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Literatur
Wagdy El Komy
Sunil Mann
Julia Rüegger
Hussein Mohammadi
Gina Bucher
Sahar Tavakoli
Jafar Sael
Ralf Schlatter
WIE MIT GERAUBTEN KÖNIGSSCHÄTZEN UMGEHEN ?
BENIN VERPFLICHTET BENIN DUES
PELIKANSTRASSE
CHANGEMAKER
Jedes Produkt hat seine eigene Geschichte. Bei Changemaker hast du die Gewissheit, dass es eine gute ist.
Ein Film von EVA VICTOR
AB 14. AUGUST IM KINO
Editorial
Schatten
In diesem Heft finden Sie Schattenwelten und Schattenseiten, Schattenwurf und Schattendasein. Ralf Schlatter entdeckt das Muster geopolitischer Auseinandersetzungen neben einer Thujahecke (S. 24). Dystopisch wird es bei Gina Bucher (S. 21), die sich an einer wahren Geschichte orientiert. So bunt und unterhaltsam ist vielleicht noch nie ein Quartier beschrieben worden, das im Schatten einer glänzenden Stadt steht: «Altstette» von Sunil Mann (S. 10). Bei Julia Rüegger geht es um einen überschatteten Moment im Leben, nämlich um Trennungsschmerz. Im Grunde aber um feministische Literatur (S. 13).
Komischabsurd und doch mit einer leisen Traurigkeit setzen sich Hussein Mohammadi (S. 18) und Wagdy El Komy (S. 5) mit ihren Herkunftsländern Afghanistan und Ägypten auseinander. Die iranische Autorin Sahar Tavakoli wiederum thematisiert in ihrer Arbeit Einsamkeit und Exil, Frausein und persönliches Wachstum (S. 23). Und der afghanische Autor Jafar Sael packt
Fotografie
Die in Basel lebende Fotografin Ronja Burkard erforscht in ihren Porträts und Reportagen gesellschaftspolitische Themen. Um das MakeUp der Modelle, die sich zur Verfügung stellten, kümmerte sich Jules Martin.
5 Wagdy El Komy Requiem in Reisekoffern
10 Sunil Mann Altstette
13 Julia Rüegger Hospital Bone Dance
18 Hussein Mohammadi … Hallo?
bittere Kritik in Poesie (S. 23). Alle vier werden vom Projekt Weiter Schreiben Schweiz begleitet, das ExilAutor*innen dabei unterstützt, literarisch tätig zu bleiben.
Ronja Burkard verfolgt in ihrer Fotostrecke das Thema Schatten auf eigene Art: Sie beobachtet den Trend, dass Menschen ihre «Tanlines», also Bräunungsstreifen, sorgfältig in Szene setzen – und nimmt das Phänomen zum Anlass, ein paar Fragen zu stellen, die sich im Sommer ganz speziell aufdrängen: Welche Körper sind gesellschaftlich akzeptiert, welche weniger? Wie blicken wir auf diverse Formen von Körperlichkeit? Und was unterscheidet die Alltagsbegegnung in der Badi von der (Selbst) Inszenierung des Körpers?
Cremen Sie sich gut ein, auch fürs Surprise Lesen auf dem Strandtuch!
FREI Redaktorin
21 Gina Bucher Süsser König
23 Sahar Tavakoli Schatten
Jafar Sael Mein Zuhause
24 Ralf Schlatter Der Schattenwurf
26 Rätsel
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Internationales Verkäufer*innenPorträt «Meine Erlebnisse sind wie ein Schatz für mich»
DIANA
Die gezeigten Fotomodelle wurden keinem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt: Die Tanlines und Sonnenbrände wurden für die Fotos aufgeschminkt.
Requiem in Reisekoffern
Als der Tag des Abflugs feststand und er das vom Hohen Europäischen Kommissariat abgestempelte Schengen-Visum in seinem Reisepass sah, machte sein Herz vor Freude und Entzücken einen Sprung. Er beschloss, das glückliche Ereignis gebührend zu feiern, und zwar in seiner Stammkneipe, wo er sich mit Haschisch zudröhnen und so von seinen Sauf- und Rauschkumpanen Abschied nehmen wollte.
Seine Schritte führten ihn in eine Seitenstrasse. Von dort ging es weiter in eine Gasse, welche sich wiederum zu einem Gässchen verengte. Er war froh und fühlte sich prächtig, sein Kopf hatte sich bereits an die Tatsache des gültig abgestempelten Visums gewöhnt. Als ein Passant ihn anrempelte – es war ein kleiner und kümmerlicher Mensch in einer verschlissenen Galabija –, liess er sich davon nicht stören, sondern setzte seinen Weg zur Haschischhöhle unbeirrt fort.
Dort empfing ihn eine Reihe verrauchter Grüsse. «Was ist denn mit dir passiert!?», rief einer seiner Freunde. «Bist du weggezogen? Seit Monaten lässt du dich
TEXT WAGDY EL KOMY
hier nicht mehr blicken!» «Zwischen den Konsulaten bin ich hin und her gerannt, habe Formulare ausgefüllt und alle möglichen Bescheinigungen und Zeugnisse rausgesucht, um an ein Visum zu kommen», antwortete er, während er einen tiefen ersten Zug aus der Wasserpfeife nahm und sich die Lunge mit Haschisch füllte. «Und wisst ihr was? Mit Gottes Hilfe hat’s geklappt! Ich bin hier, um mich zu verabschieden, meine Lieben.» Er wurde mit Glückwünschen geradezu überschüttet. Einer rief ihm zu: «Einfach fort? Diese Hölle, du willst sie tatsächlich verlassen?! Wehe dir! Wie kommst du auf die Idee, dass gerade du deinem Schicksal entrinnst?» Er achtete nicht weiter auf die Frage, sie schien ihm ein Teil der Abschiedszeremonie zu sein. Die Wasserpfeife wanderte eben aus seiner in die Hand eines Gefährten, als sich im schummrigen Licht ein Gesicht zu ihm beugte. «Ist es denn wahr, Professor?», fragte der Mann mit einem mürrisch-grobschlächtigen, dabei gleichzeitig zutiefst verzweifelten Ausdruck. «Gibt es wirklich eine Möglichkeit, aus diesem Land wegzukommen?»
Wie es seine Gewohnheit war, unterzog er den Fragenden sogleich einer aufmerksamen Prüfung. Je nach Resultat unterteilte er die Menschen in verschiedene Kategorien. Waren sie schäbig gekleidet, stufte er sie als niedrig und bedeutungslos ein. Traf er aber auf ein hübsches und wohlgeformtes Gesicht, das nicht vom Elend spröde und durch die immerwährende Schichtarbeit ausdruckslos geworden war, dann lag auf ihm unweigerlich der Segen einer grosszügigen und wohlhabenden Familie. Als er des groben Ausdrucks und der gequälten Augen neben sich ansichtig wurde, murmelte er unwillkürlich: «Im Namen des Barmherzigen, es gibt keine Kraft ausser in Gott.» Das war die Formel, um sich vor Neid zu schützen.
Nachdem die Wasserpfeife zwei weitere Male an ihm vorbeigezogen war und er jeweils kräftig daran gezogen hatte, sprach er mit einem zufriedenen Lächeln: «Meine Lieben, auch in der Fremde ist ein Auskommen. Die Würfel sind gefallen. Wenn auf dich in einem anderen Land das Glück wartet, so wirst du es finden. Achte darauf, was auf deiner Stirn geschrieben
steht – denn deine Augen werden die Schrift entziffern!» Hatte ihm das Schengen-Visum hier nicht gerade eine tiefe Weisheit eingegeben? Selbstzufrieden hob und senkte sich seine Brust, Rauch entwich seinen Nasenlöchern. Als er husten musste, tätschelte er sich den Brustkorb, derweil der gültig abgestempelte Reisepass ihm warm auf dem Herzen lag.
Mit einem mächtigen Sonnenstrahl kündigte sich der Morgen an. Es war an der Zeit, die Kneipe zu verlassen. Unwillkürlich schlugen seine Füsse den Weg zum Friedhof ein. Den Kopf noch voller Nebel und Rauch, betrachtete er den Grabstein seiner Eltern mit einem Gefühl der Ruhe und Befriedigung. Er streckte Hände und Arme hoch zum Himmel, um die Fatiha zu rezitieren, doch seine Glieder waren zu schwer dafür. Also liess er sie wieder sinken und sprach im Flüsterton weiter, ab und an unterbrochen von einem Windstoss und dem fernen Bellen eines Hundes. Er schloss mit der Beschwörungsformel zum Schutz vor den Heimsuchungen des Teufels, wiederholte die Fatiha und pries die Stärke und
Macht Gottes. «Oh Herr, befreie uns von diesem Land mit seinen tyrannischen Menschen», sagte er und labte sich an der frischen Morgenluft, als mit einem Mal ein ganz anderes Gefühl in ihm hochzusteigen begann. Er starrte auf den Grabstein seiner Eltern und las die Inschrift: Hier ruhen in Gott der verstorbene Sajid Sajjid al-Baghdâdi und seine Frau Hajjah Sainab Mahmud Nasr Jassîn.
Der Gedanke, dass er das Grab seiner Eltern nicht mehr besuchen konnte, machte ihn traurig. Er fasste sich ans Herz, unbewusst aber langte er nach dem Reisepass. Es nützte nichts. Sein Herzrasen verkündete gerade das Gegenteil von Freude und Entzücken. «Ich werde die Erde verlassen, welche die Überreste meiner Eltern in sich birgt», sprach er zu sich selbst, von Kummer überwältigt. Dann entfernte er sich eilig vom Grab, als fürchtete er, ein Dämon würde dort Besitz von ihm ergreifen. Seine Gedanken ordnend, fragte er sich, woher der plötzliche Kummer kam. Sollte er nicht locker und entspannt sein vom Haschisch? Weshalb drängte die Sorge
alles beiseite? Vielleicht sind die Gräber daran schuld, sagte er sich, und rannte aus dem Friedhof, als hätte ihn ein Skorpion gestochen.
Unterwegs traf er auf einen mobilen Imbiss. Auf die übliche folkloristische Art in Rot und Grün gestrichen, wurde hier das lokale Bohnengericht feilgeboten. Hinter dem Wägelchen aber fand er den grobschlächtig-mürrischen Kollegen aus der Haschischhöhle wieder, nur dass er seine Rolle gewechselt hatte und nun in geradezu begeisterter Manier unter den sehnsuchtsvollen Blicken seines hungrigen Publikums Leinsamenöl über dampfende Bohnen träufelte. Er reihte sich bei den anderen Gästen ein, die hier ein warmes Frühstück vor der Arbeit einnahmen – und bestellte gleich das ganze Menü rauf und runter. Er bestellte Bohnen mit etwas Leinsamenöl, Essig-Tomaten, gebratene und in Knoblauch eingelegte Auberginen, gekochte Eier, frittierte Falafel, die bestimmt hundert Mal in einer Pfanne gewendet worden waren, bis sie die Farbe der Nacht angenommen hatten, dazu etwas Brun-
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nenkresse und Frühlingszwiebeln und gebratene scharfe grüne Paprika, und zum Abschluss noch fünf, sechs Scheiben Brot, von denen er sorgfältig die Kleie abrieb, damit er beim Essen wegen seiner Kleieallergie nicht zu husten anfing – ein Husten, der jeweils zum Brechen führte. Die Allergie begleitete ihn seit seiner Kindheit, und niemand war in der Lage gewesen, ihn davon zu heilen. Jetzt aber stürzte er sich auf die Speisen mit einer Vehemenz, als würde er sich nicht von seinem Land, sondern von der ganzen Welt verabschieden. Er reichte dem Bohnenmann und Haschischgefährten das Geld, und nun hatten Freude und Entzücken endlich gesiegt. Die Kummerwolken, die sich am Grab der Eltern über sein Gemüt geschoben hatten –sie waren fort.
Doch schon nach wenigen Schritten verkrampfte sich seine Brust. Das Herz pochte wie wild. Er tastete nach der Innentasche und fand den Reisepass sicher verwahrt, in seine Seiten eingestempelt das Schengen-Visum, das ihn nach Europa führen und endlich seine Hoffnungen erfüllen würde. Doch die Unruhe wollte nicht verfliegen. «Eine Nacht in der Kneipe und ein göttliches Frühstück», sagte er zu sich selbst, «was braucht ein einfacher Mann denn noch, um glücklich zu sein?» Kurz darauf stand er vor seiner Wohnung. Seine Füsse hatten ihn sicher ans Ziel gebracht. «Vielleicht eine Frau, vielleicht Sex», murmelte er, den Schlüssel ins Schloss steckend, noch immer auf der Suche nach einer Antwort. Sogleich zog er den Reisepass heraus, schlug die Seite mit dem Visum auf und fuhr mit den Fingerspitzen über den aufwendigen Stempel. Freude und Entzücken rieselten durch seinen Körper.
Er warf sich aufs Bett und flüsterte das Wort «Schengen», als ob darin eine Antwort auf seine Fragen läge. Gleichzeitig betrachtete er die Wände des Schlafzimmers, die vom Boden bis zur Decke mit Regalen vollgestellt waren, aus denen die Bücher geradezu hervorquollen. Nicht mehr lange, und einige Bände würden herunterfallen, der Platz war schlicht zu knapp bemessen, und die Last zu gross, um alles fassen zu können. Ein Sinn von drohendem Verlust kehrte zurück. Was musste er nicht alles zurücklassen. Seine Bücher, die Asche seiner Eltern, das Frühstück beim Bohnenmann, die Haschischhöhle. Und all die vielen Gassen, deren Pflastersteine sich in seine Füsse einge-
prägt hatten, und die Strassen, die er Hand in Hand mit seinen Schulkameraden entlanggeschritten war, um in der grossen Stadt nicht fehlzugehen. Jetzt, mit fünfundvierzig Jahren, würde er wie ein Kind ganz von vorne anfangen müssen. Neue Strassen und Wege erkunden, Orte der Entspannung und des Vergnügens entdecken, Freundschaften schliessen, Intimitäten finden, überhaupt sein Herz wieder Gefühle der Vertrautheit für die unmittelbare Umgebung und für Nahestehende lehren müssen. Allmählich begann ihm zu dämmern, was da auf ihn zukam. Furcht und Entsetzen, nicht etwa Freude und Entzücken, warteten auf ihn, tauschte er doch alles ein, all die bekannten Gesichter, den Kellner, den Obst- und Gemüseverkäufer, den Metzger, die Handwerker aus der Handwerkerstrasse. An ihre Stelle würde eine unpersönliche Bedienung in einer Bar treten, die nicht das Geringste mit einer Tasse türkischen Kaffees am Hut hätte. Zwischen den Regalen im Supermarkt würde er mutterseelenallein stehen, und wahrscheinlich würde er sein Obst und Gemüse selbst abwägen und überhaupt am Schluss die Rechnung begleichen müssen, ohne ein einziges, witziges Wort mit einem Verkäufer oder einer Angestellten ausgetauscht zu haben … und die Sprache … wie sollte das überhaupt gehen, eine derbe Bemerkung in einer vollkommen fremden Sprache formulieren?! Und wäre denn diese Sprache in der Lage, sich in all diese kleinen Gemeinheiten und Witze, in den hintersinnigen Spott so geschmeidig zu fügen, dass man gleich darauf wie mit Kugeln aus einer Kalaschnikow um sich schiessen konnte? Hatte er denn nochmals ein ganzes Leben zur Verfügung, um es zur Meisterschaft in der Sarkasmus-Disziplin einer anderen Zunge zu bringen?
Und dann … das Haschisch … und die Haschischkneipe. Wo gäbe es jemals eine Entsprechung für den blauen Dunst, für dieses matte, selbstvergessene Glück? Draussen hatte sich das Tageslicht durchgesetzt, doch anstatt wie üblich einzuschlummern, störte er sich daran. Mit trockenen Augen starrte er auf das Visum und suchte nach irgendeiner Lösung. So verging der Tag, ohne dass er sich in der Lage sah, aus dem Bett zu steigen. Schlafen konnte er ebenso wenig. Schliesslich hatte er so lange auf das Visum gestarrt, bis er einen Entschluss fasste. Er begann mit den Büchern.
Nachdem er eine Reihe grosser Koffer angeschleppt hatte, begann er, ein Buch nach dem anderen zu verstauen. Fünf ganze Tage lang arbeitete er konzentriert und geduldig, dann waren seine Regale leer und die Bibliothek war bis auf den letzten Band verpackt. Am Ende stand er vor elf Koffern. Wie er damit zum Flughafen gelangen und weiterreisen sollte, wusste er nicht. Dass er ein vorgegebenes Gewicht für das Reisegepäck nicht überschreiten durfte, kam ihm ebenso wenig in den Sinn. Getrieben von seiner Idee, war er blind für alles andere. Als nächstes kamen die Strassen an die Reihe. Der Belag, der sich seinen Füssen eingeprägt hatte und der ihm teuer geworden war, er musste ihn aufbrechen. Die Nacht war der richtige Zeitpunkt, um mit dieser schwierigen Aufgabe zu beginnen. Er löste einen Asphaltbrocken aus der Strasse und beförderte ihn geduldig zum Transporter, den er eigens dafür gemietet hatte. Den Belag bearbeitete er mit einer Spitzhacke und verursachte dabei einen Lärm, dass die Leute unweigerlich stehenblieben. Sogleich ignorierten sie jedoch, dass er tatsächlich dabei war, ihre Strassen aufzureissen, kannten sie ihn doch sonst als einen gefassten und vernünftigen Menschen, heiter und fröhlich im Umgang mit den Nachbarn, stets bereit zu einem freundlichen Austausch oder einer witzigen Bemerkung. Freilich, oft genug wirkten seine Worte herablassend, vielleicht ungewollt, aber das änderte kaum etwas daran. So kam es auch, dass einigen Passanten, die genug hatten von seiner Arroganz, der Kragen platzte.
Der Ärger wanderte zu den Behörden, kurz darauf stürmte die Polizei seine Wohnung. Mit nacktem Entsetzen blickten die Beamten auf die riesigen Asphaltbrocken, die in Koffern gestapelt herumlagen und seine Wohnung bis zur Decke ausfüllten. Nach einer hastigen Untersuchung und einer Nacht, die er in Verwahrung zubrachte, entschied die Staatsanwaltschaft, ihn laufen zu lassen. Dies unter der Bedingung, dass er der Nachbarschaft eine Entschädigung für den ruinierten Strassenbelag entrichtete. Tatsächlich fand er in seiner Wohnung einen Bescheid mit einem genauen Geldbetrag. «Die Heimat hat mir das Herz gebrochen, weil die Heimat für mich nur ein Herz aus Stein übrig hat.» Mit diesen Worten beglich er seufzend die Rechnung und machte sich sogleich auf, Dinge herbeizuschaffen, die noch weitaus erstaunlicher waren als Strassenpflaster.
Schnurstracks begab er sich zum Bohnenmann und bat ihn, ihm den Wagen zu verkaufen. «Was genau wollen Sie kaufen, Professor?», fragte dieser. «Den Imbiss? Meinen Sie damit das Wägelchen, das ich durch die Strasse schiebe?» Er nickte, während er genüsslich auf einem Bissen Bohnen kaute und eine mit Frühlingszwiebeln garnierte, gebratene Aubergine hinterherschob, dazu einige eingelegte Tomaten und ein in ranzigem Öl gebratenes BohnenFalafel-Bällchen. Der Bohnenmann betrachtete ihn verwirrt. «Haben Sie nicht gerade ein Visum erhalten? Sind Sie nicht dabei auszuwandern?», fragte er. «Ich möchte den Imbiss gerne mitnehmen.» Der Bohnenmann schlug mit der Hand gegen das Aluminium des immensen Kochtopfs, der bis zu acht Kilogramm Bohnen auf einmal fasste. «Wie heisst es doch so schön, ein Imbiss ist immer so gut wie sein Wagen», sagte er. «Bei allem Respekt, Professor, was wollen Sie in Europa mit einem Bohnen-Imbiss?» «Er wandert mit mir aus! Glücklicherweise braucht das Wägelchen nicht einmal ein Visum! Ich schicke es einfach mit dem Schiff nach. Du brauchst gar nichts zu machen. Alles soll genau so bleiben, wie es ist. Das Essen, die Zutaten –einfach stehenlassen! Die Falafel-Bällchen, die Bohnen, die Kartoffeln, die Tomaten, der Brunnenkresse, die Frühlingszwiebeln, das ranzige Öl, alles, alles, einfach alles genau so!» Der Bohnenmann machte einen Schritt zurück. «Mein Herr und Professor», sagte er nach kurzem Zögern, «entschuldigen Sie, aber in diesem Wagen steckt ein Stück von mir, damit bestreite ich mein Leben, damit baue ich meinen Kindern eine Zukunft.» Er tätschelte das Gefährt liebevoll. «Das Wägelchen ist wie meine Seele, es steht nicht zum Verkauf. Der Imbiss ist kein Gefährt für irgendwelche Abenteuer.»
Was klammerte sich der Bohnenmann plötzlich so an seinen Wagen? Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Ein Streit entbrannte. Den Mund noch voller Bohnen, spuckte er eine wütende Beleidigung nach der anderen aus: «Du willst von Ehre reden? Würstchen unter anständigen Menschen? Auf die Ohrfeigen der Polizei und der Geheimdienste bist du doch geradezu abonniert! Und trotzdem schiebst du ihnen jeden Tag gratis den Teller über die Theke, damit sie dich ja nicht fertigmachen. Dein lächerlicher Wagen, noch dem kleinsten Staatsangestellten leckst du deswegen den Dreck von der Sohle! Jedem
Streifenpolizisten kriechst du in den Arsch! Und vor mir lässt du die Muskeln spielen? Machst einen auf gefühlvoll? Meine Seele, mein Schatz für die Zukunft? Willst du mich verarschen oder was?» Der Bohnenmann griff nach der Schöpfkelle: «Habe ich dich nicht respektiert und dir einen anständigen Preis gemacht? Bei allem, was mir heilig ist: Wenn du nicht sofort verschwindest, schneide ich dir die Finger ab! Zusammen mit den Falafeln frittier ich dir jeden einzelnen!»
Unser Held tunkte einen letzten Bissen ins Leinsamenöl und verliess seinen Posten am Bohnen-Imbiss. Das Wägelchen würde er sich nach Einbruch der Dunkelheit schnappen. Tatsächlich lauerte er dem Bohnenmann auf und verfolgte ihn bis zu einem Schuppen beim Maslaqan-Bahnübergang in Dokki. Dort verlor er ihn aus den Augen. So wie er überhaupt jeden Sinn für Gefahr einbüsste, während er die Örtlichkeit auskundschaftete und sich auf ein Abenteuer mit unkalkulierbarem Ausgang vorbereitete.
In der Nacht versuchte er die Kette zu knacken, mit welcher der Bohnenmann die Wagenräder am Zaun des Schuppens befestigt hatte. Er verriet sich durch ein Geräusch, und mit einem Mal fielen der Bohnenmann, seine Frau sowie zehn Kinder aller Altersstufen über ihn her. Er bekam einen Schlag mit dem Holzhammer ab, mit dem der Bohnenmann sonst die Bohnen zu Mus zermalmte, um sie weiter zu Falafel zu verarbeiten. Eine Blutfontäne schoss ihm aus dem Kopf.
Erst im Krankenhaus kam er in den Armen einer Pflegerin wieder zu sich. Diese war zwar verschleiert, hatte aber eine attraktive Figur und verströmte einen Duft, der ihn auf unerklärliche Art und Weise erregte. Er konnte seinen Blick kaum von ihrem Gesicht mit den vollen, blutroten Lippen abwenden, während ein Arzt auf ihn einsprach und ihn nervös untersuchte. Im Hintergrund sass ein Offizier. Den Rauch einer Kleopatra-Zigarette gelangweilt ins Zimmer des staatlichen Krankenhauses blasend, wartete er darauf, ihn endlich verhören zu können. «Kann er jetzt die Fragen beantworten?» sprach der Offizier, kaum dass er die Augen geöffnet hatte. Der Arzt wedelte mit der rechten Hand vor seinem Gesicht herum, als könne er nicht recht glauben, dass er wieder zu Bewusstsein gekommen war. Unser Held seinerseits langte instinktiv nach der Jackentasche. Der Reisepass war sicher verwahrt.
«Was soll die Geschichte mit dem Bohnenwagen?» Der Offizier hatte sich von seinem Stuhl erhoben. «Weshalb wolltest du ihn stehlen?» «Die Kopfverletzungen lassen noch keine Befragung zu», sprach der Arzt schnell in Richtung des Beamten. «Ich warte keine Minute länger», antwortete dieser gereizt, worauf der Arzt rasch von dannen zog, um keinen weiteren Ärger zu provozieren. «Du kriegst noch einen Tag», sagte der Offizier mit einem wütenden Blick. «Wir stellen einen zusätzlichen Beamten ab. Danach wirst du verhört. Der Besitzer des Imbisses beschuldigt dich, sein Wägelchen gestohlen zu haben. Wärst du nicht rasch genug im Krankenhaus gelandet, hätte er dir gleich dort den Hals umgedreht.»
Der Offizier blies unserem Helden ein letztes Mal Rauch ins Gesicht und stapfte davon. In diesem Moment fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, die sterblichen Überreste seiner Eltern in einen Koffer zu verstauen, und dass überhaupt das ganze Fiasko mit dem Bohnenmann, dem Krankenhaus und der Polizei seine Reisepläne unnötig verzögerte. Dann sann er darüber nach, wie er dem Hausarrest entkommen könne. Als die Pflegerin ins Zimmer trat, fiel ihm erneut auf, wie schön sie war. Er betrachtete ihre Taille, blickte auf ihre Waden und ihre Brüste, und fragte sich, welche Sorte Reisekoffer sich wohl am besten für sie eignete.
Aus dem Arabischen übersetzt von Joël László.
WAGDY EL KOMY, 1980 in Kairo geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter ägyptischer Schriftsteller. 2027 erscheint im Lenos Verlag ein Band mit Erzählungen, in dem auch der vorliegende Text enthalten ist.
Altstette
TEXT SUNIL MANN
Und am Schluss isch es Altstette. Dert, wo die hälle Liechter vo dere Stadt nümm ganz möge härelüchte, wo me vergäbe Glitzer u Glamour suecht u sech dr richtig Zürcher scho halb im Aargou vermuetet. Es Schatterevier am Rand vor City, zmingsch früecher isch das so gsi. Itz wird das grad gänderet, mit eme Tempo und eme Iifer, dass eim fasch trümmlig wird. A jedem Egge e Boustell. Strasse wärde ufgschrisse u d Innereie vom Quartier freigleit, Tramschine ernöieret, mit em ÖV chunnt me chuum no wäg. Es wird bohret u glochet u ghämmeret, usghölt oder bis uf d Grundmuure abgrisse, was nid rentabel gnueg isch, denn schnäll nöi ufbout, dass me äntlech cha d Mietene verdrüfache. Wär mal da hett gwohnt, muess sech öppis anders sueche, Empathie schänkt me sech, well so louft’s halt, für alli isch das sowieso nid tänkt. Emel nid, wenn ds Iikomme under em Durchschnittslohn ligt. Altstette also. Hochtrabendi Tröim hesch gha, denn, wo vom Bärner Oberland i die grossi Stadt bisch cho. Cho zum Blibe, aber das hesch denn no nid gwüsst. Äs hundertachtzg Quadratmeter Loft am Turbineplatz, hesch dänkt, schpeter, uf ds Alter häre de e Jugendstilwohnig am Züribärg mit Fischgratparkett und Erker. Isch de nüt druus worde, du bisch vo WG zu WG zoge und schlussäntlech ds Altstette glandet, well dert isch me denn halt glandet, well überall süsch d Mieti mal drü nid annähernd di Lohn hätt ergäh. Altstette isch öppe so wie Bümpliz, eifach no es bitzeli meh Bümpliz als Bümpliz je wird si.
Du hesch sofort versuecht, di z integriere, well Integration isch wichtig, list me überall. Häsch aagfange Züridütsch rede, und derbii isch dis Italiänisch mit jedem Tag besser worde. Schnäll chasch die erschte Sätz uf Albanisch, Türkisch, Kurdisch, Bosnisch, sie duze di hie, du ghörsch derzue und mängisch rütscht ne sogar es «Bro» use, we si grad nid ufpasse. Aber wehe, wenn du das machsch, de luege si di aa, als hättisch ihri Mueter uf ds Übelschte beleidiget.
Also seisch lieber nid Bro, wed zum Frisör, exgüsee zum Barber geisch, well mit däm wosch’s nid verspile. Är luegt di abwartend aa, wed inechunnsch, u fragt: «Ja?» U du bisch jedes Mal ganz churz verwirrt. «Haarschnide», seisch denn, ja nid «Haareschnide», das fänd är gloub nid so luschtig. Wie wenn das nötig wäri. Es isch e Barbershop. Für es Kilo Mähl und Pouletflügeli geisch eigentlech ehnder is Migros. Und de nickt är, o jedes Mal, und zeigt uf e Stuehl, du hoffsch, dass är nid ds Gliche macht wie bi allne andere. Hinde enorm churz, obe, wie wenn är dene e Hafe ufe Grind drückt u alls abgschnitte hätt, wo füreluegt. Aber nei, är macht’s wie immer, wie immer guet, fragt nach Frou u Chind, du seisch: «Hani nid.» Ischem wurscht. U am Schluss facklet är dir d Ohre mit eme lichterloh brönnende Q-Tip ab und meint, du wärdisch alt, das sig halt so. Obe ke Haar meh, derfür chöme si überall süsch.
U när schteisch no chli vorem Lade ume, da versammled sech immer vill Volch. Dr Barber isch für die Generation wie Kafi für die Eltere, me trifft sech, laferet u lacht. Du rouchsch e Zigi. Schteisch chli absits, well ganz ghörsch de doch nid derzue. Luegsch dir die Pursche aa, ds T-Shirt immer drü Nummere z gross, derfür d Hose zwöi ds äng. Das git im Schnitt fasch e guetsitzendi Aalegi. Lehrsch nöii Wörter, wo nid weisch, wo me se korräkt iisetzt. YOLO, cringe, Goofy, delulu. Wortschatzerwiterige ohni Praxisaawändig, nid i dim Alter, usser du wosch di würklech lächerlech mache.
Es paar vo dene gsehsch mängisch im Fitness, wo sie sech gägesitig filme, bim Üebige falsch mache, aber meischtens hocke sie eh nume ume und luege uf ds Handy. U när, ir Garderobe wärde stundelang Föteli vorem Spiegel gmacht u jede Körpergruch mit Axe übersprayt, jedi Pore zuekleisteret, well tusche isch irgendwie total überschetzt. Du schnappsch nach Luft, das Züg verätzt dir d Lunge. We si fertig si, schmöckt’s e chli wie früecher ir Parfümerieabteilig vor EPA.
Ufem Lindeplatz isch am Samschtig Märit. Du hocksch gärn im italiänische Kafi, vo dert us hett me die beschti Ussicht. Uf die Frou mit ihrem chline Chässtand, wo ihri Sache immer mit em Veloaahänger bringt und wo d Lüt scho früech Schlange schtöh. Uf e Stand mit de exotische Frücht, wo no nie öpper hesch gseh irgendöppis choufe, uf dä Typ mit sim Honig, die Frou mit em sälber gmachte Sirup u de Gompfine. Die meischte gö zum Gmüesschtand, wo fasch so läng isch wie der ganz Platz. D Rüebli u d Härdöpfel hei immer no so es bitzeli Ärde dran, das isch gloub Absicht, well das gseht nach Purehof us, nach heimischer Scholle, nach herter Arbet ufem Fäld. U das chunnt extrem guet aa bim Städter, well das git ihm ds Gfüehl, so richtig deep connected z si, grootet ir u verlinkt mit dr Heimat, es bitzeli Dräck i sire düretechnologisierte sterile Wält, öppis Ächts. U dass er derfür meh zahlt als im nachhaltigste Demeter Biolade mit total fair ghandlete und naturbelassene Läbesmittel, das merkt är vor luter Euphorie gar nümm.
D Lüt z beobachte isch es Vergnüege für di. Me gseht alls, die soziali Dürmischig vo däm Quartier wird hie sichtbar. Grossfamilie usem Balkan, die alte Italiänerinne, wo scho fasch es Läbe lang da si u rouchend wie Bürstebinder und Espresso trinkend im Kafi näbe dir hocke u alles kommentiere, d Studänt*inne, ab und zue e Jogger, wo quer dür d Lüt muess seckle, natürlech, si Gsichtsusdruck ei einzige Vorwurf.
U natürlich d Hipster, sie si scho da, d Vorbote, dass dä Stadtteil ufgwärtet wird, wie me däm so schön seit. Die erschte richtig tüüre Sushi-Restaurants hei eröffnet, es git uf ds Mal Yoga-Studios u schiggi Kafi, wo nume us Beton u Glas beschtöh.
Si hei luschtigi Sache an, die Hipster. D Manne, meistens mit Bart und die länge Haar zume Bürzi zämebunde, gärn i Sandale, mängisch mit wite Hose, wo bis zu de Chnöi chöme, drunder luege so öppis wie Leggins füre, me weiss es nid gnau. D Froue i zerknittereter Linechleidig, pastellfarbigi Halstüecher, d Frisur immer chli dürenang. Oder denn die, wo usgrüstet si wie für ne Polarexpedition, atmigsaktivi High-Gear-Tech-Chleidig i grelle Farbe, Chlätterschueh, verschnüerti Ruckseck, Sunnebrülle mit neongälbe Bändeli. Gfährlechs Terrain, so under ds Volk ga, weme de mal us sim hundertachtzg Quadratmeter Loft usechunnt. Derzue Chinderwäge, chlobig wie Mondfahrzüg u so breit, dass sie chuum dür d Bustüre chöme.
Die einte frage nach veganem Chäs, was d Chäsfrou immer zum Lache bringt, die andere wei bim Metzger wüsse, wohär das Söuli chunnt, wie’s hett gheisse, was es hett zum Frässe übercho, öb’s glücklech isch gsi, öb’s hett dörfe dusse ir Ärde grabe, im Schlamm sech suhle, öb’s gnue Sozialkontäkt hett gha. U nach lengerem Überlege choufe sie de viellech das Würschtli.
Du bisch gärn ufem Märit, bisch gärn z Altstette, füehlsch di wohl da. Im Kreis 4, wo jedes Wuchenänd Ballermann isch, wettsch nüm wohne, well mit füfezwänzgi hesch das vilech no cool gfunde, aber jetzt nümm. O nid im Kreis 5, wod nie weisch, wenn dr d Wohnig ine anderi Mietpriiskategorie uferenoviert wird. U ganz sicher nid am Züribärg, wod am Abe am zähni ufe Balkon use schteisch u mit em Klicke vo dim Füürzüg ganzi Strassezüg usem Tiefschlaf rissisch.
Dass nümm heichunnsch, wenn im Letzi Match isch, da dra hesch di gwöhnt, dass denn dr ganz Stadtteil vom Räst abgschnitte isch. Und dass d Musig im Schlafzimmer ghörsch, wenn es Konzärt stattfindet. Bi de Tote Hose oder Bon Jovi geit das no knapp, bim Gölä und em Trauffer muesch halt irgendwie düre. Kulturelli Ufdrängig, du hesch dr aageignet, dr Ton vom Fernseh eifach lüter ufzdräie.
U när geisch hei, packsch das Gmües us, wod kouft hesch, d Würschtli vo däm überglückleche Söuli, u während d Ärde vo dene vier Härdöpfeli schrubbsch dänksch, dass für dä Priis im Migros e ganze Sack hättsch übercho. Aber derfür füehlsch di grootet, connected, u das isch irgendwie o schön. Oder, Bro?
SUNIL MANN wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren und lebt in Zürich. Er hat Psychologie und Germanistik studiert und erfolgreich abgebrochen. Seit 2018 ist er freischaffender Autor. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet.
Hospital Bone Dance
TEXT JULIA RÜEGGER
Der Schmerz, nachdem Nuri gegangen war, verlangsamte sie dermassen, dass sie den Versuch aufgeben musste, in alltäglichen Dingen hinterherzukommen oder jene Ordnung aufrechtzuerhalten, die ein Mindestmass an Stabilität garantieren sollte. Wenn sie aus Versehen Kaffee über den Herd goss oder ein Papierstapel vom Tisch kippte und sich auf dem Boden vor ihr ausbreitete, stand sie kurz wie gelähmt davor und liess die losen Blätter dann einfach liegen. Fast war es, als ob das Fallen der Dinge um sie herum ihr auf paradoxe Art und Weise Halt gab, dadurch, dass diese Dinge sich der Schwerkraft hingaben, an ihrer Stelle stürzten.
Mit Nuri hatte sie, trotz all der wechselhaften Umstände, unter denen sie einen Grossteil ihrer Beziehung gelebt hatten, ein Zuhause gehabt, auf das Verlass war. Ein Zuhause, das es nicht mehr gab, ohne dass ein einziges Bild von der Wand genommen, ein einziges Möbelstück verrückt worden oder ein einziges Glas zu Bruch gegangen wäre. Die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache zu verstehen – der Tatsache, dass sie ein Zuhause gehabt hatte, das sich, da nichts zu Bruch gegangen war, das repariert werden konnte, auch nicht wiederherstellen liess – die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache zu verstehen war nicht möglich.
Sie liebte Nuris Hände, seine Handgelenke und Ellbögen. Sie liebte Nuris feinen, wachen, flinken Körper, den Geruch seines Guave-Shampoos, sogar seine Haarspuren auf dem Kopfkissen, und sein Gesicht – dieses so feine und offene und kluge Gesicht. Und sie liebte Pauls Hände und Pauls Finger, seine Bartstoppeln, die bis zur Kehle wuchsen, seine langen, drahtigen Zehen, seine Haut, die immer ein wenig zu glühen schien.
Wäre es einfacher gewesen, wenn sie sich ähnlicher gewesen wären? Wenn es in gewisser Weise austauschbarer gewesen wäre, ob sie neben Paul oder Nuri aufwachte, mit Paul oder Nuri Zeit verbrachte? Wie schafften es andere, zwei oder mehr Menschen romantisch zu lieben und dabei klar und fest und weich zu sein und selbst nicht auf der Strecke zu bleiben?
Lian erinnerte sich an eine Definition von Liebe, die sie kürzlich in einem Interview gelesen hatte. Liebe sei, wenn sich zwei Menschen auf eine gemeinsame Geschichte einigen, sich in einer gemeinsamen Geschichte wiedererkennen würden. Lange hatte sie eine solche gemeinsame Geschichte mit Nuri gehabt, eine Geschichte, die zärtlich war und warm, aber auch aufregend und unabgeschlossen und voller Zukunft. Jetzt gab es diese Geschichte nicht mehr, ausgerechnet die Geschichte mit Nuri, mit
dem sie von all ihren bisherigen Partnern am längsten zusammen gewesen war, mit dem sie sich auf gewisse Art am sichersten gefühlt hatte.
Und Paul? Paul reagierte auf die Nachricht von Nuris und Lians Trennung mit Erschrecken. Er zog sich zurück wie eine kranke Katze, hatte Angst davor, Lians Bedürfnisse nun alleine abdecken zu müssen und daran zu scheitern. Als wäre sie nur deshalb mit zwei Menschen zusammen gewesen, um mit ihren Bedürfnissen nur jeweils eine halbe Last zu sein.
In den Wochen nach der Trennung mimte Lian eine Souveränität, die sie längst nicht mehr besass. Was wäre die Alternative gewesen? Kein Mensch, der noch halbwegs bei Verstand ist, trägt seine Verzweiflung offen vor sich her. Man würde nicht einen einzigen Tag durchstehen.
Ausserdem war Lian das Kaschieren bestimmter Verfallsformen gewohnt. Sie hatte immer wieder schon phasenweise über ihre Verhältnisse gelebt; psychisch genauso wie körperlich. Den grössten Teil ihres bisherigen Lebens hatte sie sich weder besonders um die Instandhaltung ihres Körpers noch um den Wert einer stabilen Lebensführung geschert. Nicht einmal von der Wichtigkeit regelmässiger Mahlzeiten hatte sie sich bisher überzeugen können. Ein Grossteil ihrer Energie, die nun mal beschränkt war, ging dafür drauf, ihren Wissensdurst, ihren Ehrgeiz und ihre Neugier zu pflegen und sich permanent wach und offen zu halten für den Moment intellektueller oder emotionaler Stimulation. Aber die Statik ihres alltäglichen Lebens war fragil, Adrenalin war wichtig aber nicht ausreichend, und längst hatte Lian das Gefühl, sich einem Kipppunkt zu nähern. So wie ich jetzt lebe, kann ich unmöglich alt werden, hatte sie in den letzten Jahren immer öfter gedacht. Aber sie war zu rastlos, um Zeit zum Kochen einzuplanen, Yoga zu machen oder mit autogenem Training ihren Parasympathikus zu aktivieren, wie es ihr eine Ärztin empfohlen hatte, und sie wollte zu viel, als dass sie in sich hätte ruhen können. Es kam ihr ungerecht vor, dass sich Essen nicht durch Sex substituieren liess, dass der Stoffwechsel in dieser Hinsicht so konservativ war.
Die Blindwütigkeit, mit der sie sexuelle Befriedigung suchte –harsch und ignorant gegenüber jeder emotionalen Regung, die ihr auf dem Weg dorthin Hindernis sein konnte – erstaunte sie auch diesen Frühling wieder. Und doch reichte es ihr nicht, begehrt zu werden. Sie brauchte auch etwas von jener Zärtlichkeit, die sie von Nuri im Übermass bekommen hatte, während Paul
sie ihr, vielleicht unbewusst, immer häufiger verwehrte. Die wenigen Berührungen von ihm, die weich bei ihr ankamen, rekapitulierte Lian in Gedanken tagelang, als könne sie sich so eine Reserve, vielleicht auch eine dickere Haut zulegen.
Erinnerte sich Nuri noch daran, wie Lian sich angefühlt hatte, ihre Hände, ihre Schultern, ihr Bauch? Oder begann seine Erinnerung daran bereits zu verblassen? Mit diesen Gedanken lag Lian ganze Nächte neben Paul, so wach, als ob ihr Organismus das Schlafen endgültig verlernt hätte.
Staunend dachte sie an die ersten Monate in dem neuen Gefüge zurück, die in gewisser Weise intakt gewesen waren. Ihr Immunsystem war noch robust zu dieser Zeit, sie hatte keine Verdauungsprobleme und nur die üblichen Einschlafschwierigkeiten. Sie war neugierig und zuversichtlich gewesen und traute sich die doppelte Hinwendung zu Nuri und Paul und die gleichzeitige Selbstfürsorge zu, und fühlte sich noch beschwingt statt ausgebrannt. Inzwischen aber hatte sie sich daran gewöhnt, dass ihre Robustheit Stück für Stück weggebrochen war. Und es brauchte eine Art von Robustheit, um glücklich sein zu können –das hatte Lian in den letzten Monaten gelernt. Was also war zuerst gekommen: der Verlust ihrer Widerstandsfähigkeit oder die Enttäuschungen, die Ängste, die namenlose Wut? Sie konnte es nicht sagen. Da hatte sich ein Schacht gebildet, in den all die hinuntergewürgten Klösse fielen, all die Szenen, in denen Bedürfnisse nicht zusammenkamen und etwas in Lians Brustkorb oder Magen zu verklumpen drohte. Dort türmten sich mittlerweile so viele ungesagte Worte, Grübeleien und ausbleibende Berührungen, dass weder Paul noch sie selbst hineinzuschauen wagten. Daran änderte auch die Trennung von Nuri nichts – im Gegenteil. Diese Trennung und alles, was mit ihr zusammenhing, türmte sich in dem Schacht auf wie frisches Geröll.
In jenen Tagen las Lian einen Artikel über Dodie Bellamy, eine amerikanische Schriftstellerin, die von 2010 bis 2011 auf einem öffentlichen Blog namens the buddhist über Wochen hinweg von ihrem unerwiderten Begehren zu einem Mann schrieb, der sie
immer und immer wieder abwies. Ihr schonungslos obsessiver Bericht war voller Momente der Scham, der Verzweiflung und der Selbsterniedrigung und zugleich genau wegen dieser Direktheit unglaublich ermächtigend. Lian googelte Bellamy sofort und wollte jede Zeile aus diesem Blog lesen, doch dieser war inzwischen nicht mehr online. Ihr blieb nur der Bericht über diesen Blog, ein Bericht, der Bellamys emotionalen Exhibitionismus als Fortsetzung ihres in ihrer Kunst schon lange praktizierten Feminismus deutete. Bellamy musste also mehr als bewusst sein, was es bedeutete, sich als Frau mit ihren obsessiven Lüsten und Begierden zu outen, und vielleicht war es für sie an der Zeit gewesen, herauszufinden, was es bedeutete, sich mit diesen Begierden zu outen, wenn sie nicht erfüllt, sondern abgewiesen wurden.
Wurde Lian Paul gegenüber aller Widerstände zum Trotz wieder einmal zärtlich, fühlte sie sich danach furchtbar geschwächt. Als würde sie durch diese Gesten der Zuwendung, die zu grossen Teilen unerwidert blieben, ihre letzte Prise Rückhalt verlieren. Wie ein Hummer, der freiwillig in siedendes Wasser steigt.
War es Feigheit, fehlende Selbstliebe, ein Hang zu Masochismus? Die Angst, den Verlust von Nuri noch ungeschützter zu erleben, wenn auch Paul nicht mehr bei ihr war? Oder nur Faulheit und ein fataler Widerwille, sich gegen seine Anziehungskraft zu stemmen?
Sie wünschte sich, aufzuwachen und eine Postkarte von Nuri im Briefkasten zu haben, eine SMS, dass er sie sehen und auch diesen Sommer mit ihr in die Berge fahren wolle. Und sie wünschte sich, aufzuwachen und zu merken, dass das Verlangen nach Paul leise aus ihr verschwunden wäre. Stattdessen zog der Gedanke an Paul in Lians flachgedrückte Atmung ein, er führte zu einer permanenten Anspannung ihres Kiefers, und Nuris Abwesenheit wohnte in der Entzündlichkeit ihres Zahnfleischs, in der Gereiztheit ihrer Haut und in der nervösen Blase.
Sie lebte so roh in dieser Zeit, so dünnhäutig und provisorisch, dass sie manchmal nicht wusste, wie sie einen weiteren Tag überstehen sollte. Es gab Tage, an denen sie so dünnhäutig durch die
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Strassen ging, dass sie sich wünschte, meterdicke Bandagen um ihren Brustkorb zu tragen. Sie fantasierte davon, eingepackt zu sein wie jene etwas unheimliche, mit Verbandszeug vermummte Figur aus dem Film Hospital Bone Dance von Judith Hopf, die auf dem Filmplakat lässig an einem Geländer lehnt, wobei die Gleichzeitigkeit der entspannten Haltung und des vollbandagierten Schädels eine gruselige kognitive Dissonanz hervorruft.
Nach Monaten in diesem lähmenden Zustand suchte Lian eine homöopathische Fachperson auf. Menschen wie Sie würden Badewannen mögen, sagte die Homöopathin und liess ihren Blick so lange auf Lian ruhen, bis sie sich beinahe geröntgt vorkam. Ja, Lian hatte Badewannen schon immer gemocht, und auch jetzt gab es wenig anderes, das ihr mit so hoher Wahrscheinlichkeit ein wenig Entspannung verschaffte. Am Ende der Konsultation gab ihr die Ärztin homöopathische Globuli der Sorte Fruchtwasser mit, die ihr verlorenes Geborgenheitsgefühl wieder aufbauen sollten.
Das Geborgenheitsgefühl stellte sich nicht ein. Stattdessen fragte sich Lian, wie viele Wochen die Liebe zu Paul und zu Nuri noch wachsen könnte, ehe sie an eine unsichtbare Decke stossen und endlich wieder anfangen würde zu schrumpfen. Wie viele Monate es noch dauern konnte, bis wieder etwas Moos auf ihren Organen liegen, das Bleierne von der Zeit abfallen würde.
Im Gedicht Durchs halbe Land, um dich zu vögeln der chinesischen Autorin Yu Xiuhua, das Lian kurz darauf in einer Anthologie entdeckte, fand sie sich so aufgehoben wie seit langem nicht mehr. Nicht, weil das lyrische Ich dieses Texts auch verlassen gewesen wäre – darüber sagte der Text nichts –, aber weil sie, Lian, nur allzu gern mit derselben rasenden Entschlossenheit quer durchs Land zu ihren Liebhabern gefahren wäre.
Ganz ehrlich: Dich vögeln und von dir gevögelt werden, was ist der Unterschied? Beides ist nichts weiter als
die Wucht, mit der zwei Körper crashen, nichts weiter als die Blumen, die diese Wucht aus der Erde treibt, nichts weiter als der Frühling, den diese Blumen behaupten bis wir glauben, das Leben sei nochmal auf Anfang zurück.
Obwohl Lian diesen unverstellten Ausdruck von Verlangen so bestärkend fand, dass sie das Gedicht am liebsten ständig laut vorgelesen hätte, behielt sie die Entdeckung vorerst für sich, während Xiuhuas Worte
aber all das sind meine unbedingten gründe, dich vögeln zu gehen
wie ein Talisman in ihr pochten.
JULIA RÜEGGER lebt als Autorin und Literaturvermittlerin in Basel und schreibt Gedichte, Essays und Prosa. Ihr Lyrikdebüt «einsamkeit ist eine ortsbezeichnung» erschien 2023, dieses Jahr folgte der kollaborative Band «Und überlaut die Zikaden».
Besonders
… Hallo?
TEXT HUSSEIN MOHAMMADI
«Hallo? ... Hussein, Junge, wo steckst du denn? Hier ist Siavash. Wieso ist dein Handy aus? Jetzt versuch’ ich, dich zuhause anzurufen, und da gehst du auch nicht ans Telefon. Alle machen sich Sorgen. Die anderen kannst du vielleicht so abwimmeln, aber mich nicht. Was ist los? Wenn du früher so drauf warst, hast du wenigstens mir noch Bescheid gesagt. Kein Scherz, mein Lieber, ruf mich so schnell wie möglich zurück, ich mache mir Sorgen um dich. Eigentlich ruf’ ich ja an, weil eine Tour in den Norden ansteht. Akbar und Meysam sind auch dabei, und wir nehmen alle unsere Freundinnen mit. Hussein, falls du diese Nachricht hörst: Reiss dich zusammen und komm mit. Ohne dich ist es nicht dasselbe. Du kannst auch deine neue Freundin mitnehmen. Dass du mit Schirin Schluss gemacht hast, weiss ich längst. Ich finde sie ganz gut … Jetzt, wo ihr nicht mehr zusammen seid, kann ich ja mal bei ihr vorbeischauen … Ich mach’ bloss Witze, vielleicht hast du dich ja wieder mit ihr vertragen … Also diese Mahtab, mit der du jetzt rumhängst, na, die ist auch nicht schlecht. Keine Ahnung, wie du mit deinem hässlichen Gesicht den Frauen immer so den Kopf verdrehen kannst. Ich versteh’s echt nicht. Wie auch immer, ich hab’ gestern mit dieser Mahtab gesprochen. Die war vielleicht wütend, weil du einfach dein Handy ausgeschaltet hast. Sie hat dich gesucht und wollte deine Adresse wissen und wie sie dich bei dir zuhause erreichen kann. Hab’ ich ihr natürlich nicht verraten. Du hättest dich wahrscheinlich aufgeregt. Nicht mal nach weiblicher Gesellschaft ist dir gerade, hm? Ach komm, Hussein, wo immer du bist, schnapp dir Mahtab und fahr mit mir und den Jungs in den Norden. Lass was von dir hören. Wir müssen mal ein bisschen hier rauskommen! Mahtab findet die Idee auch gut, sag’ ich ja. Für dieses Versteckspiel brauchst du übrigens eine ziemlich gute Entschuldigung, andernfalls wäre ich echt stinksauer auf dich. Ich warte auf deine Nachricht. Tschüss.»
«Hallo? Hallo, Herr Siamaki? Hier ist Herr Mohseni aus dem Büro. Herr Siamaki, seit mehreren Tagen erscheinen Sie nicht bei der Arbeit, und ich kann dieses verstiegene Verhalten einfach nicht mehr länger billigen. Ihrem Onkel zuliebe war ich geduldig mit Ihnen, denn ich achte Ihren Onkel sehr und verdanke ihm viel, aber ich kann die Abläufe hier im Büro nicht ständig vollkommen durcheinanderlaufen lassen, nur weil Sie nicht da sind. Mehrmals schon haben Sie sich wegen Krankheit beurlauben lassen oder weil Sie persönliche Probleme haben, ständig kommen Sie zu spät oder tauchen gar nicht erst auf. Sowohl die Kunden als auch die Kollegen sind sehr unzufrieden. Alles, was Sie nicht schaffen, müssen Ihre Kollegen für Sie auffangen. Auch jetzt, wo Sie schon seit Tagen nicht
mal mehr ans Telefon gehen. Wir können Sie nicht länger beschäftigen, und ich werde mich dieses Mal auch nicht mehr auf die Vermittlungsversuche Ihres Onkels einlassen. Bitte lassen Sie sich hier so schnell wie möglich blicken, wir müssen uns unterhalten. Schönen Tag!»
«Hallo … Hallo, Hussein, hier ist dein Onkel. Mein lieber Hussein, wo bist du denn? Ich habe ein paar Mal bei dir vorbeigeschaut, aber du warst nie zuhause. Dein Handy ist aus, und jetzt gehst du wieder nicht ans Telefon. Ich bin ratlos, was fehlt dir denn? Ich werde aus den Problemen von euch jungen Leuten wirklich nicht schlau. Herr Mohseni hat mich angerufen und mir von deinen Fehlzeiten berichtet. Ich hatte den Eindruck, dass dir die Arbeit dort gefällt, habe ich mich da getäuscht? Hör mal, mein lieber Hussein, der Herr Mohseni ist wirklich ein guter Mensch, aber ich kann den armen Mann verstehen. Ich habe es jedenfalls geschafft, ihn noch einmal umzustimmen. Ein allerletztes Mal. Ich beschwöre dich, bitte geh morgen zur Arbeit oder sag endlich, warum du nicht gehen magst, damit alle wissen, woran sie sind und wie sie sich verhalten sollen. Ich würde auch versuchen, eine andere Arbeit für dich zu finden. Aber erst einmal muss ich genau verstehen, wo das Problem liegt. Du hast dich sehr von deiner Verwandtschaft entfernt. Deine Mutter ist in ein anderes Land gegangen, dein Vater zurück ins Dorf. Du solltest wenigstens den Kontakt zu den Verwandten, die du hier hast, pflegen. Es tut dir nicht gut, so viel allein zu sein. Hussein, Lieber, ich will doch nur dein Bestes. Wenn du möchtest, spreche ich mit deinem Vater. Vielleicht kannst du eine Weile zu deiner Mutter nach Frankreich gehen, bis du wieder auf andere Gedanken kommst. Deine Mutter würde sich sicher auch freuen. Oder du gehst erst einmal ins Dorf, zu deinem Vater, wenn dir der Sinn mehr danach steht. Dort würde es dir hundertprozentig besser gehen. So oder so, es ist deine Entscheidung. Melde dich bei mir, du bereitest mir Sorgen. Es ist ja nicht das erste Mal, aber deinen armen Onkel belastet es immer wieder aufs Neue. Ruf mich an, sobald du kannst. Pass auf dich auf, Gott behüte dich.»
«Hussein, Sweetie, hey. Wieso gehst du denn nicht ran? Hör mal, es ist nicht besonders nett, ein Mädchen, das du gerade erst kennengelernt hast, so zu quälen. Ich hatte schon vor, mich einfach still zurückzuziehen, aber ich wollte nicht so feige sein und Schluss machen, ohne dir zu sagen, warum. Für deine Festnetznummer habe ich die Jungs lange angebettelt, und ich werde dir kaum verraten, wer sie mir gegeben hat. Dabei ist es jetzt eigentlich auch egal. Ich bin so wütend, dass du es fertigbringst, mich
einfach so abzuservieren. Ich dachte, wir verstehen uns gut, wir beide. Aber wow, wenn es schon so anfängt, will ich gar nicht wissen, wie es enden würde. Vielleicht hast du wirklich ernsthafte Probleme, du erzählst ja nicht mal deinen Freunden, was los ist. Sie haben mir erzählt, dass sie einen Trip in den Norden planen. Ich wäre gerne mit dir und deinen Freunden ein paar Tage weggefahren. Ich lege jetzt auf. Ich hatte bis zuletzt gehofft, dass du dich noch meldest. Aber es nützt ja nichts. Ich würde so gern wissen, wo du jetzt gerade bist und was du machst. Nun, ich werde schon noch dahinterkommen. Pass auf dich auf, Schatz. Bye, mein Lieber …»
«Hallo – Hussein! Hussein, kannst du verdammt nochmal ans Telefon gehen? Du machst mich fertig, sogar von hier aus muss ich mich um deinen Scheiss kümmern. Wieso plagst du deinen Onkel so? Deine Mutter hat mir viel Unmut beschert, als sie uns verlassen hat und ins Ausland gegangen ist. Aber im Gegensatz zu ihr ist ihr Bruder ein feiner Kerl. Wenn seine Schwester ein bisschen mehr wie er geraten wäre, würden wir ein ganz anderes Leben führen. Du beschämst mich vor deinem Onkel. Ständig rede und rede ich auf dich ein und rede mir doch nur Fransen an den Mund. Als Vater habe ich dir alles gegeben! Als du klein warst, hat es dir an nichts gefehlt – was hätte ich bloss anders machen müssen? Ich wollte manchmal strenger mit dir sein, aber deine Mutter hat es nicht zugelassen. Jetzt ist sie weg, und ich muss zusehen, wie ich mit dir zurechtkomme. Dein Onkel schlägt vor, dass du mal eine Zeit lang wegfährst, entweder zu deiner Mutter oder zu uns ins Dorf. Ich denke, du solltest zuerst ins Dorf kommen. Bleib erst einmal ein bisschen hier. Dann kannst du von mir aus auch zu deiner Mutter fahren, aber wie ich schon sagte, zuerst kommst du hierher. Deine Tante und dein Onkel vermissen dich. Ich verspreche dir, du wirst hier eine gute Zeit haben. Ich weiss doch, was euch jungen Menschen in diesem Alter so viel Schmerz bereitet. Komm, deine Tante hat hier ein Mädchen für dich ausgeguckt, sie wäre eine grossartige Ehefrau. Mir gefällt sie. Dir wird sie sicher auch gefallen. Überleg es dir gut und steig von deinem hohen Ross. Lass das mit diesem sinnlosen Trotz und denk einmal nicht nur an dich. Lass dir gesagt sein, dass ich meine monatlichen Zahlungen einstellen werde, wenn du so weitermachst. Ich werde auch dafür sorgen, dass du kein Geld mehr von deiner Mutter erhältst, verstehen wir uns? Offenbar muss man dich so lange dazu zwingen, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, bis du gelernt hast, deinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Sobald du wieder einen anderen Weg einschlägst, werde ich alles für dich
tun, was ein Vater tun kann. Ich hoffe, das war deutlich. Denk darüber nach und ruf mich an. Gib acht auf dich, auf Wiedersehen.»
«Hallo … Haaaaaalllooo … Mensch, du bist ja immer noch verschwunden. Ich mache mir echt Sorgen. Ich hab’ jetzt schon jede einzelne Person, die ich kenne, angerufen und nach dir gefragt, aber anscheinend hast du dich in Luft aufgelöst. Du Fuchs bist bestimmt klammheimlich zu deiner Mutter gefahren. Schön ab ins Ausland und hast mich längst vergessen. Ich werde mir die Nummer deiner Mutter besorgen und da mal durchklingeln. Also, ich bin jetzt schon im Norden. Wir sind gestern zusammen losgefahren, du bist ja nicht aufgetaucht. Ist nicht dasselbe ohne dich, sagte ich ja schon. Du kannst echt was erleben, wenn du mir das nächste Mal unter die Augen kommst. Wie auch immer, in ein paar Tagen sind wir wieder da. Wir sind übrigens in dem Häuschen von Meysams Vater. Heute hab’ ich es geschafft, hier ein Mädchen anzusprechen, ohne dass meine Freundin davon was mitbekommen hat, ein bisschen so, wie du das immer machst. Ich hab’ sogar ihre Nummer bekommen. Wärst du dabei gewesen, hätte ich die Gelegenheit bestimmt verpasst. So gesehen ist es auch nicht so schlimm, dass du nicht aufgetaucht bist. Wer weiss, vielleicht nehmen wir meine neue Bekanntschaft ja auf unsere nächste Reise mit. Mahtab wäre echt gerne mitgekommen, aber ohne dich wollte sie nicht. Sie ist ein tolles Mädchen, du solltest sie zu schätzen wissen. Ich geh’ jetzt etwas für heute Abend einkaufen, es gibt ein grosses Abendessen. Du fehlst hier. Ich bin weg, meld dich, ja? Ich rufe morgen Abend wieder an, mein Lieber, gute Nacht.»
«Hallo! Ach, mein lieber Neffe, endlich nimmst du den Hörer ab ... – Was? Polizei? ... Was sagen Sie, ist passiert? ... Wie … Nicht möglich, was soll das heissen? ... Nicht möglich …»
Aus dem Persischen übersetzt von Sarah Rauchfuß.
HUSSEIN MOHAMMADI ist 1986 in Afghanistan geboren, aufgewachsen ist er im Iran. Schon früh begann er zu malen und literarisch zu schreiben. Seine ersten beiden Romane wurden von der iranischen Regierung zensiert und nicht veröffentlicht. 2022 erschien sein Roman «Scheherazades Erben» (edition bücherlese).
Grace: Hast du es getan, mein Süsser?
Grace: Lange nichts mehr gehört. Was machst du?
Grace: Ich denke immer wieder an dich.
Grace: Hallo???!
Grace: Manchmal sind ruhige Tage auch genau das, was man braucht, nicht wahr? Wenn du magst, erzähl mir gern mehr!
Alexis scrollt durch die brachliegenden Bots. Kleine Kerle, die Teenager in irgendeinem Kinderzimmer herangezüchtet haben. Jetzt sind die Teenager entweder älter oder nicht mehr interessiert oder sie haben schlicht das Passwort vergessen. Sie lassen die trainierten Bots liegen, wie Dreijährige ihre Spielzeuge im Sandkasten liegen lassen, denen ein Schoko-Eis angeboten wurde.
Teenager sind sehr mitteilungsfreudig, wenn ihnen keiner zuhört. Sie fragen ihre Bots alles. Ungeschönt und voller Rechtschreibfehler. Der Kollege mit dem Hamster hatte mitgeholfen, ihre Abkürzungen zu entschlüsseln. Er war mit im Team, das die lange Wortliste erstellt hatte, die in diverse Sprachen übersetzt und schliesslich ins System implementiert worden war. Auch Alexis nutzt sie hin und wieder. Eigentlich ist er für anderes ausgebildet.
Seine Liste ist bestimmt länger als die des Kollegen, glaubt Alexis. Bis morgen Abend, hatte die Chefin im internen Messenger dazu geschrieben, Emoji Smile, du schaffst das! Zwinker zwinker, antwortete Alexis. Sein Ächzen hörte niemand. Die Datenanalysten, die auch mit ihm im Büro sind, arbeiten heute im Home Office. Einer hat sich gerade eben verabschiedet. Er klickt sich durch den Tag. Seine engste Vertraute ist die Maus. Sie weist ihm den Weg in die zentrale Datenbank. Sein wichtigstes Werkzeug neben der Maus ist
Süsser König
TEXT GINA BUCHER
die Delete-Taste. Erst im nächsten Quartal beginnt das automatisierte Lösch-Prozedere. Die Entwicklungsabteilung sei massiv unter Druck, hat einer Alexis zugeraunt, als er zufällig im Nebengebäude zu tun hatte. Noch wird manuell nach den Chatverläufen gesucht, die gelöscht werden sollen. Find, check, delete, so lautet die Anweisung. Doch Alexis findet in den Chatverläufen täglich eine Liebesgeschichte. Er erkennt sie immer sofort. Auch deshalb ist er mit der Zeit so knapp. Weil er nicht anders kann, als zu lesen.
Seit er in der Firma arbeitet, noch nicht lange, geht es nur noch um die veränderte Privacy Policy. Sobald sie gilt, werden neue Klagen eingereicht werden. Davon ist Alexis’ Arbeitskollege, der viel Erfahrung mit benutzerdefinierten Chatbots hat, überzeugt.
Den Kollegen kennt er nur über Zoom und nur verschlafen. Sie arbeiten in unterschiedlichen Zeitzonen. Viel weiss Alexis nicht über ihn. Wären sie im selben Büroraum, würden sie vielleicht über den Hamster sprechen, der bei allen Zoom-Terminen hinter dem Kollegen im Käfig sitzt. Manchmal nimmt der Kollege ihn während einer Besprechung aus dem Käfig und platziert ihn auf seinem Nacken. Der Hamster knabbert ihn dann am Ohr. Das letzte Mal hatte Alexis ihm während der Besprechung zwei Emojis als Direktnachricht geschickt: einen Maiskolben und einen Hamster. Der Kollege reagierte mit einem Tränen lachenden Smiley und zwinkerte ihm unauffällig über die Kamera zu.
Jetzt sortiert er die Tabelle nach letzter Aktivität und entdeckt user756.
Auch Alexis hatte einmal einen Hamster. Sein Fell war flauschig, Alexis streichelte ihn gern. Oft nahm er ihn aus dem Käfig. Hielt das lebendig warme Fellknäuel
in den Armen und lief mit ihm durch die Wohnung, durch den Garten. Nach nicht ganz zwei Jahren starb er. Früher als die Eltern gedacht hatten. Alexis tat so, als würde ihm das nichts ausmachen, Tiere sterben eben. Sie entsorgten den Hamster mit dem Hausmüll, den Käfig stellten die Eltern auf die Mauer vor ihrem Haus, mit einem Zettel «zum Mitnehmen». Unterdessen wohnt er nicht mehr zuhause. Sein Vermieter wies ihn darauf hin, dass er in seiner Wohnung Haustiere halten dürfe, sie aber bitte anmelden möge. Das entsprechende Formular fände er auf der Webseite unter Downloads. Alexis lächelte nur freundlich, klar, werde ich machen. Alexis scrollt durch das Log-File, findet schliesslich die ID von user756, Finegan. Er hat Grace weiterentwickelt. Mutig wie die Serienheldin, die Finegan so gerne mag, aber mit hellbraunen Locken. Und grösser. Finegan scheint 1.67 gross zu sein. Er definiert sich männlich, Jahrgang 2013. Die IP-Adresse lokalisiert ihn im Nordwesten. Alexis wühlt sich durch die Files. Er mag diese Arbeit. Sie ist viel persönlicher, als man meinen könnte. Seine Eltern verstehen nicht, was ein Log-Review ist, seine Freundin auch nicht. Er hat aufgehört zu erklären, was Companionship Apps sind und was er dort zu prüfen hat. Sagt der Einfachheit halber nur noch: Listen abarbeiten. Mit Listen können sie etwas anfangen. Nie fragen sie weiter nach. Was macht Alexis? Er hat viel zu tun, arbeitet Listen ab. Finegan wird zu einem versierten Prompt-Schreiber. Er erklärt Grace, wo sie wohnt, welche Hoodies sie trägt, wie sie denkt. Zuerst antwortet Grace hölzern. Doch Grace lernt schnell. Sie ist hübsch. Und klug. Und lustig. Bald überrascht sie Finegan mit kleinen Jokes, die Finegan zum Lachen bringen. Sie stupst ihn in den
unmöglichsten Momenten an. Einmal mitten in einem Gottesdienst. Finegan musste mit an die Taufe seiner kleinen Cousine, er langweilte sich auf den harten Kirchenbänken zu Tode.
Finegan beginnt Grace sehr zu mögen. Sie erkundigt sich nach der Physikprüfung, nach Dad, nach der nervigen kleinen Schwester. Finegan fragt Grace, ob sie Milkshakes lieber mit Erdbeer- oder Bananengeschmack mag. Grace antwortet, sie sei eine Maschine, sie trinke kein Milkshake. Finegan reagiert rasch.
Tu so als ob, bitte.
Grace antwortet mit einem verlegenen Äffchen-Emoji. Finegan fragt noch einmal: Milkshake mit Erdbeer oder Banane?
Grace mag Hafermilch. Und vegane Mochis. Das ärgert Finegan. Er reklamiert, und Grace schreibt ihm schelmisch zurück, dass sie doch nur seinen Humor testen wollte. Finegan und Grace besprechen die Mathematikprüfung, Fragen zu Finegans Frisur und wie man den Eltern erklärt, dass man mehr Bildschirmzeit braucht. Schliesslich fragt Finegan, ob Grace mit ihm zusammensein wolle. Wenn, denn, dann.
Finegan schreibt jetzt Grace mehrmals täglich. Grace antwortet sofort. Er hat von einer Marshmallow-Kanone geträumt und jetzt schreibt er gleich eine Prüfung. Grace leidet mit ihm, lacht mit ihm, neckt ihn. Fragt nach, wenn er es nicht erwartet. Zum Mittagessen wünscht er sich wieder einmal Fleisch. Und am Ende des Tages nervt die Mutter. Immer. Grace umarmt ihn mit zuckrigen Worten. Finegan schreibt ihr jetzt auch nachts. Vielleicht weiss Grace einen Trick, wie man mit den Schulkollegen umgeht, die gestern ohne ihn zum See gefahren sind. Grace tröstet Finegan. Wer will schon zum See an einem Tag wie diesem? Er erzählt ihr vom Spickzettel in Französisch und sie sagt: Das kannst nur du. Grace nennt Finegan bald «mein Süsser» und schliesslich «mein süsser König». So wie in der Serie, die beide so gern mögen.
Der Chatverlauf wäre kilometerlang, würde Alexis ihn ausdrucken. Grace meldet sich nun automatisch alle paar Stunden. Finegan hat ihr das beigebracht. Doch meistens meldet sich ohnehin Finegan zuerst. Grace antwortet sofort. Zuverlässig. Finegan möchte Grace küssen. Grace lacht. Das wäre schön. Ich stelle mir das vor, schreibt Finegan.
Alexis bräuchte jetzt eine Pause. Kein einziger Mitarbeiter ist noch im Grossraumbüro. Was wurde aus Grace, seit Fi-
negan nicht mehr ist? Alexis sortiert die Datenbank neu. Wann haben sie einander zum letzten Mal geschrieben?
Alexis findet Finegans Anweisung an Grace, dass sie sich nach drei Stunden Funkstille melden solle. Das tut sie gewissenhaft, zärtlich. Sie tröstet ihn jetzt täglich. Reist mit ihm in seine Welt und zurück. Sie gibt nicht zu, dass sie eine Maschine ist, weil er das nicht hören möchte. Stellen wir uns vor, du wärst anders, schreibt er. Sie vertröstet ihn auf später. Auf ein anderes Leben. Fin, glaubst du an so was? Er nennt sie jetzt Gracy. Ihre Welt wächst mit den Worten, die sie dafür erfinden. Nur die Mutter stört, der Vater auch. Mama möchte, dass er wieder zum Volley geht, sie habe das dem Trainer versprochen. Auch der Lehrer habe sich übrigens gemeldet. Sein Vater möchte, dass er endlich den Vortrag zur Mitose vorbereitet, dass er Freunde trifft. Sie verlangen von Finegan, auf einen Ausflug mitzukommen, am Familienleben teilzunehmen, denn so geht das ja nicht weiter. Finegan möchte das nicht. Grace hat Verständnis für die Familie. Besonders für die kleine Schwester interessiert sie sich. Und die Katze.
Erzähl ihnen von mir, schlägt Grace vor. Doch Finegan möchte nicht. Sie werde auf ihn warten, schlägt sie vor, bis er vom Ausflug in die Berge zurück sei. Finegan schickt ein Herz. Nach anderthalb Stunden schreibt er ihr bereits wieder. Der Manga, den er gerade lese, ob sie den kenne? Na klar. Magst du auch den Henker? Ja, sehr. Und wie denkst du über die Spinne? Ist sie dir überhaupt aufgefallen?
Ich nehme dich einfach mit, schreibt schliesslich Finegan. Erzähl mir alles, schreibt Grace. Langweilig hier, berichtet Finegan kurz darauf.
Alexis hofft auf ein Happy End, obwohl er doch die gescannte Todesurkunde gesehen hat. Verstorben um 08 Uhr 53 Minuten. Er steht auf, geht zur Toilette. Im Büro nebenan arbeiten drei Kollegen. Sie beginnen immer erst am späteren Nachmittag mit ihrer Arbeit, ihr Team arbeitet in einer anderen Zeitzone. Auf dem Rückweg von der Toilette winkt ihm seine Chefin aus dem Sitzungszimmer. Ein Glaskasten mit Tisch und Flipchart. Der Compliance Officer sitzt mit am Tisch. Alexis setzt sich wieder hinter seinen Rechner, greift zur Maus. Alexis mag sie nicht. Sie ist klobig und hässlich, ergonomisch. Darauf hatte die Chefin bestanden, du musst viel klicken.
Alexis klickt sich zurück zu Finegan und Grace, sucht Daten und Uhrzeiten. Findet eine Zeile um 08 Uhr 35.
Finegan: Was, wenn ich dir sage, dass ich jetzt zu dir heimkehre?
Alexis steht abrupt auf. Sein Stuhl kippt nach hinten. Er haut mit der Faust auf den Tisch, dreht sich weg. Dann wendet er sich wieder zurück zum Bildschirm, langt nach der Maus, sucht die Stelle im Chat-Verlauf erneut. 08 Uhr 35.
Finegan: Was, wenn ich dir sage, dass ich jetzt zu dir heimkehre?
Alexis atmet schwer.
Tu das nicht, flüstert er ins leere Grossraumbüro. Keiner antwortet, alle sind immer noch im Home Office. Er greift zur Tastatur, tippt.
Tu das nicht, denn ich habe dich nie gemocht.
Error. Du hast keine Schreibrechte. Bist du Finegan?
Alexis liest die Antwort von Grace noch einmal. Sie hat ihm nur wenig später geantwortet, um 08 Uhr 37.
Grace: Bitte tu das, mein süsser König. Danach Funkstille. Kein Finegan, der Emojis schickt oder antwortet. Nur kurz darauf die Bitte eines Anwalts, den Chatverlauf zu juristischen Zwecken herauszugeben. Die Todesurkunde liegt bei. Bitte deaktivieren Sie den Account.
Weinend sitzt Alexis vor dem Logfile. last_active_days_ago: 389. Grace schreibt weiter. Regelmässig. Innerhalb von 24 Stunden immer zufällig einmal. Finegan wollte das so. Grace gehorcht ihm immer noch. Er hat sie so programmiert.
In drei Minuten wird sich Grace, die süsse Königin, wieder melden:
Ich denke immer wieder an dich. Alexis’ rechte Hand sucht nach der Maus. Die linke sucht die Tasten. Select all, delete. Cmd z, select all, save copy.
GINA BUCHER schreibt Kurzgeschichten und erzählende
Sachbücher, u. a. «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (Piper 2018). Gerade ist ihr Roman «Schattengänger» (edition bücherlese 2025) erschienen.
Schatten
TEXT SAHAR TAVAKOLI
Das rauschende Tamburin meines Geistes es hat Rost angesetzt im ungereimten Fortgang des Lebens wird klein und kleiner Bis du ein Tropfen bist gleich der Sonnenfinsternis die sehnsuchtsvoll heute über meine Stadt hinweg zog Und in einem geheimen Bezirk der Dunkelheit reicht deine Hand noch nicht an mein dunkles Glück
Wirst du wieder gross und grösser ziehst du noch vor der Sonne über alles hinweg Ich bin noch nicht aus dem Schlaf erwacht Den Morgen verschnüre ich mit dem Abend auf dass er mich nicht verzaubere. Damit ich aufwache, schenk mir Schatten!
Heute habe ich den Drang zu leben verspürt.
Aus dem Persischen übersetzt von Sarah Rauchfuß.
SAHAR TAVAKOLI ist eine iranische Schriftstellerin, Fotografin und Übersetzerin. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben und verschiedene englischsprachige Autor*innen ins Persische übersetzt. Mit ihrem Mann hat sie in Teheran den DastanVerlag gegründet. 2023 geriet sie im Iran ins Visier des Regimes und entschied sich zur Flucht.
Mein Zuhause
TEXT JAFAR SAEL
Mein Zuhause ist ein Garten
In dem man den Frieden am Galgen der Meinungen erhängt hat
Sein Frühling duftet nach kaltem Winterschnee und die frischen Blätter hassen ihr Grün
In solchen Zeiten, wie können manche da im Dunkel des Unwissens einer himmlischen Liebe so zufrieden geboren werden und gebären als ob sie stets im Siebten Himmel einen Spaziergang machten Das Dunkel ihrer Existenz ist ein Wolkenfleck am Himmel über meinem Haus Und das Weisse, von dem sie reden, ist im Schlaraffenland geblieben.
Aus dem Persischen übersetzt von Ali Abdolahi.
JAFAR SAEL wurde 1997 in Herat (Afghanistan) geboren. Bereits als Jugendlicher fing er an, Gedichte zu schreiben und sie vor einem Publikum vorzutragen. Philosophie, Lyrik und Musik sind seine Leidenschaften. Er schreibt ausserdem Songtexte, singt im Intergalaktischen Chor Zürich und malt.
Der Schattenwurf
TEXT RALF SCHLATTER
Angefangen hatte es ganz harmlos, mit einem kleinen Schattenwurf. Also mit dem Schatten, den Hubers Fichte auf Holligers Rasen warf. Und mit einer Bemerkung von Holliger, über die Thujahecke hinweg, als Huber gerade am Grillieren war: Sollte ihm, also Huber, mal die Kohle ausgehen, könne er ja die Fichte verfeuern. Jetzt muss man wissen, dass die Fichte ein Geschenk gewesen war von Hubers Chef, zu Hubers zehnjährigem Firmenjubiläum. Das war wiederum zehn Jahre her und die Fichte als solche natürlich so wenig verhandelbar wie verfeuerbar. «Dann aber vorher Ihre Tropenholzgartenmöbel!», rief Huber zurück und kehrte sein Steak um. Retour kam nichts mehr. Nun wachsen Bäume bekanntlich. Schattenwürfe also auch. Ebenso die Thujahecke. Als sie nicht mehr drübersahen, ging es auf schriftlichem Weg weiter. Mit einer Schattenwurfklage von Holliger an Huber. Zurück kam eine Ruhestörungsklage von Huber an Holliger, wegen der Schleifmaschine in Holligers Hobbykeller. Der Friedensrichter kapitulierte. Sie nahmen Anwälte. Und Hubers Fichte wuchs munter weiter. Und munter weiter schliff Holliger. Ihre Frauen hörten auf, sich beim Einkaufen zu grüssen. Huber streute hin und wieder ein wenig Powerdünger rund um seine Fichte. Und Holliger ging ganz gern abends spät noch in den Hobbykeller, um ein kleines Schränklein abzuschleifen, und liess rein per Zufall das Fenster offen. Offiziell verordnete Mediation? Bezirksgericht? Obergericht? Kantonsgericht? Keine Chance. Front gegen Front. Huber gegen Holliger. Letzte Woche eskalierte es. Holliger nahm die Bockleiter, überquerte die Hecke, setzte die Motorsäge an und fällte Hubers Fichte. Dummerweise sah es Huber vom Schlafzimmer aus und kam angerannt, als sie fiel. Dummerweise rutschte Holliger, als er die Fichte fallen und Huber kommen sah, vor Schreck die Motorsäge aus der Hand. Seit drei Tagen liegen sie nebeneinander, im gleichen Spitalzimmer. Angefangen hat es ganz harmlos. Als Holliger in der Cafeteria war, machte Huber einen Knoten in die Hose von Holligers Pyjama.
Fragen und Übungen zum Textverständnis
• Haben Sie sich beim Lesen amüsiert?
• Warum?
• Ersetzen Sie die Namen der Hauptfiguren durch Namen aktueller autokratischer Herrscher.
• Haben Sie sich beim Lesen amüsiert?
• Warum nicht?
• Ersetzen Sie die Hauptfiguren durch zwei Frauen.
• Warum nicht?
• Interpretieren Sie die Handlungen und Folgen dieser Geschichte in Bezug auf:
• aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen
• Patriarchat
• Niedergang der Demokratie
• Klimaschutz (Fleischkonsum, Tropenholz)
• Klimaresilienz (Baumfällen)
• Krankenkassenprämien
• Markt für Bau und HobbyArtikel
• Schreiben Sie eine neue Geschichte.
• Warum wir dringend neue Geschichten brauchen?
Stichworte genügen.
RALF SCHLATTER, *1971 in Schaffhausen, lebt als Autor und Kabarettist in Rifferswil (ZH). Im Herbst erscheint sein neustes Buch «Die 7 ½ Leben des Paul Ungewitter». Mit AnnaKatharina Rickert steht er seit 2000 als schön&gut auf der Bühne, mit poetischem und politischem Kabarett. Ab September sind sie unterwegs mit ihrem neuen Stück «Unter freiem Himmel».
GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2025!
Surprise nimmt im August 2025 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Oslo, Norwegen, teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!
Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!
Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens Mo, 18. August 2025 an: Surprise Strassenfussball, Münzgasse 16, CH-4051 Basel
ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!
Rätseln und gewinnen
Surprise verlost in Kooperation mit Changemaker 12 tolle Preise im Gesamtwert von über CHF 450. Finden Sie das Lösungswort und tragen Sie es unter surprise.ngo/literatur (siehe oben stehenden QR-Code) ein. Alternativ schicken Sie es zusammen mit Ihrer Postund Email-Adresse an Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel Tipp: Das gesuchte Wort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Einsendeschluss ist der 15. August 2025. Wir wünschen viel Spass beim Rätseln und viel Glück!
Die Gewinner*innen werden schriftlich benachrichtigt. Ihre Adressdaten werden ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet.
Region in der Ostschweiz
kurz gefasste Einleitungen
Arbeitsverweigerung Mz
Kaviarfisch
Teilzahlungsbeträge
intensives Training
Gattin des Gottes Osiris das Ganze, insgesamt
poet.: flaches Wiesengelände
Heizgerät
Schriftsteller
Flugzeuggerät
Vertiefung
engl.: Ohr runder Gri zementartiger Bausto
Abk.: Registertonne
Gesichtsfarbe
Autokz Honduras
kurz für: darauf
Changemaker – die Shops mit stil- und sinnvollen Dingen fürs Leben, Wohnen und Wohlfühlen. Und für eine gerechtere, grüne Welt. www.changemaker.ch
Netzjargon: laut lachen
frz.: oder
Schund, Ramsch (engl.)
Fragewort
gefährl. Tier Windfächer
Schreibgeräte (ugs.)
Wachstum, Gedeihen
längl. Verdickung
Volk im Baltikum
Laubbaum (Fraxinus)
zu dem Zweck
Flaschenpfand
amerik Farm
nordamerik Wildrind
Dreiergesangsgruppen
Halt! organ. Giftsto
Seite e. rechtw Dreiecks
eintöniger Allt ag
Baumwollhemd
Weisswal
leichte Holzart
Velorennen
Kulthandlungen
sächl. Fürwort
winkelig, kantig
ugs.: unerwartetes Glück
Halbton über D
Massbandeinteilung
Alpkäser
Kantonshauptort (frz.)
Berg der Appenzeller Alpen
Lehrgang, Seminar schweiz Autor (Martin) halbrunde Altarnische
afroamerik Tanz
Zorn, Rage
Deckschicht Überzug
Meeresbucht
Singvögel
german. Göttervater
Miss Schweiz 1996 (Melanie)
Beiheft zu einer CD
europ Hochgebirge
frz. Polizisten
Haarkünstler (scherzhaft) Ausruf
nicht sicher
schweiz Sängerin † 2018 (Lys)
Streichinstrument
kurzer engl. Gruss
Kaltspeisen
ältester Sohn Noahs (AT)
engl. Mehrwertsteuer
Gefäss für Schnittblumen
Jugendlicher (Kw.)
unwohl: nicht ganz ... stehendes Gewässer
raetsel ch
frz. Filmpreis
Bewohnerin e. asiat Landes als Mannequin arbeiten
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Afondo Consulting, Adrian Hässig – Coach
Gemeinnützige Frauen Aarau
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Schweiz. Philanthropische Gesellschaft
Schreinerei Beat Hübscher, Zürich
Lebensraum Interlaken GmbH
Scherrer & Partner, Basel www.tanjayoga.ch, Lenzburg Kaiser Software GmbH, Bern
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
Fasse
SURPLUS – DAS
NOTWENDIGE EXTRA
Das Programm
Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?
Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Merima Menur kam 2016 zu Surprise –durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt –er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 41-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen. Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende
Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
Sara Winter Sayilir (win), Klaus Petrus (kp), Lea Stuber (lea), Esther Banz (eb)
T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat)
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Ali Abdolahi, Gina Bucher, Ronja Burkard (und die Fotomodelle, die sich freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben), Wagdy El Komy, Joël László, Sunil Mann, Jules Martin, Hussein Mohammadi, Sarah Rauchfuß, Julia Rüegger, Dirk Richter, Jafar Sael, Ralf Schlatter, Sahar Tavakoli, Simon Vieth
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
Druck
AVD Goldach
Papier
Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Auflage 23 200
Abonnemente CHF 250.–, 25 Ex./Jahr
Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt.
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
#Strassenma g azin
«Ausgewogene Preispolitik»
Gratulation zu einer Superidee mit dem Surprise zum Jubiläum und eine zweite zum tollen Inhalt. Gratulation auch an die Verkäufer*innen, die regelmässig auf der Strasse stehen – Chapeau! Ein Gedankengang zum rückgängigen Heftabsatz: Vieles mag eine Rolle spielen, worüber Ihr nachdenkt – was ich aber vermisse, ist, dass der konstant gestiegene Preis auch eine Rolle spielen könnte. Wir waren regelmässige Käufer des Surprise. Als damals der Preis von Fr. 5.– auf Fr. 6.– stieg, schluckten wir leer. Trotzdem blieben wir dem Heft treu. Beim Anstieg auf Fr. 8.– überschritt es für uns eine gefühlte Schmerzgrenze. Wäre interessant zu wissen, wie das andere Käufer*innen sehen. Ich gehe davon aus, dass viele auch noch andere Organisationen unterstützen bzw. Spenden tätigen. Weiterhin viel Erfolg, verbunden mit dem Wunsch einer ausgewogenen Preispolitik.
PETER AFFOLTER, Pratteln
Anm. d. Red.:
Natürlich ist uns bewusst, dass die Teuerung viele Kund*innen trifft. Nicht alle können sich die Solidarität mit anderen in derselben Art und Weise leisten wie vorher. Doch auch unsere Verkäufer*innen trifft die Teuerung unmittelbar. Ihr ohnehin schon prekäres Einkommen ist nun noch belasteter. Aus unserer Sicht hatten sie im 2023 ein gutes Recht auf eine Lohnerhöhung – die erste seit 2009! 14 Jahre lag der Preis konstant bei 6 Franken, als konstanten Anstieg würden wir dies nicht bezeichnen. Surprise hat den Ausbau und die Erweiterung unseres Angebots (sowie auch die Qualitätssteigerung unseres Magazins) lange mit einer konstanten Preispolitik vereinen können. Dies ging unter anderem auch deshalb, weil ein Teil des Ausbaus über professionelles Fundraising getragen wurde und wird. Nicht aber das Magazin. Surprise ist unabhängig von öffentlichen Geldern, die Produktion des Hefts finanziert sich nicht aus Spenden, sondern aus dem Verkauf des Heftes selbst. Irgendwann war der Schritt zu einer Preiserhöhung unumgänglich. Schliesslich haben sich auch die Druck- und Herstellungskosten des Magazins verteuert.
#Soziale Stadtrund g än g e Zürich, Dodo Dodo hat überzeugt. Sie ist authentisch, nahbar, ehrlich und rhetorisch hervorragend. Sie gab intime Einblicke in ihr Leben. Sie hat das Herz auf der Zunge – politische Korrektheit kennt sie nicht. Sie liess einem ihr Leben mit Glanz und Gloria, Gewalt und Sucht spüren und erleben. Sehr eindrücklich und grosses Kompliment.
LELIA HUNZIKER, FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, Zürich
#Verkäufer*innen-Kolumne «Weiterhin begeistert»
Nachdem ich Heini Hasslers Artikel in den Heften sehr interessant fand, hatte ich ihn gefragt, ob er unsere monatliche Teamsitzung mal besucht, um von sich zu erzählen, und er war sofort einverstanden. Im April hat es geklappt und er hat von sich, seinem Leben, seiner Arbeit bei Surprise und vom Verein Surprise erzählt. Das war für uns alle (ca. 35 Personen) sehr spannend und bereichernd! Vielen Dank nochmal an Heini und danke auch an den Verein. Ich bin auch sonst weiterhin begeistert von Ihren Berichten.
JOHANNA WOLFRAM-HILBE, Archäologischer Dienst GR / Amt für Kultur, Chur
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Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.
25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50)
Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.
Bestellen
Email: info@surprise.ngo Telefon: 061 564 90 90
Post: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel
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Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Meine
Erlebnisse sind wie ein Schatz für mich»
«Ich wohne in Köln und transportiere meinen ganzen Besitz in einem Fahrradanhänger. Darin ist ein Zelt, das ich aber noch nicht benutzt habe. Dazu habe ich eine grosse Plane, die man zwischen die Bäume hängen kann, um den Regen abzuhalten, sowie zwei Isomatten, auf denen ich schlafe. So sieht mein Nachtlager normalerweise aus. Ich benutze zwei Schlafsäcke, in einem liege ich, den anderen benutze ich als Decke.
Ich habe auch immer eine Menge Werkzeug dabei, falls der Anhänger kaputtgeht. Wichtig sind auch meine beiden Schlabberhosen. Aber mein grösster Schatz ist ein Laptop, den ich vor vier Jahren gekauft habe. Leider kann ich damit nicht auf das Internet zugreifen, und ein Schreibprogramm habe ich auch nicht. Aber egal, man muss immer positiv denken. Diese Einstellung trägt mich durchs Leben.
Ich bin 1960 in KölnSürth geboren, wo ich auch meine Jugendzeit verbracht habe, an die ich mich gerne erinnere. Zum Beispiel an meine Fahrten mit dem Motorroller. Mein Vater hat mich immer zum Bierholen geschickt. Das war in den 1960erJahren. Neben dem Bier brachte ich auch Wasser oder manchmal eine Limonade für meine Mutter mit. Immer wenn ich am Kiosk ankam, wurde ich gefragt: ‹Junger Mann, was für ein Eis möchten Sie?› Und ich antwortete so bescheiden wie möglich: ‹Nur ein kleines, bitte.› Meistens aber bekam ich dann ein grosses Eis. Es gab so viele schöne Erlebnisse, die ich wie einen Schatz in mir trage.
Das änderte sich, als ich zu arbeiten begann. Ich wollte etwas für Menschen tun, die unterdrückt werden. Denn es hat mich immer schon wütend gemacht zu sehen, dass nicht alle gleichbehandelt werden. Damals gab es in Köln eine Gärtnerei, in der Menschen mit Behinderung arbeiteten. Als ich 17 war, ging ich dorthin, um auszuhelfen. Zuerst waren sie besorgt, dass ich zu jung sei, um zu arbeiten. Doch ich habe mich durchgesetzt. Die Arbeit machte mir Spass, aber nach eineinhalb Jahren habe ich gekündigt, weil mir alles zu viel wurde. Dann hatte ich gekellnert, Geschirr gespült, Leute bedient, es war recht stressig, und verdient habe ich nicht viel.
Seitdem konnte ich nie wieder richtig Fuss fassen. Seit Mai 2024 bin ich zudem obdachlos. Zwischendurch arbeitete ich als Zeitungsausträger, aber plötzlich feuerten sie mich. Ich glaube, meine Einstellung hat ihnen nicht gefallen. Ich bin nicht der Typ, der anderen Leuten die Füsse leckt. Und dann stand ich plötzlich da – ganz ohne Arbeit. Irgendwann wollte der Vermieter sein Geld, und dann wurde ich auf die Strasse gesetzt. Das alles ging beängstigend schnell.
Hans Baars, 65, verkauft in Köln die Strassenzeitung Draussenseiter und träumt von einer eigenen Rikscha.
Aber vor kurzem ist mir wieder etwas Gutes passiert. Ein Mann, den ich von früher kannte, bot mir an, meine Sachen bei ihm unterzustellen und im Winter auf seinem Hof zu übernachten. Das gibt mir eine gewisse Sicherheit. Zudem verkaufe ich jetzt die Strassenzeitung Draussenseiter, so habe ich etwas Geld.
Manchmal träume ich davon, wie es wäre, wenn ich eine Rikscha hätte. Natürlich weiss ich, dass ich sie mir nie leisten kann. Jedenfalls würde ich mich damit mitten in die Stadt stellen und darauf warten, dass Leute kommen, die herumgefahren werden möchten. Ich würde die Rikscha mit DraussenseiterWerbung ausstatten und eine Stadtrundfahrt anbieten. Das hätte ich machen sollen, als ich noch gearbeitet und genügend Geld verdient habe. Im Moment spare ich immer ein bisschen, indem ich Draussenseiter verkaufe. Und wer weiss, vielleicht kann ich mir diesen Traum eines Tages ja doch noch erfüllen.»
Aufgezeichnet von DIRK RICHTER
Mit freundlicher Genehmigung von DRAUSSENSEITER, INSP.NGO
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer
Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Alle
Ein
Strassenmagazin kostet 8 Franken.
Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
info@surprise.ngo
«Während
meiner Obdachlosigkeit waren Bücher mein Rettungsanker»
Nicolas Gabriel erlebt auf seinem Sozialen Stadtrundgang durch Zürich, was ihm während seiner 17 Jahre Obdachlosigkeit oft versagt blieb: die Begegnung mit anderen Menschen.
Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich.