Surprise 480/20

Page 11

Warum Robin Hood Grün trug TEXT  MILENA MOSER

Der Regen prasselte aufs Autodach. Romy schloss die Au­ gen. Sie hatte keine Lust auszusteigen. Keine Lust auf die Sprüche der Kollegen. «Flitterwochen zuhause, was?» Das hatte sie nun davon, dass sie einen so viel jüngeren Mann geheiratet hatte. Einen Ausländer auch noch! Der Gedanke an Chidi, der bereits seit drei Stunden wieder bei der Arbeit war, mit tadellos sitzender Uniform und nach Rasierwasser duftend, gab ihr die Kraft, das Radio auszuschalten und auszusteigen. Sie nahm die Schachtel mit dem Süssgebäck vom Rücksitz und zog sich den Mantelkragen über den Kopf. Bis sie den Eingang er­ reicht hatte, war sie klatschnass und die Schachtel bog sich bedenklich. Drinnen wurde sie mit Pfiffen und Johlen begrüsst. Sie stellte die Schachtel mit dem Gebäck im Pausenzimmer ab, zog den Mantel aus und deutete eine Verbeugung an. «Sind das Schoggigipfel?», fragte Toni scheinheilig und öffnete die Schachtel. «Oder darf ich das jetzt auch nicht mehr sagen?» «Ach was, Romy hat Humor! Nicht, Romy?» Karin, die einzige Frau im Team, konnte mit Tonis Sprüchen leicht mithalten. Nur Martin hatte den Anstand, die Augen zu verdrehen. «Hab ich was verpasst?», lenkte Romy ab. «Wie viele entlaufene Katzen habt ihr eingefangen, während ich weg war?» «Ha, das weisst du ja gar nicht: Wir hatten einen Bank­ überfall», sagte Toni mit vollem Mund. Einen Moment lang starrte sie auf seinen offenen Mund, das halbzerkaute Gebäck darin, dann wandte sie sich ab. «Das glaubst du nicht, gell. Das einzige Mal, dass hier wirklich was passiert, und du bist nicht da!» «In unserer kleinen Filiale hier», sagte Karin. «Wo gibt’s denn sowas!» «Eben, in unserer kleinen Filiale hier», murmelte Mar­ tin, und Romy verkniff sich ein Grinsen. «Keine Gewaltanwendung, keine grosse Beute, unter zehntausend Franken», fuhr er fort. «Und keine brauch­ bare Beschreibung der Täter.» Romy runzelte die Stirn. «Moment», sagte sie. Gedan­ kenverloren zupfte sie eine Zimtschnecke auseinander. «Kam das eben im Radio? Das hab ich doch in den Lokal­ nachrichten gehört.» «Nein, das kann nicht sein, wir haben noch keine Mit­ teilung gemacht.» «Aber …» Das Telefon klingelte, der Arbeitstag begann, und sie vergass die ganze Sache wieder. Erst am Nachmittag, als sie eine Kaffeepause einlegen wollte und sich fragte, ob Surprise 480/20

wohl noch ein Mandelgipfel übrig wäre, fiel es ihr wieder ein. Sie loggte sich ins System ein und las die Zeugenaus­ sagen durch, die Karin zu Protokoll genommen hatte. Doch das Einzige, was die nicht besonders traumati­ siert wirkende Bankkauffrau mit Sicherheit sagen konnte, war, dass der Täter – oder die Täterin – schon älter sein musste. «Kurze graue Haare, oder vielleicht auch halblang. Schwer zu sagen.» Freundlich sei er – oder sie – gewesen, habe sich erkundigt, wie ihr Tag verlaufe und wie es ihren Kindern gehe. «Also kannten Sie ihn?» «Oder sie … Nein … ich weiss nicht …» Die unscharfen Aufnahmen der Überwachungskamera gaben auch keinen Aufschluss, allenfalls konnte man fest­ stellen, dass die Körperhaltung der Person, die sich im Schalter ihren Rucksack mit Geldscheinen füllen liess, nichts Bedrohliches an sich hatte. Romy scrollte durch die Pressemitteilungen der letz­ ten Wochen und fand schnell den Vorfall, der heute Mor­ gen im Radio erwähnt worden war. Neugierig geworden, ging sie weiter zurück und durchsuchte dann auch die Mitteilungen der umliegenden Kantone. In den letzten drei Monaten waren siebzehn fast identische Überfälle durchgeführt worden. Immer in kleinen Filialen und ohne Gewaltanwendung, und immer handelte es sich nur um kleinere Beträge von unter zehntausend Franken. Es gab nicht eine einzige brauchbare Beschreibung des Täters oder der Täterin, es war nicht einmal klar, ob es sich um eine oder mehrere Personen handelte. Freundlich waren sie gewesen. Darin waren sich alle Betroffenen einig. Jede einzelne dieser Ermittlungen war im Sand verlaufen. Hatte wirklich niemand das Muster erkannt, das Romy nach fünf Minuten schon aufgefallen war? Und sie war noch nicht mal Polizistin! Sie druckte die Suchergebnisse aus und zeichnete die relevanten Stellen mit Leuchtstift gelb an. Dann steckte sie die Blätter ordentlich in eine blaue Mappe. Martin war nicht an seinem Pult. Als sie am Pausenzimmer vorbei­ ging, hörte sie seine Stimme: «Ein Schweizer war ihr wohl nicht gut genug», und dann Karins wieherndes Lachen. Sie steckte die Mappe in ihre Handtasche und nahm das Handy heraus, das sie während der Arbeitszeit pflicht­ bewusst stumm schaltete. Wann kommst du nach Hause, Prinzessin? «Jetzt.» Ein halbes Jahr früher Sie hatte es mit Atmen versucht. Vier Sekunden ein­ atmen, sieben Sekunden den Atem anhalten, acht Sekun­ 11


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Surprise 480/20 by Surprise Strassenmagazin - Issuu