Augen schliesse, drehe ich mich zum Nachttisch und schaue aufs Handy. Ich kneife meine Augen zusammen. Keine neue Nachricht von dir.
«Gehen wir mal etwas trinken?», schreibt dir eine fremde Frau. «Unbedingt! Gute Nacht, schöne Frau. Danke für die Blume», hast du geantwortet. Mein Herz brennt. Mir wird heiss und ich würde dich am liebsten aufwecken und schlagen.
Doch ich wecke dich nicht. Ich stehe leise auf, hole meinen Koffer aus dem Schrank und packe ein paar Kleider ein. Dann gehe ich ins Bürozimmer und hole meine drei Lieblingsbücher. Ich gehe langsam durch die Tür und steige ins Tram und dann in den Zug. Ich komme frühmorgens bei meiner Mutter an. Sie öffnet die Tür und wir setzen uns auf das schwarze Ledersofa. Mein Kopf auf ihrem Schoss. Sie streichelt mich so, wie sie mich immer auf diesem Sofa streichelt. Jetzt weine ich. Es ist erst der zehnte des Monats. Ich zahle dir die Hälfte der Miete nicht und geniesse den Gedanken, dass du in finanzielle Schwierigkeiten
Du bist mit deinen Freunden. Du machst Witze und musst dabei so laut sprechen, dass du deine Freunde anschreist. Sie lachen, sie klopfen dir auf den Rücken, so wie das nur Männer machen. So frei hast du dich schon lange nicht mehr gefühlt. Der Kellner bringt euch eure Drinks. In deinem Glas hat es eine Blume. Er sagt, die sei ganz speziell für dich und nickt rüber zur Barkeeperin. Sie trägt Grösse 36, hat dunkelbraune Locken und sieht aus wie eine Kardashian. Einfach ohne OP. Kurz denkst du an mich, fühlst dich schlecht, doch der Moment ist zu verführerisch. Du lächelst sie von Weitem an und zwei Cuba Libres später gehst du an die Bar – alleine. Sie lächelt dich an und sie fragt dich, wie der Drink geschmeckt hat. Du sagst Danke für die Blume. Das sei dir noch nie passiert. Sie lächelt und fragt dich, ob du einen Shot mit ihr nimmst. Natürlich. Ihr trinkt einen Rum pur, weil du dich bei Jägermeister übergeben musst. Du erwähnst nicht, dass du jeden Abend von mir von hinten umarmt werden willst. Dass du mehrmals in der Nacht aufwachst, wenn ich weg bin. Sie fragt dich nach deinem Instagram und sie folgt dir, du folgst ihr zurück und gehst zu deinen Freunden. Sie klopfen dir wieder auf den Rücken. Sie sind neidisch auf dich, für die Aufmerksamkeit dieser Frau in diesem Moment hätten sie alles gegeben. Dann ist es vier Uhr, die Musik geht aus und das Licht an. Bevor du mit deinen Freunden rausgehst, lächelst du ihr nochmals zu, ja, sogar in diesem hellen, scheusslichen Licht sieht sie gut aus. Du winkst ihr zu und sie zeigt mit dem Finger lächelnd auf ihr Handy. Ich höre ein Poltern im Treppenhaus. Du liegst auf den Stufen, ich helfe dir auf und du rennst zur Toilette, obwohl du keinen Jägermeister getrunken hast. Danach torkelst du ins Bett. Bevor du schnarchend einschläfst, sagst du mir lallend, dass du immer nur an mich denken würdest, egal, wie betrunken du seist. Aus deiner Hose, die am Boden liegt, nehme ich dein Handy heraus und gebe den Code ein. Ich klicke auf Instagram und gehe direkt in deine DMs.
gerätst. Danach lebe ich bei meiner Mutter auf dem schwarzen Ledersofa. Ich gehe jeden Tag joggen, esse keine Kohlenhydrate und nehme fünf Kilo ab. Ich trage Grösse 36. Nach zwei Monaten höre ich auf zu weinen. Im Club tanze ich bis vier Uhr, und nun schicken die Barkeeper mir Drinks. Ich sammle wieder Männer wie PaniniBildchen. Die Typen meinen, ich sei 25, und so fühle ich mich auch. Ich mache neue Pläne, arbeite und spare 20 000 Franken. Ein halbes Jahr später ziehe ich nach Rom, hole mein Masterstudium nach.
Mit dir rede ich nie wieder. Du bist am nächsten Morgen aufgewacht, verkatert, und hast gedacht, dass ich dich umarme, dir einen Kräutertee mache und wir danach Sex haben und du mir von deinem lustigen Abend mit den Jungs erzählst. Du hast gedacht, es wird ein gewöhnlicher Sonntag. Stattdessen bin ich ohne Vorwarnung für immer aus deinem Leben verschwunden. Du versuchst mich zu kontaktieren, aber ich habe dich überall blockiert, du versuchst meine Mutter, meine Freundinnen zu erreichen, doch sie sind alle schon informiert. Sie geben deine Nachrichten nicht weiter. Es gibt kein abschliessendes Gespräch. Du sehnst dich dein Leben lang nach einem normalen Abschluss, damit man sich danachwiederin die Augen schauenkann und so. Aber ich komme dir nie wieder unter deine Augen. Ich bin verschwunden, und doch lasse ich mein InstagramProfil öffentlich, damit du mich regelmässig stalken kannst und dich wunderst, was gewesen wäre, wenn. Irgendwann date ich einen gutaussehenden intellektuellen Typen, der dir ähnlich sieht. Er
trägt einen Bart und ist ein sozialer Aufsteiger, darin sind wir uns ähnlich. Er und ich, wir werden ein Power Couple und wir sehen gut aus zusammen und ich poste die ganze Zeit Fotos und Videos von uns.
Du denkst dir, ich sehe besser aus als je zuvor. Und ich denke nie wieder an dich. Ich stelle mir nicht einmal vor, wie ich nach einem schweren Tag mein Gesicht in deinem Bart vergrub, der meine Höhle war, in der ich es liebte, mich zu verstecken. Ich vergesse den Duft deiner TShirts, die du auf der Arbeit trugst und die ich aus dem Wäschekorb fischte, um sie beim Schlafen anzuziehen. Nicht einmal werde ich mich an deine Brust erinnern, auf der ich selbst in den schlimmsten Nächten Schlaf fand.
Ich mache das Licht wieder an. Ich kann nicht schlafen. Der Nebelschwall hat nachgelassen, der Lavendelduft auch. Ich drehe das Handy nochmals um, kurz blendet es mich, bevor ich deinen Namen mit HerzEmoji erkenne. Ich swipe hoch. «Hey Baby. Bin auf dem Heimweg, Kuss.» Ich mache das Licht aus und stelle mir vor, wie ich dein Handy kontrolliere, wenn du zuhause bist.
MIGMAR DOLMA lebt, liest und schreibt in Zürich; unter anderem hat sie Kolumnen für die WOZ geschrieben. Momentan arbeitet sie an ihrem ersten Roman mit dem Arbeitstitel «SANGMO», der Geschichte einer migrantischen Frau, Mutter und Arbeiterin, die sich befreit.
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TEXT AZAD ŞÎMMO
Ich bin bereit, also los
Habe ich den letzten Atemzug etwa für mich reserviert
So lauft denn schnell, lauft, Kinder
Um die vergehenden Tage zu fangen
Vergesst nicht, was ich sage
Wenn einer gehen will
Muss er zuerst die Vögel beobachten
Ach, wie schön ist der sonnige Tag
Ach wie schön, mit den geträumten Träumen zu träumen
Die Liebe zu dir muss mit der Frage nach deinem Namen beginnen
Ohne Vermutungen soll man einander in die Augen schauen
Die Worte sollen aus dem Inneren und spontan hervorquellen
Damit sich die Sprache nicht winden und verbiegen muss
Das Ungesagte soll sich dem Gesagten anfügen
Ach, meine Maiblume
Das Engelsgleiche aller Schmetterlinge
Ich bin wie der Himmel, der jetzt lächeln will
Ich bin wie die Sonne, die dich umhüllen will
Der erste Schritt bringt mich zu dir
Nur mein Herz soll der Lotse auf diesem Weg sein
Der Schnee soll sich schnell mit dem Wasser vermischen
Die Sterne legen Zeugnis ab vom Weltall
Ich vertraue auf die Unschuld der Kinder
Und auf deine geläuterte Liebe
Meine Hände finden ganz sicher
Wofür mein Leben gelebt werden soll
In der unverletzbaren Zartheit deiner Haut
Sei gegrüsst, Beginn der neuen Tage
Sei gegrüsst, du heiligste meiner Sehnsüchte
Sei gegrüsst, mein Körper, der den ersten Schritt tut
Aus dem Türkischen übersetzt von Barbara Yurtdaş. Textauszug aus einem gemeinsamen Lyrikprojekt mit Gianna Olinda Cadonau –einem Epos, das die Autor*innen je aus der Perspektive einer eigenen Figur schreiben.
AZAD ŞÎMMO stammt aus einer kurdischen und alevitischen Familie in der Türkei. Er hat Soziologie an der Inönü-Universität in Malatya studiert und arbeitete als Philosophielehrer an einem Gymnasium. Seit 2015 hat er drei Gedichtbände und einen Roman veröffentlicht.
Da alles, worauf ihre Augen fallen, die absolute Wahrheit ist, steckt sie ihren Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, was draussen vor sich geht. Für sie ist das Draussen nicht nur die Nachbarschaft oder die Strasse. Für sie ist das Draussen buchstäblich alles. Das Draussen ist alles ausserhalb ihres Alphabets.
Er schaut aus dem Fenster. Für ihn ist das Aussen das Draussen in seinem einfachen und klaren Sinn. Es ist die Strasse und das Viertel, zu dem es gehört. Das Draussen ist sein Ort, das Draussen und das Drinnen: alles seins.
Für sie hat alles und jedes einen Sinn, den Sinn, den sie in ihr Verständnis des Lebens legt, und keinen anderen.
Für ihn ist alles in Ordnung, alles ist ok, nichts hat eine Bedeutung über den Namen hinaus, den es trägt. Nur manchmal bricht er aus seiner Ruhe aus – wie ein grosses weisses Gemälde, auf dem plötzlich mittendrin ein einzelner schwarzer Punkt oder farbige Punkte erscheinen … Genau, sonst ist da nichts, woran zu denken sich lohnt. Für ihn.
Sie steckt den Kopf aus dem Fenster und sieht auf der Strasse nicht weit entfernt: ein Polizeiauto, zwei Polizisten, zwei blonde Männer und einen Schwarzen. Die beiden Polizisten reden mit dem Schwarzen und schreiben auf, was er sagt, die beiden Blonden stehen weit entfernt und warten neben dem Auto. In dieser Szene ist die Polizei dem Schwarzen Mann näher als den beiden blonden Männern.
Tausend Dämonen der Wut reiten sie und sie sagt zu sich selbst: «Sogar die Luft, die wir atmen, ist rassistisch. Wenn die Luft selbst uns den Hahn abdrehen könnte, würde sie es tun.» Sie zieht sich an und geht hinaus.
TEXT LUBNA ABOU KHEIR
Er schaut mit dem Kopf aus dem Fenster auf die Strasse und aus seinem Blickwinkel und aus nächster Nähe sieht er: ein Polizeiauto, zwei Polizisten, zwei blonde Männer und einen Schwarzen. Während die beiden Polizisten mit dem Schwarzen sprechen und aufschreiben, was er sagt, stehen die beiden blonden Männer in der Nähe und warten neben dem Polizeiauto. In dieser Szene steht die Polizei mittendrin, nicht in der Nähe von irgendjemandem. Er ist völlig ruhig, diese Szene sagt ihm nichts, ausser dass es ein Problem gibt, an dessen Lösung die Polizei arbeitet. Er zieht sich an und geht hinaus.
2
Sie ist eine sehr Elegante, hat eine bewusst übertriebene Eleganz in allem, in der Sprache, im Verhalten. Ihre Eleganz berührt schon die Eitelkeit. «Ich muss nicht normal sein, ich bin in allem anders. Nichts sollte normal sein, normal ist die Dummheit selbst», sagt sie sich jeden Tag.
Er ist auf gewöhnliche Art elegant, mit Hosen, einem Hemd, einem normalen Mantel und festen Schuhen für alle Jahreszeiten. Alle seine Kleider sind teuer, aber sie sind gewöhnlich. Prunk und Zurschaustellung (Parade) braucht es nicht, denn er gehört einer Gesellschaft an, die materielle Zurschaustellung nicht respektiert: «Es reicht, dass wir zum Fluch des Geldes und des Luxus verdammt sind. Normal ist die beste Lösung. Neutralität in allem ist gut», sagt er sich, wenn er jemanden zum ersten Mal treffen will.
Das Date, auf das sie sich vorbereitet hat, kommt, nachdem sie auf dem Weg zum Café, das zehn Minuten von ihrem Haus entfernt ist, mit dem Geräusch ihrer Schuhe einen unermesslichen Lärm verursacht hat. Die Luft wird durch ihre Bewegung aufgeladener, sie geht selbstbewusst, andere können sie nicht ignorieren, sie geht nicht unbemerkt, und das ist nor
mal, weil sie nicht normal ist. Sie ist überrascht von der Pracht des Cafés.
Er kommt leise im Café an, sein Weg dauert zehn Minuten, er kommt an und sitzt normal, es gibt nichts zu erwähnen.
3
Sie zeigt mit dem Finger auf ihn: «Du, ähh …»
Er: «Ja …» Er erhebt sich und bedeutet ihr mit seiner Hand, sich zu setzen: «Bitte!»
Sie: «Es ist heiss, obwohl es November ist.»
Er: «Nicht heiss, aber mild. Es sollte längst kalt sein.»
Sie: «Mir ist heiss, also ist es heiss.»
Er: «Heiss ist ein Wort für den Sommer, nicht für den Winter.»
Sie: «Das ist nicht wichtig. Formen sind nicht wichtig. Wichtiger ist das Gefühl, mein Gefühl bestimmt, was ich zu sagen habe. Mild ist kein schönes Wort, ‹mild … meh›. Ich rede nicht gerne wie ein Roboter, Prinzip UrsacheWirkung, sehr langweilig … sehr. Der Winter ist heiss.»
Er: «Dieser Winter ist heiss. Sei genauer, damit jeder, der dich hört, versteht, was du meinst! Hallo.»
Sie: «Hallo.»
Er: «Sollen wir Kaffee bestellen?»
Sie: «Nein … Das ist normal.»
Er: «Was ist normal?»
Sie: «Kaffeetrinken ist normal.»
Er: «Du meinst gewöhnlich … Du meinst normalerweise.»
Sie: «Ich meine nicht, dass es gewöhnlich ist, Kaffeetrinken ist normal, und normal ist sehr langweilig.»
Er: «Wie lange lebst du schon in dieser Stadt?»
Sie: «Was hat das mit Kaffee zu tun?»
Er: «Gut. Vielleicht können wir jetzt weitersprechen?»
Sie: «Was denn? Wir haben noch nicht einmal angefangen, bis jetzt ist alles normal.»
Er: «Der logische Ablauf des Gesprächs. Das Konzept ist jetzt besser.»
Sie: «Das ist die Langeweile von Ursache und Wirkung, von der ich gesprochen habe.»
Er: «Mmm, gut … Du magst also den Stuhl, wie ich verstanden habe.»
Sie: «Ja, der gefällt mir, also bin ich zu dir gekommen.»
Er: «Welche Beziehung habe ich zu dem Stuhl? Wenn dir der Stuhl gefällt, warum bist du dann zu mir gekommen?»
Sie: «Du hast ihn zum Verkauf angeboten.»
Er: «Du hättest ihn bestellen können.»
Sie: «Ich suche die Kommunikation genau wie du.»
Er: «Vielleicht. Kaffee ist also nicht nötig.»
Sie: «Was hat dich an dem Wort Kommunikation gestört? Oder hat dich gestört, dass du bist wie ich?»
Er: «Mir hat es nicht gefallen und nichts hat mich gestört, ich möchte keinen Kaffee, ich möchte mich mit dir über den Stuhl einigen und dann möchte ich gehen.»
Sie: «Aber du hast ihn über eine SocialMediaPlattform zum Verkauf angeboten.»
Er: «Ich respektiere, dass du Gedanken lesen kannst, aber du liest sie eben falsch.»
Sie: «Es gibt keine feste Norm für richtig und falsch.»
Er: «Letzte Frage: Wie lange lebst du schon hier?»
Sie: «Ja, ich möchte Kaffee trinken.»
Er: «Du kamst vor Kurzem, Fremde taumeln … ein ständiger Versuch, sich in allem zu beweisen, grelles Verhalten.»
Kein Kommentar.
(fragt nach Kaffee)
Er: «Geniessen Sie Ihre Zeit … Tschüss.»
Leise verlässt er das Café. Das Polizeiauto mit den beiden blonden Männern darin fährt leise vorbei, der Schwarze betritt leise das Café, nickt ihr zu und setzt sich neben sie an einen Tisch und sagt, nachdem er seinen Mantel ausgezogen hat: «Dieser Winter ist seltsam und heiss.» Dann atmet er tief.
LUBNA ABOU KHEIR studierte Dramatisches Schreiben an der Universität von Damaskus. Seit 2016 lebt sie als Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin in Zürich. Als Theaterautorin debütierte sie in der Schweiz mit dem Stück «Damaszener Café» im Theater Tuchlaube in Aarau.
Besonders ab der nächsten Seite.
TEXT SHUKRI AL RAYYAN
Schliesslich musste Dschawad das Café verlassen und sich auf den Weg nach Hause machen. Er ging die gesamte Strecke von AltDamaskus bis Rukn adDin zu Fuss, ohne zu bemerken, dass fast niemand mehr auf der Strasse war. Sogar die alten Gassen von Damaskus, in denen sonst bis spät in die Nacht reges Treiben herrschte, waren fast leer, und es herrschte eine Stille, die Dschawad in diesem Moment sehr recht kam. Bevor er Lamis kennenlernte, gehörte er nicht zu denen, die gern durch das alte Damaskus schlenderten. Er hatte sich immer über die lustig gemacht, die in diese alten Gassen gingen, um eines der vielen Cafés oder Restaurants zu besuchen. In seinen Augen wollten diese Leute einfach nur gesehen werden. Warum sollte er so einen weiten Weg zurücklegen, nur um in einem Café in Bab Tuma oder einem ähnlichen Viertel zu sitzen, wenn es doch im nahen Stadtzentrum oder gar in seinem eigenen Viertel ebenfalls Cafés gab? Er konnte die Magie des Ortes nicht geniessen, sein Leben war von ganz anderen Dingen bestimmt. Natürlich gab es auch Momente, in denen er das Gefühl hatte, aus seinem armseligen Leben ausbrechen zu wollen, aber das war in seiner Vorstellung mit einem Ereignis oder einer Person verbunden. Der Ort selbst bedeutete ihm nichts. Das alte Damaskus, diese Stadt mit all ihrem Charme und ihrer Erhabenheit, die sie wie eine unwiderstehliche Frau über Jahrhunderte der Verführung erworben hatte, mit all ihrem Glanz, ihrer Geschichte und überwältigenden Präsenz, bedeutete ihm deshalb nichts, bis er Lamis kennenlernte.
Für Lamis war es ein tägliches Ritual, dort umherzuschlendern, und das wurde es nun auch für Dschawad. Sie liefen zuerst zum Platz vor der UmayyadenMoschee und bogen dann vom Haupttor kommend rechts in die Gasse hinter der Moschee ein, in der sich Geschäfte für Schmuck und Accessoires befanden. Hier schien Lamis, die schon immer für alles schwärmte, was glänzte und glitzerte, ganz in ihrem Element zu sein. Wie einem Zauber folgte sie allem, was diese Leidenschaft entfachte. Das konnte eine Halskette im Schaufenster oder in einer vergessenen Schublade in einem Geschäft sein, dessen Besitzer sie kannte – gab es überhaupt einen Ladenbesitzer in dieser Gegend, den sie nicht kannte? Sie nahm sie in die Hand, betrachtete sie und liess ihre Finger über sie gleiten, dann streckte sie Dschawad die Kette entgegen, als hätte sie gerade einen Schatz entdeckt. Er jedoch sah nicht die Halskette, sondern nur das Funkeln in ihren
Augen. So musste Archimedes gestrahlt haben, als er nackt aus dem Bad stieg, weil er soeben das Geheimnis des Auftriebs in allen Fluiden entdeckt hatte. Oder sie bewegte einen Ring in ihrer Hand in einer Weise hin und her, dass König Salomo bei ihrem Anblick all seine Ringe auf den Boden geworfen hätte und zu ihr gelaufen wäre. Sie berührte ihn, ohne auf all die Dschinn zu achten, die erschrocken aus ihm stiegen. Sie begriffen, dass ihre Zauberkräfte angesichts dieser Zärtlichkeit, die dem Ring eine seit Beginn der Schöpfung nie dagewesene Magie verlieh, lächerlich waren. Und erst ihre Schritte! Sie berührte kaum den Boden, während sie vor ihm her von einem Schatz zum nächsten ging.
Sie wurde nicht müde, durch stets dieselben Geschäfte zu gehen, um fast dieselben Waren zu sehen, die eine völlig neue Bedeutung bekamen, sobald sie sie berührte. Immer wieder lief er mit ihr atemlos durch dieselben Viertel und liess sich auf neue Abenteuer ein. Wenn er auf ihrer täglichen Reise durch ihr Königreich hinter ihr ging, sah er nicht nur ihren schlanken Körper oder ihr Haar, das wie ein Wasserfall herabfiel, sondern auch ihre Seele, die sich kaum, dass sie auf einen würdigen Thron gesetzt wurde, in die Lüfte erhob. Das alte Damaskus war ein Ort, der allein für Lamis geschaffen worden war. Oder genauer gesagt: Sie erschuf bei jedem ihrer Besuche das alte Damaskus von Neuem. Diese Frau, die sich den Weg zu ihrem Zahnarzt nicht merken konnte und Dschawad beim ersten Besuch, bei dem er sie begleitete, gebeten hatte, den Ort der Praxis zu memorieren, damit sie sich beim nächsten Mal nicht verliefe, gelangte im alten Damaskus mit seinen verwinkelten Gassen, das von den Anwohnern als der Ort, «an dem der Affe sein Kind verlor», bezeichnet wurde, wie durch ein Zauberwort an das Ziel, das ihr vorschwebte.
Der Text ist ein Auszug aus dem Roman «Nacht in Damaskus», edition bücherlese 2024. Aus dem Arabischen übersetzt von Kerstin Wilsch.
SHUKRI AL RAYYAN wurde 1962 in Damaskus geboren. Er verbrachte den grössten Teil seines Lebens unter der Herrschaft der AssadDynastie. Er arbeitete als Autor und Drehbuchautor und als Fernsehproduzent.
TEXT ILIA VASELLA
Wolkenlos blau steht der Himmel, stehen Sekunden still, es verstummt das Summen der Hummeln und Bienen und Fliegen, das Bewegen der Flügel und Blätter. Maries Gesicht liegt weiss, weiss und etwas zerknittert auf den Steinplatten, wie absichtlich hingelegt, im hellen Licht des sommerlichen Morgens. Dorothea, die beim Frühstück auf der Bank sitzt, denkt unwillkürlich an eine Fotografie mit übersteuerten Farben. Aus Franz kommt ein trockener Laut, ein erschrecktes Lufteinziehen und ein Atemanhalten. Später kann er sich auch mit grösster Anstrengung nicht erinnern, wie und wo er die Kaffeekanne abgestellt hat. Später wird der Anblick von Marie in seiner Erinnerung verschwimmen, nicht aber das Gefühl, aus der Zeit gehoben zu werden. Dorothea fasst ihre Tochter am Arm, drückt sie zurück auf die Bank, als sie mit dem Butterbrot in der Hand zu Marie laufen will, Stephan nimmt Franz die Kaffeekanne aus der Hand, ein Vogel zwitschert, flattert. Marie liegt bewegungslos, die Locken wirr, ein Bein weit gestreckt, ein Bein angewinkelt unter ihrem Körper. Franz geht neben Marie auf die Knie, ein Arzt, schnell, seine Stimme flirrt. Franz legt die Hände an Maries Schläfen, bedeckt mit den Fingern ihre geschlossenen Lider. Dorothea hat ihre beiden Kinder an sich gezogen, sie sitzt wie versteinert, die Kinder starren auf den reglosen Körper, über den Tisch hinweg, in der Umklammerung ihrer Mutter. Stephan steht gelähmt, die Kanne in der Hand. Franz legt den Kopf auf Maries Brust, nimmt ihre Hand in die seine, hektisch, hektisch und abwesend zugleich, drückt sie, versucht den Puls zu fühlen, legt seine Wange an die ihre, Marie, Marie, Marie. Leise, eindringlich, flüsternd, panisch, streicht ihr mit der flachen Hand übers Gesicht, über die Brauen, den Mund, so wie er es tut, wie er es immer tut, wenn sie aufgeregt ist.
In den Sommermonaten summt und surrt das Haus an allen Ecken und Enden, die Schwellen zwischen dem rissigen Gips der Zimmerwände und dem dickwandigen Grün der Umgebung lösen sich in den Geräuschen auf. Spielzeuggefährte rollen durch den Gang zur Terrasse und Stimmen schwirren auf und ab, denn die Mauern sind dick und aus Stein, aber die Böden voller Ritzen, durch welche man da und dort in die unteren Zimmer blicken kann. Das Haus mit dem grünen Herzen saugt Menschen auf und spuckt sie am Tag ihrer Abreise wieder aus, auf dem Landweg, den Gebüschen und Bäumen entlang fahren sie zum Zug, ins Dorf, zur Autobahn. Beinahe täglich wird durch die Gänge ein neues Netz gewoben, in den Knoten verfangen sich Kinder. Die Kinder springen an einem hoch, wenn sie eine Weile im Haus verbringen, und bilden ihr eigenes verwickeltes Geflecht, sie sind von Statur kleiner und halten den Winden gleichmütiger stand. Der Wind kommt unerwartet und zerrt an den Nerven der Gäste, er lässt Fenster und Türen zu
schlagen im Haus auf der Hügelkuppe, in der Nacht fährt er in die Bäume, so dass ein Rauschen in den Schlaf dringt wie von Regen. Eigentlich ist das Haus ein Schloss.
Franz sitzt neben Odile auf dem Rücksitz des klimatisierten Wagens, hinter dem Mann des Bestattungsinstituts, der mit hohem Tempo über die Schnellstrasse fährt, auf die Provinzhauptstadt zu; niemand spricht, nur knappe technische Fragen lassen die Umstände zu, draussen rauscht die Landschaft vorbei, schwerelos und traumartig, gelbgebrannte Weiden, von Platanen gesäumte Kieswege, die zu unsichtbaren Herrenhäusern führen, lange Metallarme sprenkeln Wasser in die Maisfelder, die Hitze ist durch die getönten Scheiben greifbar. Kornsilos, billig und schnell gebaute Industriebaracken aus Wellblech fliegen vorbei, dann wieder Feld an Feld, die Stille im Wagen eine undurchdringliche Masse. 48 Stunden haben sie Zeit, um Marie über die Grenze zu bringen, 48 Stunden nach dem festgestellten Tod muss Maries lebloser Körper das Land verlassen haben, um aufgebahrt bleiben zu dürfen, um nicht endgültig in einem Sarg verschlossen zu werden. Ein Wagen wird Marie abholen, in den frühen Morgenstunden wird er losfahren, er wird die Landesgrenze rechtzeitig erreichen, Franz kann nicht mitfahren, niemand darf mitfahren, der Transport ist eine amtliche Handlung.
Von der Terrasse mit Blick gegen Süden, das lange Band der Berggipfel und Hügelketten beschreibt Stufen von Blau, führen zu beiden Seiten ausladende Treppen in den Garten. Die Steinplatten sind verfärbt von Flechten und der Witterung, stellenweise zerbrochen und bei Nässe spiegelglatt. In Tontöpfen wachsen winzige rotgeränderte Blumen und fettblättrige Kakteen, in einem Blechzuber schwimmen Seerosen, eine Kletterrose erreicht das Geländer, versprüht das Leuchten ihrer Blüten. Das Blätterdach der Platane begrenzt auf der einen, ein Saum aus Feigensträuchern und die majestätische Linde auf der anderen Seite die gezackte Linie der Berge. In den hohen Räumen im Erdgeschoss bleibt es kühl und das ganze Jahr über feucht, die wuchtigen Fenster bieten wenig Schutz gegen die Wetterlagen. Davon wissen die Gäste wenig, die im Sommer mit ihren Strandmatten und dicken Büchern das Haus bevölkern, und es würde sie auch nicht weiter beschäftigen. Sie geniessen die Kühle, die aus den Mauern dringt, wenn sie von der bleischweren Hitze in die dämmrigen Gänge flüchten und für einen kurzen Moment blind sind.
Trotz der noch nassen Badehose unter den Shorts schwitzt Stephan, als er über den weitläufigen Parkplatz eilt, eine betonierte Fläche, umgeben von Landschaft, Feldern und bewaldeten
Hügeln, auf dem Asphalt ein Netz weisser Linien, die Parkplätze markieren, Fahrtrichtungen, nur wenige Wagen stehen verloren und wie in einer Spielzeuglandschaft; raschen Schrittes geht Stephan auf die Drehtür des Supermarkts zu. Am Stausee haben die Kinder genüsslich Pommes und Chips verspeist, Mauro sogar ein Steak, Stephan war angewidert vom Fett auf den Tellern und den speckigen Tischtüchern, die Eisbecher mit den bunten Schokostücken waren ausgegangen; nun stürmen die Kinder, gefolgt von einem schlendernden Nick, an Senfgläsern und Biskuitpackungen vorbei auf der Suche nach den Kühltruhen. Franz und Marie hätten heute gekocht, Franz nach seinem und Maries Vorhaben zu fragen, war unmöglich; aber vielleicht würde es Franz guttun, wagt Stephan zu vermuten, sich alltägliche Überlegungen zu machen, nur eine kleine Ablenkung, das geplante Menü zu kochen, wir würden alle helfen. Stephan hat wenig Lust, die Verantwortung fürs Abendessen zu übernehmen, der Ärger über das angeschwemmte Unglück in seinen gezählten Ferientagen verzwirbelt sich mit etwas, das er nicht benennen kann, Mitleid, oder ist es Pflichtgefühl. Mauro schüttelt den Kopf, das Unverständnis ist in seinem Gesicht zu lesen, Trauernde können nicht kochen. Meine Oma hat das gesagt, beantwortet er Stephans Stirnrunzeln, mindestens eine Woche lang, sie können nicht, sie sind Schwerkranke, in ihren Hirnwindungen ist kein Platz; am gleichen Tag, für so viele Leute, eine sichtbare Falte der Missbilligung bildet sich nun zwischen Mauros Augenbrauen. Wir haben das Naheliegendste aus den Augen verloren, beim Sterben ganz besonders, und sie hatte recht. Essen müssen wir trotzdem. Übergangslos beginnt Mauro aufzuzählen, überhört Stephans kleinlautes Ich dachte nur, Mauro zählt, vier Kinder, wir drei Eltern, Franz, Odile. Und Nick, wirft Stephan ein, Mauros Nachlässigkeit gibt ihm wieder Rückgrat. Fünf, mit Nick sechs Erwachsene und vier Kinder, fährt Mauro ungerührt fort, er stockt, was kochen wir eigentlich. Stephan schiebt den Wagen, sein Ärger ist einer feinen Scham gewichen, sie haben sich für ein vegetarisches Menü entschieden, Fleisch ist unpassend, darüber herrscht wortloses Einverständnis, Mauro kalkuliert die Mengen, klopft ihm kumpelhaft auf den Rücken. Stephan mustert die Theken mit den Frischprodukten, Fleisch, Käse, wirft entschieden fünf Packungen geriebenen Parmesan in den Wagen, über dem Eisbett, auf dem die Fische ausliegen, zwischen steifem Plastikgrün, kräuselt sich die kalte Luft. Die Kinder stieben durch die Regalreihen, ernten das nachsichtige Lächeln alter Paare in Hausschuhen, die unwirschen Blicke von Ferienvätern mit vollgepackten Einkaufswagen; Nick folgt ihnen, gelangweilt, belustigt, ich kriege zwei, gross wie ich bin, die vier protestieren, unsicher, ob er es ernst meint, endlich entdecken sie die Kühltruhen und greifen gierig nach den gesuchten Glacebechern. Der Nachmittag überfällt die Gruppe wie ein Polster aus warmer Luft, als sie ins Auto steigen und aus dem leergefegten Dorf fahren. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen, Stephan geht vom Gas, während er es sagt, ein Mähdrescher kommt ihnen entgegen, sie werden an der Engstelle kreuzen, der feine Staub des geernteten Weizens bleibt einen Moment lang hinter dem Fahrzeug in der Luft stehen. Dann ist das vielleicht die Gelegenheit, sagt Mauro leise, als sie in die Hügel hineinfahren und auf der Strasse ein Streifen flimmert, als wäre da eine Wasserlache. Ich habe, meldet sich Mauros Sohn von der Rückbank, in echt, schon zwei tote Mäuse gesehen, eine Amsel, nicht wahr, das stimmt, Mauro, du warst dabei, und neun tote Eidechsen.
Odile steht da, steht da und lauscht, zum ersten Mal an diesem Tag schleicht sich eine Lücke in die Bestimmtheit ihrer Schritte und Handgriffe. Das Haus klingt wie jeden Abend, Odile überlässt sich ganz ihrem Gehör, wie jeden Abend im Sommer, wenn die Hitze nachlässt, ihr enger Griff sich langsam löst und den Bewegungen wieder Spiel gibt. Zunehmende Betriebsamkeit füllt die hohen Räume, die Küche, dringt in abgelegene Winkel und durch die Flure, Geräusche, Stimmen, die erraten lassen, was sich vorbereitet, das Fest, das tägliche kleine Fest, Schüsseln und klirrendes Besteck, Duschen rauschen, ein erstes Bier, Musik. So schnell, denkt Odile, so schnell wird die Katastrophe überwuchert, wie eine Klette, die umwickelt, durchwächst, verdrängt. Der Ton, mittendrin, ist ein Ton, ein summender Draht, ganz tief oder ganz schrill, der durch alle Körper schwingt, nicht stört, aber bleibt, starrköpfig, Odile jedenfalls hört ihn.
Ich konnte nicht weinen, ich kann nicht, ich bin wie ein Stein. Franz geht ins Zimmer nebenan, Odile folgt ihm, sieht ihm zu, wie er Bücher hochhebt, in die Taschen herumliegender Hosen greift, mechanisch, als wären sie ihm fremd, die Kleider, die Gegenstände, in Maries Badetasche findet er Papiertaschentücher in einer Plastikhülle. Du stehst unter Schock, sagt Odile, komm, lass uns ein bisschen bei ihr sitzen, meinst du, wir bekommen ein Glas Weisswein, das brauche ich jetzt. Und sollen wir nicht etwas Luft hereinlassen. Ich glaube, sagt Franz, sie dachten, die Sonne, eher die Hitze, ihr Äusseres, er sucht nach Worten, es könnte schneller gehen, dass es, zerfällt. Ach was, weit öffnet Odile einen Flügel des einen und dann des anderen Fensters, etwas frische Luft, nur für ein paar Minuten, so schnell geht das nicht. Als Franz kurz darauf mit einem Tablett, zwei Gläsern und einem Schälchen darauf, zurückkommt, hat Odile auch den einen Fensterladen geöffnet, so weit, dass ein Luftzug ins Zimmer weht und den Stoff bewegt, der Maries Liege bedeckt, über den Boden streichen lässt, und ein heller Streifen Licht Maries nackte Füsse ausschneidet, ihre Fesseln und den Saum der Hose in einen Rahmen stellt, blendend, zudringlich. Franz ist mit wenigen Schritten am Fenster, das Tablett hat er Odile in die Hand gedrückt, lehnt sich hinaus und schwenkt den Fensterladen hin und her, prüfend, bis das Licht von Marie ablässt.
Der Text besteht aus Auszügen aus dem Roman «Windstill», Dörlemann Verlag, 2021.
ILIA VASELLA ist Autorin, Dozentin, Grafikerin und singt im Duo Ella Hain. Sie unterrichtet im Jugend- und Literaturlabor JULL und an der F+F Schule für Kunst und Design, wo sie 2007 bis 2023 den Studiengang Visuelle Gestaltung geleitet und die Jugendkurse aufgebaut hat. 2021 erhielt sie für «Windstill» eine Auszeichnung der Stadt Zürich. Sie schreibt an einem zweiten Roman.
TEXT AZIZULLAH IMA
Die Festungen der Macht haben massive Schlösser und Tore, die seit je auf Kosten von Menschenleben geöffnet und geschlossen werden. Ich traue der Geometrie der Tyrannei nicht, nicht den Gehirnen, mit schweren Antworten gewaschen und für die Ewigkeit. Ich mag die schlichten Häuser der Freundlichkeit mit Gedankenzimmern, deren Fenster offen stehen zu neuen Horizonten.
Übersetzt aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß. Das Gedicht stammt aus dem Band «Morgengrauengewässer. Ein Gespräch in literarischen Miniaturen» von Azizullah Ima und Andreas Neeser (Rotpunktverlag, erscheint September 2025).
AZIZULLAH IMA erlangte 1987 sein Lizenziat von der Pädagogischen Universität Kabul. In Afghanistan und in Europa wurden mehrere seiner Gedichtbände auf Persisch gedruckt und veröffentlicht, ebenso sein Roman «Shengari» und eine Sammlung von Kurzgeschichten. 2011 publizierte die PEN-Organisation in Kabul seinen Roman «Die neunundneunzigste Frau».
TEXT JOHANNA LIER
Das hochgelegene, hügelige Gelände bietet Sicherheit vor Felsstürzen und Murgängen.
An den in einiger Entfernung liegenden Bergflanken fahren Windböen in die Bäume, die sich beidseitig die Hänge hochziehen bis 2400 Meter.
Da. Wo sie ist. Steht Hitze. Sonne. Still.
Bells Schritte erzeugen einen gedämpften Ton auf dem weichen Untergrund.
Jeder Baum. Dieselbe Farbe. Tiefgrün.
Nur im Licht, das durch das Gehölz dringt, beginnen die Nadelbüsche zu glänzen. Zwirbelzedern.
Je näher die Bäume, umso heller und lichter steht der Wald. Schaut Bell jedoch in die Weite, verdichtet und schwärzt er sich ein.
Die Bäume sind schmal, aufschiessend, kugelförmig, gespalten, zerrupft, verschlungen, gebeugt, licht, wirr, ausladend, verdrängend, angepasst, krumm, von der Krone bis zur Wurzel benadelt, kahl, schwach, biegsam, stark, knorrig, stolz, unbeweglich, launisch, üppig, nachgiebig, harzig, feucht, brüchig, saftig, kupplig, flächig, löchrig ...
Bells Füsse suchen Halt. Stösst sie gegen eine Wurzel oder einen Stein, verlagert sie das Gleichgewicht und setzt die Wanderung fort.
Der Kopf ist jedoch in Bewegung – um nichts zu übersehen, die Landschaft als Ganzes zu begreifen. Im Blick das Weiss, das Grün, das Braun – Verfärbungen auf der Netzhaut.
Sie überlässt die Arbeit des Gehens ihrem Nervensystem. Muss weiter nichts tun. Fühlt sich leer. Und leicht. Wie jedesmal, wenn sie aufbricht und ziellos durch die Landschaft streift.
Summt vor sich hin und ihre Lippen bilden Worte ... You’re walking ... And you don’t realize it ... But you’re always falling ... With each step, you fall forward slightly ... And then catch yourself from falling ...
Laurie Andersons Song, den sie sich in der Nacht zuvor angehört hat ... Immer wieder ... Catching yourself from falling ...
Sie bleibt stehen. Hochaufgerichtet. Den Rucksack über die rechte Schulter gehängt. Die Schulterblätter hinten am Brustkorb angelegt. Die Hände in den Taschen ihrer Jeans.
Zedernmeer.
Dieser wildgewachsene Zedernhain erinnert an die Ufer des Mittelmeers.
Sie zieht die Füsse aus den Schuhen.
Geht weiter. Barfuss. Den Blick auf den Weg geheftet. Der Boden ist warm, bucklig, spitze Steine, weiche Erde, sie schwingt die Hände, mit denen sie die Schuhe hält.
Manchmal. Eine Zehe am Stein. Verdammt!
Der Weg führt durch den Bestand junger Zedern. Dazwischen einige uralte, hochaufragende Bäume, die aus dem Nadelbereich der Jungbäume herauswachsen und ihre Gestalten über den Köpfen der Kleinen entfalten.
Leuchttürme. Wachtürme.
Elterntürme.
Die Mehrheit fügt sich jedoch dem Mittelwert und bildet eine unruhige Oberfläche.
Licht fällt auf das Bett.
Bell spürt die Kuhle, die sie während der letzten Wochen in die weiche Matratze gegraben hat.
Das Laken ist frisch. Die Wolldecke strömt einen leichten Rauchgeruch aus.
Sie schlägt die Decke zurück, setzt sich auf die Bettkante und entdeckt neue, rote Schwellungen. Sie breiten sich auf den Rippen aus und bilden entzündete Felder.
Schliesst die Augen. Atmet tief ein und aus und versucht, die aufsteigende Panik zu bekämpfen.
Wirft das dunkelgrüne Wolltuch über die Schultern, läuft barfuss durch den Korridor und schliesst sich im Bad ein.
Die Dusche aufdrehen und sich mit dem Gesicht gegen den Duschkopf unters Wasser stellen.
Das Haar über den Augen und im Mund.
Hände zwischen den Beinen, Finger in der Vulva schnell und geübt bewegen: alles – nur nicht kratzen!
Dreht die Temperatur auf 34° runter. Waschöl auf die Haut und in jede Falte einreiben. Mit dem Wasserstrahl den öligen Abfall wegspülen.
Schaut sich im Spiegel an und tupft mit dem Frottiertuch Wasser von der Haut – die Fingernägel in die Haut wühlen, die Schwellungen verletzen, die Pusteln von Krusten und Flüssigkeit befreien, Striemen aus Nagelspuren über die Entzündungsfelder ziehen.
Kurzer Moment der Erleichterung.
Öffnet das Fenster. Bäume am gegenüberliegenden Flussufer, Kronen gebeugt, Blätter zerzaust.
Sie zieht die kühle Luft tief in die Lunge.
Und erstarrt.
Den Kopf erhoben. Die Lippen aufeinandergepresst.
Die Handflächen auf der schlagenden Herzseite.
Die Füsse auf den Fliesen.
Die Bäume, die Felsen, das Bergmassiv. Himmel.
Ihr Bewusstsein folgt unwillkürlich dem Irrlauf der Geräusche.
Der Baby Audre Augenblick.
Das kräftige, krause Haar ihrer Tochter. Der dunkle Hautton. Die rundliche Gestalt. Der herausfordernde Blick. Die geschwungene Oberlippe, die sich über der dünnen Unterlippe wölbt. Die bunten Blusen und Pullover, die weit geschnittenen Hosen und die Tücher.
Den fülligen Körper hast du von Julius bekommen, flüstert Bell, die formvollendete Brust von Sylvia, die kleinen Hände und Füsse von Johann, deinem Vater, die extravagante Anziehungskraft von Leopold.
Das schmale Gesicht, die hochmütige Kopfhaltung, die resolute Verletzlichkeit hast du von mir.
Alles an mir ist lang. Aber ich bin grob. Eine grobknochige Person. Du hingegen bist schmal und rund zugleich, ein Wechselspiel von Ausdehnung und Verdichtung; du bist fein – du bist vollkommen fein.
Ich kann dich nur im Raster unserer Familie erkennen, die ich seit vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe. Wer bist du jedoch ausserhalb meiner Erinnerungen?
Wer bist du. Wenn du.
Nur. Du bist.
Ich weiss ja nicht mal, wer du bist, antwortet ihre Tochter.
Schaut sie an. Aus den Bildern.
Die Leopold ihr schickt.
Obwohl sie ihn gebeten hat. Es nicht zu tun.
Ich brauche das nicht. Hat sie ihm geschrieben. Ich brauche diese Art von sentimentaler Selbsttäuschung nicht.
Und er zurück: Wie willst du ohne sie leben?
Eine Maus huscht über das Fensterbrett. Verschwindet in einer Spalte zwischen Rahmen und Fassade. Bell gibt sich einen Ruck.
Schliesst das Fenster. Bewegen. Einfach.
In Bewegung. Bleiben.
Der Text ist ein Auszug aus dem Roman «Zedern. Und Meer», Verlag Die Brotsuppe, 2024.
JOHANNA LIER ist Schriftstellerin und setzt sich als Aktivistin an den europäischen Aussengrenzen für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Neben «Zedern. Und Meer» sind im Verlag Die Brotsuppe «Amori. Die Inseln» (2019) und «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» (2016) erschienen. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet.
TEXT DOMINIC OPPLIGER UND VINCENT GLANZMANN
D Sunne isch tüüf am Himmel gschtande knapp über de Hügelzüüg churz vorem Undergaa
Wi a jedem andere Abig Wi wänn nüt wär
Wi wänn de Moh immer no da wär bi mir
und nöd verschwunde und scho sit Schtunde wi vom Erdbode verschluckt
Alles hät genau so usgsee wi immer
Wulche händ sich i dünne Fätze flach über de Horizont zoge
Wulcheschtriäme zerfätzt durschtoche vo de letschte Sunneschtraale vom Tag
wi vo Mässer vo Schwerter
De ganz Himmel hät glüüchtet i Farbe so grell dass es bländet hät
De ganz Himmel hät glüüchtet i Farbe wo mir kei Näme defür händ
Kei Näme für d Farbe mir händ kei Näme für d Farbe
Aber de ganz Himmel hät glüüchtet i dere einte Farb wo mir nöd wüssed wi si heisst
Diä Farb wo s di Frucht git
Di Frucht wo eigentlich heisst wi di Farb und sälber au di Farb hät
Sone rundi rund wi en Ball
mit ere Huut wo glichzitig weich und hert isch aber nöd fein zum Ässe
Me muss di Frucht schäle inne isch si süess und saftig
D Huut usse aber isch fescht und glänzig mit chline Högerli chlini rundi Högerli
Sone Huut wi si de Tok uf sine Bagge hät
Döt uf sine Bagge wo Bibeli wachsed
dicht versammlet groossi und chlini
Sini ganze Bagge voll mit glänzige Bibelihöger
De Tok seit das segi ganz normal das heged alli Teenager und ich chämi so Bibeli sicher au bald über
Das weiss er useme Heftli woner irgendwo im Wald imene alte Plastigsack gfunde hät
Es hebi mal so Tübli und Crèmeli gä gäge so Bibeli
Aber vo ois hät niämer Tübli oder Crèmeli gha und villicht muss er drum fascht pauselos a dene Bibeli umedrucke
und luegt sich nacher immer sini Finger a und schmöckt dra
bevor er si dänn a sinere Hose oder amene Blatt oder am Gras abschtriicht
und immer so tuet als wär nüt als wür er gar nüt abschtriiche
Mir isch das glich well das Abschtriiche ghört zum Tok wi sin Chruselchopf oder de Fluum uf sine Oberlippe oder sis lislige Schnarchle i de Nacht oder dass er am Morge usem Muul schmöckt
oder dass er i de Nacht immer uf mini Matratze übererollt und ich wäg imm am Morge immer wider oni Decki ufem herte Bode ufwach
oder dass er überall de Erscht muss si und immer lüüter muss rede als alli andere und sowiso alles immer besser weiss und immer überall umezablet
und mir immer vill z fescht uf de Rugge haut so dass s mer fascht wee tuet au wänn er s eigentlich lieb meint
Das alles ghört genauso zu imm wi di glänzigi Bibelihuut uf sine Bagge
wo ebe ganz änlich isch wi di Huut vo dere Frucht woni ebe nöd weiss wi si heisst wo aber schiins de glichi Name hät wi di Farb wo immer wänn d Sunne undergaat am Horizont über de ganzi Himmel lüüchtet
Reiche dein Projekt ein:
und alles in es Liächt tunkt wo d Wise schön macht und d Boim laat la lüüchte
und di verbogene Gleis wo sich zwüsche einzelne Hüser und Hüserruine de Hang durab zum Flusslauf is Tal abe schlängled
Alles lüüchtet alles schön i dem Liächt
Alli Mänsche alli Tier
i dem Liächt woni nöd weiss wi mer dere Farb seit
Der Text ist ein Auszug aus dem Jugendroman «Helsinki» (Der gesunde Menschenversand, 2025), in dem sich drei Jugendliche auf die Suche nach ihrem entlaufenen Kater Moh machen.
DOMINIC OPPLIGER (*1983) ist Autor und Musiker. Sein Mundartroman «giftland» wurde 2024 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. VINCENT GLANZMANN (*1983) ist Schlagzeuger und Künstler. Vor Kurzem erschien sein Art Score Book über das Schlagzeugsolo «—<°>^.°-s-^» bei cpress.
Ausschreibung
Vom 23. Juni bis 31. Oktober 2025
Gefördert werden Projekte und Angebote mit 2’000 bis 10’000 Franken, die digitale Kompetenzen von finanziell benachteiligten Menschen jeden Alters stärken.
TEXT URS HABEGGER
Ein Eichhörnchen und eine Schnecke machen zusammen einen Waldspaziergang. Das Eichhörnchen vermag das Tempo der Schnecke kaum mitzugehen. Nicht, weil die Schnecke so schnell wäre. Ganz im Gegenteil, weil sie so langsam ist.
«Kannst du nicht ein bisschen schneller», fragt das Eichhörnchen die Schnecke genervt.
«Ich mach doch schon so schnell ich kann», keucht die Schnecke ausser Atem.
«Soll ich dich ein bisschen schieben», witzelt das Eichhörnchen.
«Du hast gut reden», stöhnt die Schnecke, «du musst ja nicht dauernd ein Haus mit dir rumschleppen.»
«Warum schleppst du auch dauernd dein Haus mit dir rum?», fragt das Eichhörnchen neugierig.
«Ich habe immerhin ein Haus, ich bin eben kultiviert», sagt die Schnecke, «du hast kein Haus.»
«Willst du damit sagen, ich bin nicht kultiviert?», fragt das Eichhörnchen entrüstet.
«Na ja, du wohnst in einem Baum», antwortet die Schnecke.
«Na und», wehrt sich das Eichhörnchen, «ich wohne eben rustikal, und rustikal wohnen ist in.»
«Ich hab’s doch gar nicht so gemeint», beschwichtigt die Schnecke das Eichhörnchen.
«Ich mag dich sowieso ganz gut leiden, egal, wo du wohnst.»
Bei diesen Worten errötet das Eichhörnchen und gesteht verlegen: «Ich mag dich auch sowieso ganz gut leiden, liebe Schnecke, egal, wie langsam du bist.»
Etwas schüchtern und verstohlen werfen sich die beiden liebevolle Blicke zu.
Plötzlich kichert die Schnecke wild drauflos.
«Was ist denn jetzt in dich gefahren?», fragt das Eichhörnchen.
«Es kitzelt so an meinen Bauch, wenn ich über den Waldboden krieche», prustet die Schnecke.
Nach einer Weile, die Schnecke hat sich wieder gefasst, sagt sie: «Du, ich muss mal biseln.»
«Ja, dann mach halt», sagt das Eichhörnchen.
«Aber doch nicht da, vor allen Leuten», entrüstet sich die Schnecke.
Das Eichhörnchen sieht sich um und sagt dann beschwichtigend: «Es ist ja niemand da.»
«Und wenn jemand kommt», gibt die Schnecke zu bedenken und verschwindet mit diesen Worten gemächlich hinter dem nächsten Baum.
Als die Schnecke zurück ist, sagt das Eichhörnchen: «Ich hab’s mit der Prostata.»
«Au weia», sagt die Schnecke, «dann hast du aber schönes Komedi», und fragt: «Bist du schon beim Doktor gewesen?»
«Ja, beim Doktor bin ich gewesen», antwortet das Eichhörnchen, «der sagt, wegen dem Alter kann es nicht sein, ich bin ja noch jung.»
«Mehr hat er nicht gesagt?», fragt die Schnecke.
«Nein, mehr weiss er noch nicht.»
«Ist das vielleicht so ein Quacksalber?», fragt die Schnecke weiter.
«Nein, nein, das ist kein Quacksalber», versichert das Eichhörnchen, «das ist ein Spezialist, ein Tier-Doktor, und der macht ganz verrückte Sachen. Mal hab ich gesehen, wie er bei einer Kuh, die nicht kalbern konnte, mit der Hand und dem ganzen Arm hinten rein ist und das Kalb herausgezogen hat. Und ich sag dir eins: Wenn er bei mir mal mit dem ganzen Arm hinten rein muss, dann bin ich aber schnell weg.»
«Musst du denn kalbern?», fragt die Schnecke.
«Wo denkst du hin», belustigt sich das Eichhörnchen, «natürlich muss ich nicht kalbern, ich bin doch ein Junge.»
«Ich hab’s mit dem Rücken», sagt die Schnecke daraufhin.
«Warum denn das?», fragt das Eichhörnchen.
«Das ist jetzt aber wirklich eine dumme Frage. He denk, weil ich dauernd mein Haus auf meinem Rücken mit mir rumschleppe.»
«Bist du schon beim Doktor gewesen?», fragt das Eichhörnchen.
«Nein, noch nicht, aber ich muss da mal hin. Was meinst du: Muss er dann mit dem ganzen Arm bei mir hinten rein. Dann bin ich aber auch schnell weg, so wie du.»
«Du kannst doch gar nicht schnell weg, du bist sooo langsam», sagt das Eichhörnchen.
«Ha, denkst du, das geht ruck-zuck-zack-zack, so schnell wie ich weg bin, kannst du gar nicht gucken, und schon bin ich in meinem Haus, in Sicherheit», sagt die Schnecke und fährt fort: «Immer sein Haus bei sich zu haben, hat eben auch seine Vorteile.»
«Also ich bin ganz schön froh, dass ich kein Haus mit mir rumschleppen muss», sagt das Eichhörnchen, sonst könnte ich nicht so schnell auf Bäume klettern. Ohne Haus auf dem Rücken geht das im Hui. Willst du mal sehen?»
«Ou ja, zeig mal», ist die Schnecke begeistert. Und wenn du oben bist, wartest du auf mich gell, ich komme dann nach. Von da oben hat man bestimmt eine tolle Aussicht. Die Welt mal von oben sehen, das wollte ich schon immer.»
«Ja du, aber da kann ich ja ewig auf dich warten», meint das Eichhörnchen zögernd.
Unterdessen ist, von den beiden unbemerkt, ein Gewitter aufgezogen. Dunkle schwarze Wolken hüllen den Wald in Finsternis. Im Licht greller, zuckender Blitze werfen die Bäume geisterhafte, furchteinflössende Schatten. Donnergrollen. Und dann setzt prasselnder Regen ein.
«Was machen wir jetzt?», ruft das Eichhörnchen etwas ängstlich und schon komplett durchnässt.
«Komm schnell mit in mein Haus», ruft die Schnecke, «da sind wir in Sicherheit.» Und so verkriechen sich die beiden im Haus der Schnecke, kuscheln sich eng aneinander und warten, geschützt vor Regen, Sturm, Blitz und Donner, bis der Spuk vorüber ist.
«Gell Eichhörnchen, es ist eben doch gut, dass ich mein Haus immer bei mir habe», sagt die Schnecke.
«Ja, ja», pflichtet das Eichhörnchen der Schnecke bei, froh darüber, im Schneckenhaus im Trockenen zu sein.
«Und wenn das Gewitter vorbei ist, klettern wir auf einen Baum und du nimmst mich Huckepack, gell Eichhörnchen.»
«Ja, so machen wir das», pflichtet das Eichhörnchen der Schnecke bei. «Wir klettern auf den Wipfel des höchsten Baumes im ganzen Wald. Da hast du den Überblick und viel mehr Licht als hier unten.»
«Fein! Ich freu mich schon auf die Aussicht, es muss wunderschön sein so hoch da oben», begeistert sich die Schnecke und wird vor lauter Vorfreude ganz zappelig.
URS HABEGGER arbeitet als Surprise-Verkäufer in der Bahnhofunterführung Rapperswil. Seinen Beruf in der grafischen Branche musste er aufgrund einer misslungenen Augenoperation aufgeben. Seit der Veröffentlichung von «Am Rande mittendrin» (elfundzehn verlag 2024) ist er auch Autor. Sein zweites Buch wird im gleichen Verlag erscheinen.
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Meine Abschlussarbeit an der GewerblichIndustriellen Berufsfachschule Glarus schrieb ich über randständige Menschen (u.a. besuchte die Absenderin einen Sozialen Stadtrundgang bei Nicolas Gabriel, Anm. d. Red.). Im Zusammenhang damit verfasste und gestaltete ich zudem selbst ein Bilderbuch. «Der kleine Igel Ferdinand und das Glühwürmchen» wurde bisher 51 Mal verkauft. Die eine Hälfte des Erlöses spendete ich Surprise, die andere Hälfte dem Sozialwerk Pfarrer Sieber. Mit meiner Arbeit wurde ich beim ZKB Nachhaltigkeitspreis des Kantons Zürich mit dem zweiten Platz ausgezeichnet. Auf die Arbeit und das Buch bin ich sehr stolz. Mehr Informationen und Buchbestellungen unter alinasbilderbuecher.com
ALINA MANNHARDT, Winterthur
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Ralf Schlatter, William Stern, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Thomas Assinger, Siegrid Cain, Migmar Dolma, Vincent Glanzmann, Urs Habegger, Peter Hauser, Azizullah Ima, Lubna Abou Kheir, Johanna Lier, Dominic Oppliger, Shukri Al Rayyan, Azad Şîmmo, Ilia Vasella
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
Druck
AVD Goldach
Papier
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Auflage 23 750
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Seit gut einem Jahr verkauft Gheorghe Crăciun die österreichische Strassenzeitung Apropos in Salzburg. Morgens macht er sich von der Notschlafstelle der Caritas, wo er die Nacht verbringt, auf zu seinem Arbeitsplatz. Er nimmt den Bus, immer mit gültigem Fahrschein, wie er betont. Die Vorbeikommenden grüsst er mit «Morgen» oder «Hallo», mehr nicht. Offensivere Verkaufsstrategien kommen für ihn nicht infrage. Er wisse von Kolleg*innen, dass kaufmännischer Eifer sich nicht bezahlt mache, das werde oft als Aufdringlichkeit ausgelegt und sei geschäftsschädigend. Gheorghe Crăciun wirkt diskret – nicht schüchtern, aber höflich und zurückhaltend.
Früher verdiente er sein Geld daheim in Rumänien mit Korbflechten und Besenbinden. Das hatten ihm seine Eltern beigebracht. Als die Nachfrage auf den nahegelegenen Märkten durch die Konkurrenz industriell gefertigter Ware weggebrochen ist, war damit Schluss. Gheorghe Crăciun kommt aus der Gegend von Pitești. Vier Jahre lang ging er dort in die Schule, Beruf hat er keinen gelernt. Andere Arbeit war für ihn nicht zu finden, also ist er nach Salzburg gekommen, wo schon Bekannte von ihm waren.
Ein Arbeitstag vor dem Supermarkt kann lang werden. Gheorghe Crăciun sieht viele verschiedene Menschen. Tagein, tagaus gehen sie an ihm vorüber. Das schult die Menschenkenntnis. Er habe mit der Zeit eine recht gute Intuition entwickelt und ahne meist schon vorab, wer auf ihn zukommen und ihm ein Exemplar abkaufen wird. Woran er potenzielle Käufer*innen erkennt, kann er nicht sagen, er weiss das einfach. Stammkund*innen gibt es auch, auf die freue er sich jedes Mal, wenn er eine neue Ausgabe der Strassenzeitung in der Tasche hat.
Musik hört Gheorghe Crăciun während der Arbeit keine, auch telefoniert er nicht, es sei denn, seine Frau rufe aus Rumänien an. Zum Zeitvertreib tut sie das nicht, wenn, dann gibt es etwas zu besprechen. Die beiden haben ein Einzimmerhaus, das seine Eltern gebaut haben. Dort ist er mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Heute stehen darin zwei Betten. In einem schläft seine Frau, im anderen ihre drei Enkel, die Kinder der jüngsten Tochter. Sie ist vor vier Jahren weggegangen, Gheorghe Crăciun weiss nicht, wo sie heute ist und wie es ihr geht. Das ist eine der Sorgen, die ihm Tag für Tag im Kopf sitzen. Mit Mitte fünfzig müssen er und seine Frau sich noch einmal als Eltern bewähren. Leicht fällt ihnen das nicht, sie haben beide gesundheitliche Probleme, und das Geld, das er nach Hause schicken oder auf seinen Besuchen mitbringen kann, reicht
Gheorghe Crăciun, 57, stammt aus Rumänien, er ist der Arbeit wegen in Österreich. Sich und seiner Familie will er einen Wunsch erfüllen.
vorne und hinten nicht. Das Dach ihres Hauses ist undicht, fliessend Wasser gibt es nicht, geheizt und gekocht wird mit einem Holzofen. Brennstoff kaufen sie von herumziehenden Pferdefuhrwerken. Aushelfen kann niemand. Die Kinder sind verheiratet und weggezogen, von seinen Geschwistern lebt keines mehr in der Nähe, die Eltern sind lange tot, zu erben gab es nichts ausser Armut und Aussichtslosigkeit.
Kraft zum Wünschen oder Träumen ist Gheorghe Crăciun kaum noch geblieben. Er sieht sich als Realist. Einen Wunsch hat er aber doch. Er möchte genug Geld zusammensparen, um das Dach seines Hauses abzudichten. Und vom Wasseranschluss an der Strasse möchte er eine Leitung ins Haus legen. Seine Frau und die Enkelkinder sollen ein Bad haben. In dieser Sache vertraut er, wie er sagt, auf Gott. Das halte seine Hoffnung lebendig und ihn am Tun.
Um drei oder vier Uhr am Nachmittag packt Gheorghe Crăciun nach getaner Arbeit seine Tasche, schafft seinen Sessel ausser Sicht und steigt in den Bus, der ihn wieder zur Notschlafstelle bringt, bei gutem Wetter manchmal noch auf eine kurze Unterhaltung zum Bahnhof oder in einen Park.
Aufgezeichnet von Thomas Assinger Mit freundlicher Genehmigung von APROPOS / INSP.NGO
«Ich war nie randständig, sondern stand immer mitten im Leben»
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