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davon gehen CHF 4.–an die Verkäufer*innen

Ferienzeit

Und, wo warst du?

Nicht alle können verreisen. Drei Frauen erzählen vom Zuhausebleiben.

Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

«Egal wie gross die Hürden sind, Aufgeben ist keine Option»

Lucy Oyubo erzählt auf ihrem Sozialen Stadtrundgang durch Basel, wie sie über Migration, Krankheit, Unfälle und eine Scheidung in die Schuldenspirale geriet - und wie sie mit vielen Jobs dagegen ankämpft.

Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich.

Editorial

Nicht alle fahren in die Ferien

Als wir uns dazu entschlossen, über Ferien zu schreiben – genauer: darüber, wieso manche nicht verreisen –, nahm mich wunder, was eigentlich dieses seltsame Wort «Urlaub» bedeutet. Mit urtümlichen, verwelkten Blättern hat es nichts zu tun, es stammt angeblich aus dem Mittelhochdeutschen und heisst so viel wie: die Erlaubnis zu gehen, oder pathetischer: Abschied zu nehmen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird es zusammen mit dem Wort «Ferien», das seinerseits vom Lateinischen stammt und «Festtage» bedeutet, verwendet, um die Unterbrechung der Arbeit zum Zwecke der Erholung zu bezeichnen.

Nun ist das gewiss der Witz von Ferien: sich zu erholen. Allerdings wissen die meisten von uns aus Erfahrung, dass die Ferienzeit dazu oft nicht ausreicht und wir uns just dann zu entspannen beginnen, wenn es wieder heisst: Koffer packen und ab nach Hause. Zudem bedeuten Ferien oft auch: anstrengende Anreise, ringhörige Hotelzimmer, miesepetriges Personal, quengelnde

4 Aufgelesen

5 Na? Gut! Ein Jahr ohne Verkehrstote

5 Vor Gericht Theater im Gericht

6 Verkäufer*innenkolumne Fana und Tsion

7 Moumouni antwortet Kann die Entscheidung von anderen uns verändern?

8 Ferien Wenn andere verreisen 14 Bettelverbot 16 Stigmatisiert und kriminalisiert

Kinder, dazu noch Wind und Regen. Wären wir doch zuhause geblieben, Ferien auf Balkonien – wie erholsam ein Urlaub daheim doch sein kann!

Fast eine Million Schweizer*innen bleiben tatsächlich zu Hause, die meisten unfreiwillig: Sie können sich Ferien schlicht nicht leisten. Ihnen fehlt nicht bloss der viel zitierte «Tapetenwechsel», also die Möglichkeit, für einmal der gewohnten Umgebung zu entfliehen, aus dem Hamsterrad des Alltags auszubrechen, sich etwas Neues zu gönnen, abzuschalten, durchzuatmen. Sie fallen auf, weil sie stumm bleiben, wenn die anderen davon erzählen, was sie alles erlebten, welchen Spass sie hatten und wie besonders dies war und wie einzigartig alles übrige. Wie sehr Ferien mit Status und Zugehörigkeit verbunden sind, darüber erzählen in dieser Ausgabe drei Frauen aus der Region Bern, ab Seite 8.

17 Die Situation in der Schweiz

18 In der Zeit der Nazis

20 Journalismus Eine Stimme für den Südjemen

24 Film Betreibung von der Kirche

25 Buch Frauengeschichte

26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse Pörtner in Buchs SG

28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise­Nachruf Jelena HoferAndjelkovic

KLAUS PETRUS Redaktor

Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Würde für Tauben

Marta Broll vom Verein Stadttauben-Initiative Dresden setzt sich für das Wohl von Stadttauben ein. Sie betrachtet sie als ausgesetzte Haustiere und möchte ihnen zu einem würdigen Leben und mehr Akzeptanz verhelfen. In Dresden herrscht wie in vielen anderen Städten ein Fütterungsverbot. «Durch das Verbot wird unsere unabhängige Arbeit quasi in die Kriminalität gedrängt», sagt Broll. Tauben als reine Körnerfresser fänden in der Stadt weder ausreichende noch die richtige Nahrung. In der Folge greifen die Vögel auf alles zurück, was sich bietet. In der Stadt seien das vor allem Abfälle.

DROBS, 06/2025, DRESDEN

Social Media als Gefahr

Rund 1,3 Mio. junge Menschen in Deutschland zeigen laut der Krankenkasse DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf eine riskante oder pathologische Nutzung sozialer Medien. Das sind mehr als 25 Prozent aller 10- bis 17-Jährigen. 2019 lag die problematische Social-Media-Nutzung nur bei 11,4 Prozent. Heute gelten 4,7 Prozent als abhängig; Jungen sind mit 6 Prozent fast doppelt so häufig betroffen wie Mädchen (3,2 Prozent). Täglich nutzen die Befragten mehr als 2,5 Stunden Social Media.

HEMPELS, #350 JULI 2025, KIEL

Royalszu Besuch

Hitzefalle Strasse

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) weist auf die akute Gefährdung obdachloser Menschen durch extreme Hitze hin: Ohne Zugang zu Schatten, Trinkwasser oder einen geschützten Aufenthaltsort sind sie den Temperaturen schutzlos ausgeliefert. Hitze gilt als das grösste klimabedingte Gesundheitsrisiko in Deutschland. Im Alltag können Bürger*innen einen Beitrag leisten: Wer obdachlose Menschen in der prallen Sonne bemerkt, sollte Hilfe anbieten – etwa in Form von Wasser, einem schattigen Platz oder Sonnenschutz.

Ein Jahr ohne Verkehrstote

In der finnischen Hauptstadt Helsinki ist während eines ganzen Jahres – von Juli 2024 bis Juli 2025 –keine einzige Person im Strassenverkehr ums Leben gekommen. Mit ihren 690 000 Einwohner*innen ist sie eine der grössten Städte, die das je geschafft hat. Verkehrsunfälle gab es zwar, doch ebenfalls weniger als früher: im vergangenen Jahr waren es 277 Unfälle mit Verletzten, Ende der 1980er-Jahre noch etwa 1000 Verletzte und 30 Tote. Schon 2019 war ein Erfolgsjahr für Helsinki, damals war zum ersten Mal kein*e Fussgänger*in bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Dennis Pasterstein von der Polizei Helsinki sagte gemäss dem «Helsingin Uutiset»: «Das zeigt, dass die langfristige Arbeit an Verkehrssicherheit, Infrastruktur und Überwachung Früchte trägt.» Ein wichtiger Faktor dafür ist das Tempo 30. Es gilt auf mehr als der Hälfte der Strassen Helsinkis, insbesondere in der Nähe von Kindergärten und Schulen.

Ein weiterer Faktor ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs. So nehmen mehr Leute den ÖV statt das Auto – was zu weniger Unfällen führt. Hauptziel der Stadtverwaltung ist es, die Sicherheit für Kinder, Fussgänger*innen und Velofahrer*innen zu erhöhen. Dafür wurden auch Zebrastreifen und Velowege ausgebaut. Kinder und Jugendliche lernen zudem, sich sicher im Verkehr zu bewegen. Im aktuellen Strategiepapier der Stadt spielt neben Tempo 30 auch die Gestaltung der Strassen eine wichtige Rolle. Schmalere Strassen mit Bäumen wirken bremsend auf Autofahrende. LEA

Vor Gericht

Theater im Gericht

Als Kabuki-Theater beschrieb der französische Soziologe Loïc Wacquant einmal Verhandlungen am Strafgericht: eine ritualisierte Form des traditionellen japanischen Theaters mit Gesang, Verkleidung und einer klaren Rollenverteilung. Am Bezirksgericht Baden konnte man vor kurzem wieder einmal eine solche Aufführung verfolgen. Angeklagt war ein 30-jähriger Mann aus Algerien. Die üblichen Fälleler-Vorwürfe, die die Staatsanwaltschaft hochkant als gewerbsmässigen Diebstahl einstuft – in diesem Fall aus Autos –, daneben Sachbeschädigung, mehrfacher Hausfriedensbruch und natürlich: Widerhandlung gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz. Fünf Vorfälle sind in der Anklageschrift aufgeführt, alle derart amateurhaft ausgeführt, dass der Beschuldigte dafür eigentlich Nachhilfeunterricht verdient hätte. Einmal soll er die Scheibe eines Fahrzeugs eingeschlagen haben, ohne etwas aus dem Auto zu entwenden. Zweimal soll er versucht haben, die Eingangstür eines Hauses zu öffnen – erfolglos, da die Türen abgeschlossen waren. Nur einmal war er erfolgreich: Als er bei einem unverschlossenen VW Polo die Beifahrertür öffnete und eine Coca-ColaDose sowie ein Baseball-Cap einsteckte. Deliktsbetrag: ca. 42 Franken.

seine kriminellen Aktivitäten» gemacht, donnert sie. «Keine Bagatelle» sei das, sondern eine «systematische Einbruchserie». Und «das eigentlich Erschreckende»: «die völlige Gleichgültigkeit gegenüber unserem Rechtssystem!» Es sind rhetorische Grosskaliber, die die Staatsanwältin auf den 42-Franken-Dieb abfeuert, und sie wirken dermassen deplatziert, dass man sich fragt, warum niemand im Saal in lautes Gelächter ausbricht. Nur der Beschuldigte blinzelt alleweil freundlich. Er spricht kein Deutsch und sein Übersetzer, den das Gericht aus unerfindlichen Gründen nicht am Rand, sondern zwischen die Richter*innen platziert hat, bleibt während der Plädoyers stumm. So hört der Beschuldigte auch den Zynismus nicht, mit dem die Staatsanwältin ihre Rede beendet: «Er hatte alle Chancen. Er hätte sich integrieren können, hätte von der Sozialhilfe leben können ...».

Der 30-Jährige, der aktuell wegen einer anderen Sachbeschädigung im Bezirksgefängnis Zofingen einsitzt, hockt derweil da in schwarzen Crocks, einer kurzen, grauen Trainerhose und Fussfesseln, die eng an der Haut liegen. Die Vorwürfe bestreitet er grösstenteils nicht, sagt nur, dass er zum Tatzeitpunkt von Alkohol und Kokain benebelt gewesen sei. Seine Verteidigerin weist darauf hin, dass er keine grosse kriminelle Energie aufgewendet habe: «Mehr als ungeschickt hat er sich angestellt.» Die trockene Replik der Staatsanwältin: «Inkompetenz schützt vor Strafe nicht.»

An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Die Staatsanwältin, vielleicht angesteckt von den patriotischen Wallungen, die bei der Fussball-EM die Schweiz erfassten, schmettert ein Plädoyer voller Pathos und geistiger Landesverteidigung hin. Der Beschuldigte habe «unser Land zur Bühne für

Dieser Meinung ist offensichtlich auch das fünfköpfige Gerichtsgremium. Es verurteilt den Mann zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten und zu einer 10 Jahre dauernden Landesverweisung.

WILLIAM STERN ist Gerichtsreporter in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Fana und Tsion

Fana: Tsion und ich kannten uns schon in Eritrea. Aber man erzählt nicht herum: Ich gehe jetzt auf die Flucht. Man erzählt es seiner Familie nicht, den Bekannten nicht. Man geht einfach.

Tsion: Deswegen haben wir uns aus den Augen verloren. Ich fühlte mich schlecht, weil ich Fana nicht erzählt hatte, dass ich gehen würde. Viele Jahre später haben wir uns in Zürich wieder getroffen. Fana hat mich über Facebook gefunden. Ich wusste nicht, dass sie auch hier in der Schweiz ist.

Fana: Eritreer*innen, die am gleichen Ort aufgewachsen sind und jetzt in der Schweiz leben, veranstalten alle drei Monate ein Treffen. Einmal in Lausanne, einmal in Bern, jedes Mal in einer anderen Stadt. Tsion und ich sind uns trotzdem nie über den Weg gelaufen.

Tsion: Als wir uns wiedergefunden hatten, gingen wir gemeinsam ans nächste dieser Treffen und überraschten unsere alten Freund*innen.

Fana: Tsions Grossmutter war die Nachbarin meiner Eltern. Es gibt Dutzende Geschichten über diese Grossmutter.

Tsion: Ich liebte sie. Ich liebe ältere Menschen. Meine Grossmutter hat keinen Beruf gelernt, aber sie war Geschäftsfrau und vermietete Zimmer. Einmal, ich hatte meine Grossmutter soeben gewaschen und ins Bett gebracht, kam Fana bei uns vorbei. Sie wollte mit mir über einen Jungen reden. Aber aus Respekt gegenüber älteren Menschen spricht man nicht einfach so über Flirts. Fana fragte mich deshalb auf Englisch: «Schläft deine Grossmutter noch nicht?» Die Grossmutter reagierte sofort: «Warum willst du nicht, dass ich zuhöre?!» Sie hat nie Englisch gelernt, aber sie verstand einfach immer alles.

Fana: Am Treffen mit unseren eritreischen Freund*innen erzählten wir fünf Stunden lang von Erinnerungen aus unserer Kindheit und Jugend. Zum Beispiel eben von dieser.

TSION YOHANS, 59, und FANA TESFAY, 53, verkaufen Surprise in Zürich.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Moumouni antwortet

Kann die Entscheidung von anderen uns verändern?

Letzthin hat Surprise mal wieder meinetwegen eine Zuschrift erhalten. Ein aufgebrachter Martin regt sich so sehr über die von ihm zuletzt gelesene Kolumne auf, dass er Rache nehmen muss – an der Surpriseverkäuferin seines Vertrauens; er schreibt:

«Mit der Ausgabe des Surprise 603 endet mein Engagement für die weniger privilegierten Menschen, die Sie mit Ihren Bemühungen und dem Magazin zu unterstützen versuchen. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine längere Stellungnahme und Ausführungen zum ‹Artikel› von Frau Moumouni in besagtem Magazin. Jedermann/frau, der diese unreflektierte, unrecherchierte, unhöfliche, unprofessionell hingeschluderte Schlagwortdümmlichkeit nur ansatzweise hinterfragt, wird zum Schluss kommen, von dieser Plattform schleunigst Abstand zu nehmen. Vielleicht wird Frau Moumouni sich die Zeit nehmen, der

Surprise­Verkäuferin Im Eingang des Migros Hinterkappelen, Gemeinde Wohlen BE zu erklären, warum durchaus weltoffene, sozial denkende Schweizer*innen aufgrund ihrer polemischen Schreibe keine Lust mehr haben, sich via SurpriseKauf für sie als Betroffene grosszügig zu engagieren.»

Ich soll wohl bestraft werden, denn ich habe ihn um seine soziale Art und Grosszügigkeit gebracht. Kündigt mir nun vielleicht die Redaktion? Da ich seit zehn Jahren für Surprise schreibe, ist das natürlich auch ein fixer Teil meines Einkommens, Unsicherheit macht sich breit. Was, wenn sich das herumspricht? Dass ich unhöflich, unprofessionell und unreflektiert bin! Bekomme ich überhaupt noch andere Aufträge? Ich zittere ständig, kann mich kaum beruhigen. Die ETH meldet schon kleine und doch besorgniserregende seismische Veränderungen. Wenn das so weitergeht, brechen noch

kleine Steine, erst aus dem Haus, in dem ich wohne, dann aus den Strassen und letztendlich aus einigen Bergen, und das könnte ganze Bergrutsche verursachen. Wer will schon, dass sich in der Schweiz etwas bewegt! Ich muss mich zusammenreissen!

Der bemängelte Text ist einer, in dem ich die Suizidversuche aufgrund der schlechten Bedingungen im Ausschaffungsgefängnis Kloten sowie den gewaltsamen Tod von Michael Kenechukwu Ekemezie in Obhut der Polizei in Lausanne anprangere. Dazu kritisiere ich noch die «Schweiz­ist­Wow Kampagne», der ich eine toxische Positivität zuschreibe: Immer, wenn etwas kritisiert wird, kommt vehement zurückgeschrien, was doch alles gut ist. Warum kann ich mich nicht integrieren? Es gibt doch so vieles, was schön ist in der Schweiz –warum schreibe ich denn nicht mal darüber?! Die armutsbetroffenen Verkaufenden könnten so eine positive Botschaft verbreiten. Zu spät, jeder hat seine Chance. Die Zeit, die ich sonst mit Kolumnenschreiben verbrachte, verbringe ich nun weinend. Womöglich führt Surprise jetzt eine Regel ein: Nur noch Texte, die gefallen, besonders Reichen, dürfen abgedruckt werden, damit es ihnen leichter fällt, sozial und grosszügig zu sein. Logisch: Dann kaufen sie mehr Hefte, und das ist ja das ultimative Ziel –warum sollten die eigenen Autor*innen das sabotieren? Man muss die Meinungsfreiheit nicht überstrapazieren – eine Stimme, eine Geschichte und ihr Gehörtwerden muss man sich verdienen.

Apropos verdienen: Ein Grossteil dieses Textes ist nicht von mir verfasst, sondern von unserem sozialen Herrn. Mein Honorar habe ich somit gar nicht verdient und werde es deshalb spenden. An die Surpriseverkäuferin in Wohlen. Aus Solidarität. Wir sind dem Martin nämlich beide egal.

Meckert gerne noch ein bisschen weiter und findet, an ihrer Kolumne kann man auch einfach vorbeiblättern, wenn sie nervt.

FATIMA MOUMOUNI

Grüsse von daheim

Ferien Verreisen bedeutet mehr als Erholung. Es ist Teil einer Selbstverwirklichung geworden, die viel mit Prestige zu tun hat. Wie geht es denen, die zuhause bleiben müssen?

TEXT KLAUS PETRUS FOTOS DAVID FÜRST

Waren Sie diesen Sommer auch weg? Für eine Woche, zehn Tage? Oder verschieben Sie die Ferien auf den Spätherbst, wenn die Tage kürzer werden, die Sonne weniger? Geht es nach Italien, Spanien, nach Griechenland oder auf Mallorca? Oder zieht es Sie eher nach Hamburg, Paris, Lissabon oder London? Dann entspricht das ziemlich genau dem durchschnittlichen Reiseverhalten von Schweizer*innen: Gemäss Bundesamt für Urlaub. Zu den beliebtesten Destinationen gehören die südlichen Länder Europas und Nordafrikas, Städtereisen sowie die Schweiz selbst; 8,4 Millionen Ausflüge mit Übernachtungen waren es 2023. Eine Umfrage des Schweizer Unternehmens Swiss Bankers von 2024 hat ergeben, dass mehr als ein Drittel der Befragten mit einem Reisebudget zwischen 2000 und 4000 Franken plant, etwa 20 Prozent geben über 6000 Franken aus. Was aus Statistiken und Umfragen auch hervorgeht: Der Massentourismus ist weniger beliebt als auch schon. Statt auf Urlaub mit einem standardisierten Paket setzt man auf individuelle Reiseerlebnisse. Die Gründe sind vielfältig. Der Massentourismus ist in den vergangenen Jahren etwa aufgrund seiner negativen Auswirkungen auf die Umwelt in Verruf geraten. Zudem hat der Urlaub offenbar an Exklusivität eingebüsst: Für viele ist die berufliche Tätigkeit mit Reisen verbunden, Mobilität wird so zur Normalität. Auch scheint es bei Ferien um mehr als um blosse Erholung von der Erwerbsarbeit zu gehen. Man sucht im (angeblich) «Fremden» etwas Anregendes, Interessantes, Herausforderndes. Im Zentrum steht das Bedürfnis, sich auf Reisen selbst zu verändern, die Suche nach Inspiration und einem authentischen, lebendigen, echten Leben vor Ort.

In diesem Verständnis von Ferien – oder wie man wohl eher sagen müsste: vom Unterwegssein – ist nicht das Standardisierte im Vordergrund, sondern das Einzigartige, das Besondere: besondere Formen des Reisens an besondere Orte in besonderen Momenten mit besonderen Menschen. Das mögen Fahrradreisen mit Freund*innen durch Südchina sein, Wanderungen mit Einheimischen auf dem Balkan, Erkundungen in den Stadtvierteln von Mailand mit einem befreundeten Paar, eine Zugfahrt nach

Istanbul mit den Geschwistern oder ein Aufenthalt auf einem Maiensäss in den Walliser Bergen mutterseelenallein. Für den Soziologen Andreas Reckwitz gehören solche besonderen Ferien zum Lebensstil einer «Gesellschaft der Singularitäten», die in möglichst allem das Einzigartige aufzuspüren meint (auch wenn es so besonders vielleicht gar nicht ist), dies entsprechend inszeniert und etwa in Form von Posts auf den Sozialen Medien für Familie, Freunde und Bekannte sichtbar macht.

Daraus erwächst, so Reckwitz’ These, eine Art «Singularitätskapital»: Indem man beispielsweise auf besondere Weise Ferien verbringt, macht man sich selber zu jemand Besonderem, zu einer weltoffenen, vielseitigen, interessierten Persönlichkeit, die in den Augen anderer Anerkennung verdient. Dieses Prestige lässt sich – und deshalb redet von Reckwitz von «Kapital» – durchaus gewinnbringend nutzen, so etwa im beruflichen Umfeld, aber auch im sozialen Miteinander oder auf dem Partnerschaftsmarkt.

Nichts verpassen

Im Umkehrschluss heisst das: Menschen, die sich keine besonderen Ferien – oder überhaupt keinen Urlaub – leisten können, haben weniger Singularitätskapital oder womöglich gar keines. Und fühlen sich entsprechend abgehängt oder ausgegrenzt. Der Grund ist häufig ein naheliegender: Es fehlt an Geld oder an Zeit, sich seinen Urlaub – der in erster Linie Erholung von der oft sowieso beschwerlichen Arbeit bieten sollte – entsprechend aufwendig zu kuratieren. Das gilt insbesondere dann, wenn der Alltag darin besteht, irgendwie über die Runden zu kommen, sich durchzubeissen und durchzuwursteln – ob als Person mit Sozialhilfe, als Working Poor oder als alleinerziehende Frau. Die ausgeprägte Sichtbarkeit des Besonderen, was andere alles machen oder sind, kann zu einem Druck führen, «mithalten» zu müssen, oder zu einer Enttäuschungshaltung, etwas «verpasst» zu haben. Wie damit umgegangen wird, welche Gegenreaktionen oder Abwehrstrategien entwickelt werden, erzählen im Folgenden drei Frauen, die diesen Sommer daheimbleiben mussten.

Paola Aranda: «Weggehen liegt kaum drin, Ausland eh nicht. Vor allem mit einem Kind.»

Paola Aranda arbeitet in einer Schneiderei und lebt in Bern

«Gestern waren wir – mein Freund, mein vierjähriges Kind und ich – im Aquabasilea in Pratteln. Das war toll, es gibt da ein Piratenschiff und Wasserrutschen. Ein Eintritt kostet irgendwas über 40 Franken, das könnten wir uns nicht leisten. Ich habe die Tickets auf Tiktok gewonnen, meine Mutter hat uns dann mit dem Auto hingefahren.

Als Kind war ich oft in den Ferien, ich bin in um einiges besseren Verhältnissen aufgewachsen, auch wenn meine Mutter einmal kurz davorstand, zum Sozialdienst gehen zu müssen. Mal drei Monate in Bali, dann Tunesien, immer wieder Frankreich und Spanien. In Spanien waren wir fast jedes Jahr, wir konnten das Ferienhaus von Freund*innen meiner Eltern mieten, direkt am Strand. Einmal durfte ich eine Freundin mitnehmen, das war besonders schön.

Ich selber habe keine Freund*innen mit Ferienwohnungen in den Bergen oder an schönen Orten, da fehlen mir die Kontakte. Und in der Schweiz in ein Hotel gehen –das kann ich vergessen. Ich beziehe Sozialhilfe und arbeite zudem in einer Schneiderei. Weggehen liegt kaum drin, Ausland eh nicht. Vor allem mit einem Kind. Wie lange würde mein Sohn für die Anreise überhaupt stillsitzen mögen? Was würde er gerne sehen? Und ein Zimmer mit Doppelbett würde für uns drei nicht reichen. Deshalb waren wir mit ihm bisher nicht gross weg. Ich möchte unbedingt mal nach Amsterdam. Wir schauten uns die Preise für den Flixbus und für Airbnbs an – doch es wäre zu teuer geworden.

Wenn ich Zeit hätte und Geld, würde ich mit meinem Kind nach Bolivien reisen. Mein Vater kommt aus Bolivien, Verwandte von mir leben da. Bis ich nicht mehr Sozialhilfe beziehe und mir einen Flug nach Bolivien leisten kann, verbringe ich die Ferien also in Bern. Mit meinem Kind gehe ich oft in den Monbijoupark, er mag den Sandkasten und das Klettergerüst dort. Oder wir gehen in den Kocherpark und spielen Fussball. Und wenn es regnet, sind wir daheim.

Ausflüge, die kosten, unternimmt mein Sohn eher mit meiner Mutter oder mit meinem Vater. Als die Kita eine Woche zu war, übernachtete er einmal bei meiner Mutter. Sie besuchten den Seeteufel in Studen, einen kleinen Tierpark, und am nächsten Tag gingen sie Pferde schauen. Ein anderes Mal war er mit meiner Schwester und meinem Vater in Thörishaus auf einem Campingplatz. Ich glaube, das war ein schönes Erlebnis für ihn, mal etwas ganz anderes. Und ich geniesse es dann, einfach mal auszuschlafen und daheim zu sein, eine Serie zu schauen oder an die Aare zu gehen.»

Aufgezeichnet von LEA STUBER

Pascale Pohl ist Künstlerin sowie SurpriseVerkäuferin und lebt in Twann am Bielersee

«Ich habe die halbe Welt gesehen. Es war mir immer wichtig, nicht nur mein Dorf, mein Quartier zu kennen. Ich wollte raus, wollte geniessen und meinen Horizont erweitern. Jetzt würde ich mich freuen, könnte ich mal einen Monat in den Nationalpark gehen. Und alles mit meinen Sinnen beobachten und wie einen Schwamm aufsaugen. Mit der Natur in Kontakt sein. Einfach sein. Ich würde nach Poschiavo gehen und dort die Kirche zeichnen, zum Lago Bianco auch und ins Bergell.

Ich bin oft mit meinem Generalabonnement unterwegs, bezahlt wird es von meiner Schwester. Einen ganzen Monat im Nationalpark kann ich mir aber nicht leisten, das ist nicht gratis. Und wenn ich nicht arbeite, kommt nichts rein. Mit meiner IV­Rente und den Ergänzungsleistungen muss ich gut aufs Geld schauen. Als Künstlerin arbeite ich sowieso immer, es ist ein intuitives Arbeiten, ich lasse mich inspirieren, bin aufmerksam.

Als ich mit zwanzig nach Kanada ging, hatte ich nur das Flugticket nach Montréal im Sack – und einen Wunsch. Ich wollte den Sankt­Lorenz­Strom überqueren, den drittgrössten Fluss Nordamerikas. Ich fragte mich also: Wie mache ich das? In Montréal übernachtete ich in der Jugendherberge, am nächsten Tag ging ich ins Reisebüro. Den Sankt­Lorenz­Strom überqueren, ob das möglich wäre? Nein, hiess es zuerst. Wir redeten ein bisschen, und ich zeigte ihnen den blauen Strich auf meiner Weltkarte, den ich entdeckt hatte – die Schiffslinie. Schliesslich reservierten sie für mich eine Kajüte auf dem Frachtschiff und erklärten mir, wie ich da hinkomme – zehn Stunden mit dem Bus. Auf dem Frachtschiff waren wir dann elf Stunden unterwegs, bis wir drüben waren. Wie auf dem Meer. Für mich war das ein grosser Traum. Und ich merkte: Voilà, ein Wunsch, der lässt sich realisieren.

Als ich im Coop arbeitete und meine ersten Ferien hatte, ging ich ins RBS­Reisebüro – ich wollte auf Mallorca. Als ich mit dem ganzen Zeug nach Hause kam, sagte meine Mutter: ‹Geht’s dir eigentlich noch, so viel Geld ausgeben für eine Woche Ferien? Das hätte ich nie gemacht.› ‹Du, hör mal›, sagte ich zu ihr, ‹da kann ich doch nichts dafür! Ich leiste mir das jetzt.› Ein Fünf­Sterne­Hotel, ich wusste eigentlich gar nicht, was das ist. Ich wollte das einmal erleben. Sagen wir es so: Es war eine interessante Erfahrung, aber das mache ich nicht mehr.

Inzwischen meditiere ich oft, lese ein gutes Buch –gerade ist es ‹Inséparables: Les destins croisés de la Terre et de la vie› der Astrobiologin Nathalie Cabrol. Oder ich gehe spazieren oder wandern. Ruhig sein und in mich gehen – das geniesse ich.»

Aufgezeichnet von LEA STUBER

Pascale Pohl: «Ein Fünf-SterneHotel, ich wusste eigentlich gar nicht, was das ist.»

Lena Käsermann ist teils angestellt als Co-Leiterin des Jugend- und Kulturzentrums Gaskessel, teils freischaffend als Autorin; sie lebt mit ihrer Tochter in Bern

«Ferien mit einem kleinen Kind bedeuten für mich vor allem eines: Alltag unter erschwerten Umständen. Allein mit einer Dreijährigen irgendwohin fahren, acht oder zwölf Stunden unterwegs sein, ankommen, sich eingrooven – und dann musst du auch schon wieder nach Hause. Das ist anstrengend.

Meine Tochter liebt Routine. Sie ist glücklich, wenn sie ihre Früchte zum Zvieri hat, eine Glacé aussuchen darf, baden und Skateboard fahren üben kann. Den Wunsch nach einem Tapetenwechsel habe eher ich – geprägt durch die Ferien meiner Kindheit. Wir sind mit dem Auto immer ans Meer gefahren, und ich liebte es. Ich war fast an jeder europäischen Küste.

Doch diese nostalgischen Bilder passen in meiner jetzigen Situation nicht zum Sommer. Darum blieben wir hier und machten uns eine schöne Zeit. Keine Kita, keine Arbeit, einfach freie Tage zusammen. Es fühlte sich an wie ein verlängertes Wochenende. Wir gingen baden, machten Mittagsschlaf, liessen dem Tag seinen Lauf.

Obwohl es für mich die richtige Entscheidung ist: Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich an etwas gescheitert. Ich spüre auch die gesellschaftlichen Erwartungen. Es gibt diesen unterschwelligen Druck: Man macht Ferien, weil man eben Ferien macht, in der Erwartung, sich vom Rest der Zeit zu erholen. Dabei ist das doch auch eine Illusion, gerade für Mütter. Familienurlaub sei ein Wider­

spruch in sich, sagte mir einmal eine andere Mutter. Du erholst dich nicht, wenn du 24/7 mit Kindern zusammen bist und den Grossteil des Mental Loads und der Care­Arbeit trägst – egal, wo.

Im Sommer vor einem Jahr waren wir mit einer Gruppe auf einem Campingplatz am Meer. Es war schön dort. Sehr. Aber es war auch sehr streng – die permanente Präsenz, das Kümmern von früh bis spät. Bei anderen Familien nahm ich teilweise Spannungen und Stress, vielleicht enttäuschte Erwartungen wahr. Das ist wie bei Menschen, die monatelang allein reisen, um sich finden. Ich glaube nicht, dass das klappt. Du nimmst dich und deine Themen immer mit.

Auch bei Ferien ist die Norm immer noch die heteronormative Kleinfamilie. Mama, Papa, zwei Kinder. In der Vorstellung und bei den Angeboten geht es oft um die vierköpfige Familie aus der oberen Mittelschicht. Alternative Konstellationen kommen nicht vor. Man rechnet nicht mit einer Gruppe von zum Beispiel fünf Freundinnen und ihren Kindern. Wenn beispielsweise acht statt vier Wochen Ferien gesetzlich vorgegeben wären, gäbe es weniger Druck, ‹richtig› und ‹erholsam› Ferien zu machen, nur um wieder zu funktionieren. Dann wäre beides entspannter, der Alltag und die Ferien.»

Aufgezeichnet von DAVID FÜRST

Lena Käsermann: «Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich an etwas gescheitert.»

Bettelverbot Menschen auf der Strasse gelten seit jeher als Sicherheitsrisiko – und werden dementsprechend stigmatisiert und kriminalisiert. Auch in der Schweiz.

«Betteln ist Ausdruck einer Not»

Die Repression gegen Bettler*innen nimmt zu. Probleme würden damit keine gelöst, im Gegenteil, sagt der Soziologe Tim Lukas. Bessere Rezepte seien längst bekannt.

INTERVIEW BASTIAN PÜTTER ILLUSTRATIONEN JANNE MARIE DAUER

Tim Lukas, Sie forschen an der Universität Wuppertal als Soziologe zu Bevölkerungsschutz, Katastrophen hilfe und Objektsicherheit. Das legt erst einmal nicht nahe, mit Ihnen über Betteln und Obdachlosigkeit in Innenstädten zu sprechen.

Tim Lukas: Stimmt. Ich komme aber aus der Kriminalsoziologie und Kriminologie. Unser Fachgebiet beschäftigt sich nicht nur mit Grossschadenslagen, wie die Begriffe Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe vermuten lassen, sondern im Falle meiner Forschungsgruppe auch mit Alltagskriminalität, Ordnungsstörungen und Sicherheitsgefühlen im öffentlichen Raum.

Inwieweit beeinträchtigen denn obdachlose oder bettelnde Menschen die Sicherheit?

Zunächst einmal ist Sicherheit ein menschliches Grundbedürfnis. Die tatsächliche Gefahr, Opfer von Kriminalität zu werden, ist dabei nur sehr indirekt mit dem subjektiven Gefühl von Sicherheit verbunden. Letzteres ist stark von persönlichen Erfahrungen, von medialen und gesellschaftspolitischen Diskursen geprägt. Dabei stehen die subjektiv wahrgenommenen Ängste vor kriminellen Übergriffen und die objektive Bedrohung durch Wohnungslose in der Regel nicht miteinander in Einklang.

In Ihrer Forschung zum Umgang mit sozialen Randgruppen sprechen Sie von «Versicherheitlichung». Was ist damit gemeint? Wir beschreiben damit einen Prozess, der soziale Probleme zu Sicherheitsproblemen umdeutet. Betteln, auch das sogenannte aggressive Betteln, ist erst einmal Ausdruck einer sozialen Not: extreme Armut, vielleicht in Verbindung mit einer Suchterkrankung oder anderen Problemlagen. Damit Bettler*innen nicht mehr als Personen erscheinen, denen man mit Mitgefühl begegnet, sondern die man als Sicherheitsproblem wahrnimmt, muss eine Umcodierung stattfinden, die das Betteln ins Feld der Ordnungspolitik schiebt.

Viele Städte haben bereits oder möchten derzeit Betteln stärker reglementieren. Da verbinden sich StadtmarketingIdeen mit der «Versicherheitlichung», die Sie beschreiben. Was wäre denn eine Alternative zu Ordnungsstrafen und Platzverweisen oder zu grösser angelegten, repressiven Massnahmen wie Bettelverboten?

Zunächst einmal: Man muss für Wohnungen sorgen, wenn man die Zahl der Menschen reduzieren will, deren Lebensmittelpunkt der öffentliche Raum ist. Das ist eindeutig die beste Idee. Es wäre wirklich an der Zeit, Konzepte wie «Housing First» aus den experimentellen Pilotierungsphasen in den Regelbetrieb zu überführen. Wir wissen aus zahlreichen Evaluationen, dass es effizienter und viel erfolgversprechender ist, die Problemlagen der Betroffenen ausgehend von ihrem eigenen sicheren Wohnraum zu bearbeiten. Und, im Kontext unserer Fragestellung: Sie entlastet den öffentlichen Raum. Daneben ist es auch wichtig, sich mit den Toleranzschwellen der Menschen in der Stadt intensiver zu beschäftigen. Denn Leben in der Stadt bedeutet grundsätzlich immer auch die Begegnung mit dem Fremden. Und dazu gehört auch Abweichung und vielleicht abweichendes Verhalten. Diese Konfrontation abzuschaffen würde bedeuten, dass wir die Stadt als solche abschaffen. Der öffentliche Raum war und ist neben vielem anderem auch ein Raum der Zumutungen, und da müssen wir bestimmte Phänomene auch einfach aushalten.

Mit der Forderung nach Toleranz gewinnt man keine Wahlen. Das stimmt. In Deutschland haben wir reale Krisen in den Innenstädten der Grossstädte und gleichzeitig sehen wir eine seit Langem abnehmende Bereitschaft, Alltagsirritationen zu akzeptieren. Die politische Antwort ist dann oft tatsächlich die beschriebene Verschiebung in Richtung ordnungspolitischer Lösungen. Darin liegen aber auch Chancen. Für die Innenstädte – und da ähneln sich die Grundsituationen erstmal – sind die Vorschläge, die oft von konservativer Seite ins Spiel gebracht werden, zwar weder zielführend noch nachhaltig, aber die Aufmerksamkeit führt dazu, dass jetzt wirklich über Lösungen nachgedacht wird. Die Stadt Dortmund beispielsweise hat lange auf Verdrängung gesetzt, im Kern haben diese Ansätze die Probleme nur verschärft. Jetzt entstehen Debatten über progressive Konzepte wie aus der Schweiz stammende Ansätze in der Drogenhilfe oder Ausweich- bzw. Toleranzflächen für Suchtkranke und Wohnungslose. Dazu muss man aber auch sagen: Jenseits der unmittelbar betroffenen Nachbarschaft gibt es für die Verdrängung von vulnerablen Gruppen aus dem öffentlichen Raum in aller Regel auch keinen Applaus.

Wenn über Unsicherheit und öffentlichen Raum gesprochen wird, stehen soziale Randgruppen in der Regel nur als Auslöser und als Objekte ordnungspolitischer Massnahmen im Fokus. Sie haben in Ihrer Forschung die Perspektive gewechselt. In zwei Forschungsprojekten in Düsseldorf und Köln haben wir uns mit den Angsträumen obdachloser und drogennutzender Menschen beschäftigt. Im Ergebnis zeigte sich, dass Kriminalisierung und Kontrolle ein hohes Mass an Unsicherheit erzeugen – und dies bei Menschen, deren Lebensumstände ohnehin durch existenzielle Ängste geprägt sind. Da die Betroffenen auf die Infrastruktur der Innenstädte angewiesen sind, steht ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Raum im Widerspruch zu ihrem häufig sogar höheren Schutzbedarf. Ein sinnvoller Diskurs über Sicherheit darf deshalb nicht allein die Mittelschicht der Mehrheitsgesellschaft einbeziehen. Sicherheit ist auch für von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen essenziell. Ich war selbst schockiert über das Ausmass der Herabwürdigungen, Angriffe und Diebstähle, über die uns Betroffene berichtet haben. Auch aus dieser Perspektive zeigt sich die Bedeutung sicherer Rückzugsräume wie die genannten Toleranz- oder Ausweichflächen, also von Orten, die für die Strassenszenen geschaffen werden.

Kritiker*innen würden einwenden, dass es doch nicht darum gehen kann, die Stadt allein «obdachlosenfreundlich» zu machen. Solche spezifischen Orte zu schaffen, steht gar nicht im Widerspruch zu dem, was auch den Innenstädten insgesamt hilft: Aufenthaltsqualität, mehr Grün, mehr Sitzgelegenheiten. Wo Innenstadtbereiche breit und vielfältig genutzt werden, ist sichtbare Armut nur ein Teilaspekt. Um das zu veranschaulichen: In einer Zukunftswerkstatt zum Wuppertaler Bahnhofsbereich habe ich einmal, weil Sicherheit als wichtiger Wunsch genannt wurde, die üblichen Instrumente auf eine Flipchart geschrieben: Videoüberwachung, Aufenthaltsverbote, Alkoholverbote, mehr Polizei, mehr Ordnungsamt. Und die Teilnehmer*innen waren sich bald einig: Das wird ein total toter Ort. Und von da aus entwickelten sie Vorstellungen von einer vielfältigen Nutzung, zu der eben auch die erwähnte Toleranz gehört. Ich glaube, das ist ein Modell.

TIM LUKAS ist Soziologe und Akademischer Rat im Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit an der Bergischen Universität Wuppertal. Dort leitet er die Forschungsgruppe Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Kriminalprävention und der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung.

Das Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung von BODO, BOCHUM/DORTMUND

Wie die Schweiz mit Bettelnden umgeht

Ab dem Spätmittelalter ergreifen Schweizer Städte erstmals Massnahmen gegen das Betteln. Diese richten sich in erster Linie gegen «betrügerische und auswärtige» Bettler*innen. Schon der erste eidgenössische Beschluss gegen die Bettelei vom 17. September 1474 zielte auf die Ausweisung fremder Bettler*innen aus eidgenössischen Territorien ab. Die ersten generellen Bettelverbote folgten in der frühen Neuzeit. Zunehmend wurden repressive Massnahmen eingesetzt: Betteln wurde mit Gefängnis, körperlichen Züchtigungen oder sogar mit dem Tod bestraft – ideologisch unterfüttert durch die Reformation, die die katholische Almosenlehre verwarf. Unter dem Einfluss der Aufklärung wurde nicht-arbeitsfähigen Armen zwar ein Anspruch auf staatliche Hilfe eingeräumt, arbeitsfähige Bettler*innen drohte jedoch die Einweisung in Arbeits- und Zuchthäuser.

Ab dem 19. Jahrhundert stand eine einheitliche strafrechtliche Lösung auf der nationalen Agenda. Der bundesrätliche Entwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch von 1918 enthielt eine Bestimmung, die das Betteln aus «Arbeitsscheu» oder «Habsucht» unter Strafe stellte. Sämtliche Kantone hatten das Betteln bereits während der zweiten Hälfte des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts unter Strafe gestellt.

Erst in den 1960er-Jahren kam es zu einer Liberalisierung: In vielen Kantonen wurden die Normen, die das Betteln unter Strafe stellten, kaum mehr angewandt. Andere Kantone wie Bern schafften die entsprechenden Verbote ganz ab. Doch als Folge vor allem von Beschwerden wegen «aggressiven Bettelns» von Drogenabhängigen und angeblich organisierten Formen des Bettelns ist ab den 1990er-Jahren vielerorts eine schleichende Wiedereinführung von Bettelverboten zu beobachten.

Mit in einzelnen Kantonen noch immer geltenden absoluten Verboten verstösst die Schweiz gegen die Europäische Menschenrechtskonvention EMKR. Das entschied der EGMR 2021 im Verfahren «Lacatus gegen die Schweiz». Als Reaktion auf das Urteil folgte in einigen Kantonen zwar eine Gesetzesänderung, faktisch besteht jedoch weiterhin ein grossflächiges Bettelverbot; in anderen ist weiterhin ein allgemeines Bettelverbot in Kraft. Nach wie vor sind Beschwerden gegen kantonale Bettelverbote beim EGMR hängig. WIN

Ausführlicher zu Kriminalisierung von Armut in der Schweiz, surprise.ngo/magazine/599-armut-kriminalisiert/

Menschen in Not helfen war staatsfeindlich

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, verschlimmerte sich in Deutschland die Situation für Menschen in extremer

Armut drastisch. Sie galten als «asozial» und «erblich minderwertig».

TEXT ANDREAS MÜLLER

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt die staatliche Verfolgung ihrer Gegner*innen. Besonders Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen werden inhaftiert, erste Konzentrationslager errichtet, jüdische Menschen drangsaliert und entrechtet, Gewerkschaften ausgeschaltet und Vereine «gleichgeschaltet». Bis heute relativ unbeachtet ist die zeitgleiche Verfolgung von «Asozialen».

Als «Asoziale» bezeichneten die Nationalsozialisten gesellschaftliche Aussenseiter*innen, oder wie sie es nannten «Gemeinschaftsfremde». Dazu gehörten Wohnungslose, Umherziehende, Prostituierte, Menschen mit Geschlechtskrankheiten, Trunksüchtige, Arbeitsscheue, Arbeitsverweigernde, Sinti*zze und Rom*nja, Homosexuelle und Kleinkriminelle. Ein von der Norm abweichendes Verhalten wurde als gesellschafts- und staatsfeindlich erklärt; soziale Not galt als Indiz für eine erbliche Minderwertigkeit und somit als ein biologisches Problem, das «ausgemerzt» werden müsse.

Wirklich neu war das repressive Vorgehen nicht. Durch den Paragrafen 361 des Strafgesetzbuches in seiner Fassung von 1871 wurden Landstreicherei, Bettelei, Arbeitsscheu und Obdachlosigkeit als Straftaten verfolgt, Wiederholungstäter*innen über Wochen in Arbeitshäusern interniert. Neu war das radikale, unnachsichtige und terroristische Vorgehen. So setzten die Machthaber*innen vom 18. bis 23. September 1933 eine erste reichsweit zentral organisierte «Bettlerrazzia» durch.

Mit dem «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» vom Juli 1933 und der Einrichtung von sogenannten Erbgesundheitsgerichten, die Sterilisationsmassnahmen anordnen konnten, sollte zudem verhindert werden, dass «die Minderwertigen und erblich Belasteten sich hemmungslos fortpflanzen» können. Mit dem «Gewohnheitsverbrechergesetz» vom 24. November 1933 wurden ausserdem die Sicherheitsverwahrung für «Unverbesserliche» und auch die Zwangskastration ermöglicht.

Die Massnahmen gegen Bettler*innen im Jahr 1933 bildeten den Auftakt einer Verfolgungspraxis, an deren Ende nicht nur die Einschränkung von Freiheitsrechten, sondern die physische Vernichtung der als «asozial» ausgemachten Menschen stand. Mit der Verabschiedung des «Grunderlasses vorbeugende Verbrechensbekämpfung» im Dezember 1937 konnte die Kriminalpolizei jede Person ins KZ einliefern, die durch ihr vermeintlich «asoziales Verhalten» die Allgemeinheit gefährdete – ohne Prozess,

ohne richterlichen Beschluss, ohne dass eine konkrete Straftat begangen worden war. Zwei reichsweite Verhaftungswellen im April und Juni 1938, bekannt als «Aktion Arbeitsscheu Reich» führten zur Festnahme von über 10 000 Menschen. In den KZs waren die Gefangenen dann an ihrem schwarzen Winkel zu erkennen.

Die Öffentlichkeit war dabei stets informiert. In seiner Rundfunkansprache zum «Tag der Deutschen Polizei» am 29. Januar 1939 sagte Heinrich Himmler: «Wir haben in den vergangenen Jahren alle die asozialen Elemente, die so und so oft mit dem Gesetz in Konflikt kamen, immer wieder dieselben Verbrechen begangen hatten, sich vor jeder Arbeit gewohnheitsmässig drückten und in einem Staat, in dem jeder Arbeit haben kann, herumfaulenzen und betteln, aufgelesen und in die Konzentrationslager überführt.» Das wird in breiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung getroffen sein.

Bis heute werden die Schicksale dieser als «asozial» denunzierten Menschen im Nationalsozialismus ignoriert, verleugnet oder übergangen. Das hat auch viel mit den Kontinuitäten im Hass auf diese Gruppe zu tun. «Asozial» ist bis heute ein verbreitetes Schimpfwort, Sozialdarwinismus weiterhin allgegenwärtig. Obdachlose sind wenig beachtete Opfer rechter Gewalt und die Konstruktion des «Asozialen» ein fester Bestandteil rechter Ideologie.

Bereits 1946 gründeten Überlebende, ehemalige Gefangene, mit grünem («Berufsverbrecher*innen») und schwarzem («Asoziale») Winkel aus dem KZ Dachau einen Verein: «Die Vergessenen». Nach wenigen Monaten wurde der Verein von der US-Militärregierung verboten. Sie nahm an, dass die beiden Opfergruppen zu Recht inhaftiert gewesen seien. Erst im Februar 2020 fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, die Menschen, die wegen angeblicher «Asozialität» und «Berufsverbrechertum» verfolgt wurden, als Verfolgte anzuerkennen. Im Jahr 2023 gründeten Angehörige erneut eine Organisation, die der beiden Opfergruppen gedenken soll: den «Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus». Der Verband setzt sich für die vollständige Umsetzung des Bundestagsbeschlusses von 2020 ein, insbesondere für die Förderung von Forschungsarbeiten zu Verfolgtenbiografien und zu den Instanzen der nationalsozialistischen Verfolgung.

Mit freundlicher Genehmigung von BODO/INSP.NGO

Aus dem Südjemen in die Schweiz geflüchtet, berichtet Ayad Qassem heute von hier aus über sein Heimatland um Ausnahmezustand.

Zeigen, was wirklich ist

Journalismus Ayad Qassem wollte Missstände aufdecken und die Perspektive des Südjemen sichtbar machen – bis er dafür fliehen musste. Heute gibt der Journalist von Winterthur aus den Menschen seines Landes eine Stimme.

TEXT UND FOTOS LINDA KÄSBOHRER

Zwischen dampfender Schwarzteetasse und den Hintergrundgeräuschen des Fernsehers breitet Ayad Qassem alte Zeitungen auf dem Esstisch aus. Behutsam streicht er über die vergilbten Seiten. «Das habe ich geschrieben», sagt Qassem und deutet auf ein arabisches Gedicht, das er vor über zehn Jahren veröffentlicht hatte: «Sie störten unseren Schlaf mit siegestrunkenen Takbir-Rufen, vergassen, dass Allah der Grösste ist und dass derjenige, der im Namen Allahs betrügt, nicht bestehen bleibt.» Ein politisches Gedicht über den Schmerz und Stolz eines Volkes sei das, das trotz Leid und Zerstörung nicht zerbricht, so Qassem. An diesem Tisch wird sichtbar, was Qassems Leben antreibt: die Wahrheit aufzuschreiben, auch wenn sie unbequem ist. Seit mehr als drei Jahrzehnten kämpft er dafür, dass die Geschichten seines Landes gehört werden. Heute leitet Qassem von seinem Zuhause in Winterthur aus das Nachrichtenportal «South24 Center for News and Studies». Gegründet vor sechs Jahren, um dem Südjemen eine Stimme zu geben. Eine Stimme, für die er lange kämpfte, bis sie gehört wurde.

Schon früh im Visier der Behörden Geboren 1980 im südjemenitischen Ad Dali, der letzten Stadt, die 1994 im Bürgerkrieg vom Norden erobert wurde, erlebte Qassem den Konflikt zwischen Nord- und Südjemen schon als Kind hautnah. Militärflugzeuge donnerten über die Dächer, die Leichen gefallener Soldaten kehrten in blutbefleckten Wagen zu ihren Familien zurück. «Das war mein erstes Bild vom Krieg», erinnert sich der heute 44-Jährige. 1990 vereinigten sich die Jemenitische Arabische Republik (Nordjemen) und die Volksdemokratische Republik Jemen (Südjemen) zu einem gemeinsamen Staat: der Republik Jemen. Bald besetzten die nordjemenitischen Streitkräfte schrittweise den Süden. 1994 eskalierte die Situation in einem dreimonatigen Bürgerkrieg. Tausende Menschen starben.

In den Jahren danach strich das Regime den Südjemen aus den Schulbüchern und behandelte die Menschen dort wie Bürger*innen zweiter Klasse. Nach und nach schlossen Medienhäuser, bis nur noch die Sicht des Nordens in den Nachrichten erschien. Auch die staatlichen Institutionen besetzte das Regime in der Hauptstadt Sanaa zunehmend mit Beamten aus dem Norden. Zehntausende verloren ihre Posten, darunter auch Qassems Vater. Das gesellschaftliche Leben, einst offen und liberal, wurde immer konservativer.

Qassem wollte das nicht hinnehmen. Schon als Schüler verteilte er selbst geschriebene Flugblätter in seinem Dorf und berichtete im Schulmagazin über Missstände. Er forderte Rechte

für den Süden, kämpfte für dessen Unabhängigkeit. Dafür geriet er schon als Jugendlicher ins Visier der Behörden. Eines Tages standen der Gemeindevorsteher und zwei Polizisten vor der Schultür, um ihn wegen seiner Texte zu verhören. «Ich hatte Angst», erinnert Qassem sich, «doch mein Lehrer stand neben mir und das hat mir Kraft gegeben.»

Mit achtzehn heiratete Qassem Koba, seine grosse Liebe. Vor der Geburt ihrer ersten Tochter 2002 musste Qassem jedoch den Jemen verlassen. Es gab kaum Arbeit, der Krieg hatte das Land zerstört. In Saudi-Arabien fand er zunächst Anstellungen in einer Bibliothek, später als Gestalter. Doch sein Herz schlug für den Journalismus. Unter einem Pseudonym schrieb er regimekritische Texte in sozialen Foren und gründete zusammen mit einem Freund das Online-Netzwerk «alteef», was Spektrum bedeutet. Es war die erste digitale Nachrichtenplattform, die aus südlicher Sicht über den Südjemen berichtete. «Wir wollten zeigen, wie die Situation wirklich ist und nicht, was die Regierung im Norden vorgab», sagt Qassem. Parallel dazu besuchte er in Katar das Al Jazeera Center, wo er eine Intensivausbildung zum Journalisten absolvierte.

Qassems Arbeit war und blieb gefährlich: Mehrere seiner Kolleg*innen verschwanden in Gefängnissen, andere wurden getötet. 2008 erfuhr Qassem, dass auch sein Name auf der Liste des jemenitischen Regimes stand. Ihm blieb nur die Flucht. Gemeinsam mit zwei weiteren Journalisten machte er sich auf den Weg in die Schweiz. Die Meinungsfreiheit und das politische System des Landes habe er schon lange bewundert, sagt Qassem. Zudem verbinde den Südjemen eine besondere historische Erinnerung mit der Schweiz: In Genf unterzeichneten 1967 Vertreter des Südjemens sowie der britischen Kolonialmacht die erste Unabhängigkeitserklärung.

Neuanfang in Winterthur 2010 in der Schweiz angekommen, wusste Qassem, dass er weiterschreiben wollte. Für den jemenitischen Sender Aden Live TV berichtete er zunächst aus Bern, übersetzte Texte vom Deutschen ins Arabische und schrieb politische Gedichte für Zeitungen in der Heimat. Derweil verschärfte sich im Südjemen die Lage dramatisch. Nach der Einnahme von Sanaa durch die Huthi-Miliz im September 2014 und dem Beginn eines neuen Bürgerkrieges stürzte das Land in eine der grössten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Auch Qassems Familie blieb nicht verschont: Sein Vater und zwei seiner Brüder wurden zwischen 2012 und 2015 bei Protesten und Gefechten verletzt.

«Ich hörte nie auf dafür zu kämpfen, dass die Welt unsere Geschichten hört», sagt er. Doch von dieser Arbeit konnte er in der Schweiz nicht leben und erst recht nicht seine Familie ernähren, die 2013 in die Schweiz nachzog. So absolvierte Qassem 2017 eine Lehre zum Fachmann Betriebsunterhalt und arbeitet seit seinem Abschluss in einem Pflegezentrum in Bassersdorf.

Dem Journalismus blieb der Südjemenit aber treu. 2019 gründete er das «South24 Center for News and Studies», ein Nachrichtenportal, das über Entwicklungen im Jemen und den Nahen Osten berichtet. Neben Reportagen und aktuellen Berichten publiziert die Plattform auch wissenschaftliche Analysen und investigative Recherchen. Ein zentrales Anliegen ist die Förderung von Menschen- und insbesondere Frauenrechten. Thematische Schwerpunkte sind bewaffnete Konflikte, politische Umbrüche und soziale Krisen in der Region. Darüber hinaus bietet das Medium in der Region des Südjemen Weiterbildungen für Journalist*innen an.

Was einst als Zweierteam in der Schweiz begann, ist heute ein Netzwerk aus über zwanzig Journalist*innen in acht Ländern. Die Recherchen des Portals werden regelmässig von internationalen Medien und Forschungseinrichtungen zitiert. Ein Erfolg, der Qassem stolz macht. Und ihm zeigt, wie wichtig unabhängiger Journalismus ist.

Früher, sagt Qassem, sei seine Arbeit populär und politisch aufgeladen gewesen. Heute sei sie professionell und analytisch. Von Winterthur aus koordiniert er die Redaktion und stützt sich

dabei auf ein breites Netzwerk aus diplomatischen Kontakten, internationalen Organisationen und journalistischer sowohl literarischer Quellen. Die Reportagen aus dem Jemen übernehmen die Kolleg*innen vor Ort, während Qassem und sein Auslandsteam sich auf fundierte Analysen und globale Perspektiven konzentrieren.

Beruf, Familie und Journalismus unter einen Hut zu bringen, sei oft ein Balanceakt, so Qassem. Trotz seiner Vollzeitstelle als Fachmann Betriebsunterhalt investiert er viele Stunden in die redaktionelle Arbeit. Gemeinsam mit seiner Frau Koba kümmert er sich um die drei Töchter Mira (7), Rafeef (16) und Bushra (23). Der Samstag ist Familientag: Ausflüge in die Stadt oder in die Natur, Grillieren im Garten oder Zusammensein mit Freunden aus der jemenitischen und Schweizer Community. Abends kommt die Familie stets am Tisch zusammen. An diesem Samstagabend stapeln sich knusprige Samosas, gefüllt mit Thunfisch und Kartoffeln, daneben stehen Hummus, Fladenbrot, frischer Salat und ein würziger Hühnereintopf in Tomatensauce. Während draussen die Dämmerung über Winterthur fällt, vermischen sich drinnen Gespräche und Lachen.

Nach dem Essen beantwortet Qassem noch einige Nachrichten seines Teams, am nächsten Tag stehen zwei Redaktionssitzungen an. «Mit drei Kindern ist Ruhe selten», sagt er und lächelt. «Aber zum Schreiben reichen mir mein Schreibtisch, zwei Bildschirme und das leise Hintergrundgeräusch des Fernsehers.»

«Sirāt ist einer jener Filme, die einen am besten unvorbereitet treffen, um die volle Wirkung zu

entfalten.»

Neben seinem Beruf und der Familie engagiert sich Qassem auch für andere Geflüchtete. Als Mitglied des Winterthurer Migrationsbeirats vermittelt er zwischen den Migrant*innen und der Stadtverwaltung, setzt sich für eine gelingende Integration ein und beteiligt sich an städtischen Projekten wie dem Tag der Vielfalt. Dort bietet er mit seiner Familie jemenitische Spezialitäten an. «Egal, wo ich bin, ich will etwas Positives hinterlassen», sagt Qassem. «Es gibt immer eine Möglichkeit, eine Gesellschaft zu bereichern.»

Blick nach vorn

In Winterthur hat Ayad Qassem einen Ort gefunden, den er seine zweite Heimat nennt. Und doch bleibt der Jemen stets präsent, dieses Land im Ausnahmezustand. Bis heute gehört der Jemen zu den am stärksten von Krisen betroffenen Staaten der Welt. Der Waffenstillstand zwischen der Huthi-Miliz im Norden und der international anerkannten Regierung im Süden ist brüchig, die humanitäre Lage katastrophal: Über 18 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen, Hunderttausende vom Hunger bedroht. Politische Lösungen bleiben aus, besonders im lange marginalisierten Süden wächst die Frustration.

Trotz allem hält Qassem an seinem Traum fest: eines Tages in ein freies, unabhängiges Südjemen zurückzukehren. Vielleicht nur für einen Besuch, vielleicht für immer. Seit sechzehn Jahren war er nicht mehr dort, wo noch immer ein Grossteil seiner Familie lebt. Um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, sitzt Qassem Tag für Tag an seinem Schreibtisch in Winterthur. Schreibt, recherchiert, koordiniert. Und gibt dem Südjemen eine Stimme, die nicht wieder verstummen soll.

«Mit Kindern ist Ruhe selten, doch zum Schreiben reichen mir ein Tisch und das leise Hintergrundgeräusch des Fernsehers», sagt Ayad Qassem.

Innensicht von aussen

Vom aserbaidschanischen Fernsehsender Meydan TV über iranische Blogs und syrische Radiostationen bis hin zu US-amerikanischen Internet-Dissident*innen: Weltweit gibt es immer mehr Exilmedien, die von ausserhalb über ihre Herkunftsländer berichten – und damit politische Wirksamkeit entfalten. Trotzdem ist nur wenig über ihre Arbeit bekannt. Informationen findet man unter reporter-ohne-grenzen.de. KP

Dient das Geld uns oder wir ihm?

Die Frage geht an einen Bankräuber, eine Pfarrerin und weitere.

Betreibung von der Kirche

Kino Hercli Bundi stösst in seinem Dokumentarfilm «Unser Geld» tief ins Universum unseres Finanzsystems vor und erkennt, dass Geld im Kern eine Glaubenssache ist.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Im August 2002 erhitzte eine Ausstellung im Zürcher Helmhaus mit dem Titel «Capital Affair» die Gemüter derart, dass sie nach einem Tag vom Zürcher Stadtpräsidenten geschlossen wurde. Der Grund: Die beiden Künstler Gianni Motti und Christoph Büchel versteckten das Ausstellungsbudget von 50 000 Franken, das sie von der Stadt erhalten hatten, in Form eines Schecks in den leeren Räumen. Die Besucher*innen sollten danach suchen. «Mit dem Budget hätten wir Objekte herstellen sollen. Aber wir haben kein Objekt produziert, sondern nur Sinn. Die Tatsache, dass kein Geld ausgegeben wurde, dass es unsichtbar blieb, hat eine riesige Polemik ausgelöst», erinnert sich Motti im Dokumentarfilm «Unser Geld» von Hercli Bundi. Dienen wir dem Geld – oder dient es uns? Diese Frage erörtert Bundi mit mehreren Gesprächspartner*innen, darunter ein Bankräuber, eine Pfarrerin, ein Ökonom der

Schweizerischen Nationalbank und ein Experte für Kryptowährung. Bald wird klar: Um darauf eine Antwort zu finden, muss man zuerst eine andere Frage stellen: Was ist Geld?

Ein Teil der Antwort zeigt sich wohl darin, welche Bedeutung Menschen einem Betrag beimessen. Bundi breitet vor seinen Interviewpartner*innen die aktuelle Schweizer Banknotenserie aus, die total 1380 Franken ergibt. Für Carlos Lenz, Leiter Volkswirtschaft der Schweizerischen Nationalbank, entspricht diese Summe etwa einem Flug in die USA. Für das Verlegerpaar Corinna Virchow und Mario Kaiser repräsentieren die Scheine den Betrag, den sie für ihre Familie monatlich für Essen und Kleidung ausgeben. «Wir essen’s auf», sagt Virchow, lacht und meint später, die Noten würden sie an Monopoly erinnern. Mit ihrem Partner vertieft sie sich in deren Anblick. Etwa die

200er-Note, auf deren Vorderseite als Verweis auf die Elementarteilchenphysik und den Urknall sich quasi aus dem Nichts das Universum formt.

«Von der Schöpfung aus dem Nichts» lautet denn auch der Untertitel von Bundis Dokumentarfilm. «Geld wird aus dem Nichts erschaffen, wenn jemand bei einer Bank Schulden macht. Dann eröffnet die Bank für die Kundschaft ein Konto und wartet, dass die Schuldner am Ende alles zurückzahlen. Das Geld ist aber nicht da. Die Bank hat das Geld nicht. Sie muss nur zweieinhalb Prozent von diesem Betrag haben. Aber wir zahlen 100 Prozent zurück. Das ist schockierend», lässt sich Hercli Bundi, angesprochen auf den Untertitel seiner Doku, im Pressedossier zitieren.

Im Film vertieft er diesen Punkt weiter. Etwa im Gespräch mit dem Kryptoexperten Arnaud Salomon, wenn dieser anschaulich den Kreislauf der Geldschöpfung nachzeichnet, der durch die Ausgabe von neuen Krediten angetrieben wird. Damit das System funktioniert, muss es einen Konsens oder eine Art Glauben geben daran, dass ein Zahlungsmittel einem bestimmten Betrag entspricht. Sodass man an diesem gewaltigen Spiel des Lebens teilnehmen kann. Um zu investieren oder zu sparen, die Hypothek abzuzahlen oder Preise festzulegen.

S.G., der eine Strafe für einen Banküberfall abgesessen hat, denkt beim Anblick der Banknoten darüber nach, was diese vermitteln wollen. «Glaube an eine höhere Macht. Es wird alles besser. Demut», liest er heraus und fügt an: «Ein frommer Wunsch.» Der Ökonom Carlos Lenz erinnert sich, wie ihm einst die alte 100er-Note Eindruck machte, weil darauf der heilige Martin seinen Mantel zerteilte und einem armen Mann gab. «Vielleicht ein Hinweis darauf, dass man Geld und Besitz auch teilen kann», meint er. Beim Geld sei der Glaube daran sehr wichtig, das Vertrauen darin, dass es akzeptiert werde, sagt Carlos Lenz an anderer Stelle. Es sei eine gemeinsame Basis, mit der wir Werte messen, und damit etwas Urmenschliches, weil man sich auf etwas einigen müsse.

So oft wird in diesem Film Geld mit Glauben verknüpft, dass Bundi folgerichtig auch Kirchenleute nach dem Wesen des Geldes befragt. Theologin Delphine Conzelmann weist einen Vergleich mit Religion zurück, weil Religion, im Gegensatz zu Geld, die Dimension von Gemeinschaftlichkeit habe. «Vom Geldsystem sind wir zwar alle gleichermassen abhängig, aber das kreiert nicht Gemeinschaft.» Es ist eine Abhängigkeit, von der selbst die Institution Kirche nicht ausgenommen ist. Denn auch der Unterhalt von Kirchen kostet Geld. Wenn Kirchenmitglieder ihre Steuern nicht bezahlen, werden Betreibungsandrohungen verschickt. Was auch Bundi widerfuhr, als er wegen Geldproblemen seine Steuern nicht bezahlen konnte.

«Unser Geld» zeigt spannend und informativ, dass sich das Wesen des Geldes vor allem an der Art erkennen lässt, wie es eingesetzt wird. Im Guten wie im Schlechten.

Frauengeschichte

Buch Der Roman «Freyheitsball» erzählt von einer Arbeiterin und einer Patrizierin im Basler Revolutionsjahr von 1798.

Inmitten der Wirren und Grausamkeiten des nachrevolutionären Terrors verfasst die französische Revolutionärin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Olympe de Gouges (1748 –1793) im Jahr 1791 die «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin». Doch ihr Manifest verhallt weitgehend ungehört. Freiheit und Gleichheit gelten allein für Männer. Olympe de Gouges, die u.a. auch Robespierre kritisiert, wird verhaftet, diskreditiert und landet zwei Wochen nach Marie-Antoinette auf dem Schafott.

Nicht anders ist die Lage der Frauen auch in Basel. Zwar findet die Revolution dort ohne Blutvergiessen statt, doch als 1798 in Liestal und auf dem Basler Münsterplatz der Freiheitsbaum aufgestellt und die Leibeigenschaft abgeschafft wird, gelten die neuen Rechte auch hier nur für Männer. Denn ob Patrizier oder Arbeiter, für sie alle gilt gleichermassen: Die Frau bleibe, wo sie sei!

Der fesselnd geschriebene Roman «Freyheitsball» der Autorin, Schauspielerin und Historikerin Satu Blanc entführt uns mitten in diese Ereignisse. Inspiriert vom Leben der Anna Maria Preiswerk-Iselin (1758 –1840), der Tochter des Basler Aufklärers Isaak Iselin, hat sie zwei fiktive Protagonistinnen geschaffen: die Patrizierin Sophie Amalie und die Arbeiterin Anna. Beide haben Olympe de Gouges gelesen und erhoffen sich von der Revolution die Gleichberechtigung der Frauen. Eine Hoffnung, die bitter enttäuscht wird. Denn die neue Ordnung trägt ausschliesslich Männerkleider. Doch dagegen begehren Sophie Amalie und Anna auf, die eine in stiller Revolte, die andere zum Kampf entschlossen. Satu Blanc erzählt die Geschichten der beiden mutigen Frauen konsequent nebeneinander und zugleich stetig aneinander vorbei. Denn beide leben in Welten, die einander zwar berühren, aber nie zusammenfinden. Nicht einmal die Erzählzeit ist dieselbe. Die der Patrizierin verläuft in der Vergangenheitsform, die der Arbeiterin im Präsens. So wird schon allein durch den Stil deutlich, wie fern sich die beiden Gesellschaftsschichten sind. Denn der herablassende Blick der Patrizierin auf die «ungebildete» Arbeiterin trennt die Frauen nicht weniger als der abwertende Blick der Männer auf das «schwache» Geschlecht. Satu Blanc gelingt es mit ihrem dritten Roman «Freyheitsball» erneut, Geschichte auf lesenswerte Weise lebendig werden zu lassen. Dabei verknüpft sie ihr Panorama der Vergangenheit mit Forderungen, die nicht veraltet sind. Und regt dazu an, zu fragen, wie viel Gleichberechtigung bisher erreicht oder eben noch immer nicht erreicht worden ist. CHRISTOPHER ZIMMER

Unser Geld, Dokumentarfilm von Hercli Bundi, Schweiz, 2025, 94 Minuten, Kinostart Deutschschweiz: 28. August

Satu Blanc: Freyheitsball. Roman Zytglogge Verlag 2025 CHF 33.90

Veranstaltungen

Basel

«Julian Charrière. Midnight Zone», Ausstellung, bis So, 2. Nov., Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 21 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1. tinguely.ch

Julian Charrières Gletscher-Bilder hat man schon in manchen Ausstellungen gesehen, und eindrücklich sind sie jedes Mal. Der französisch-schweizerische Künstler geht immer der Frage nach, wie der Mensch und die Umwelt sich gegenseitig beeinflussen. Das Museum Tinguely zeigt nun Fotografien, Skulpturen, Installationen und neue Videoarbeiten, die sich mit dem Wasser auseinandersetzen. Immerhin leben wir in einer Welt des Wassers, es bedeckt in Form von Meeren, Seen und Eis den grössten Teil unseres Planeten. Die Videoarbeit Albedo (2025) etwa wurde unter der Meeresoberfläche des arktischen Ozeans zwischen Eisbergen gedreht. Hier wechselt das Wasser seinen Aggregatszustand zwischen fest, flüssig und gasförmig – eine Choreografie in Echtzeit. Der Film stellt das Schmelzen des Eises nicht explizit als Katastrophe dar, sondern eröffnet viel grundsätzlicher ein Verständnis für die ständige Bewegung des Wassers, für seine klimatische Bedeutung – und gerade damit auch für menschliche Versäumnisse. Charrières Meer wird zu einer eigenen Gedankenwelt, grenzenlos, destabilisierend und unmöglich zu bändigen. Der Künstler arbeitet auf der Grundlage von Feldforschungen an ökologisch und symbolisch aufgeladenen Orten wie Gletschern, Vulkanen, Atomtestgebieten und in Tiefsee-Ökosystemen. DIF

Luzern

«Strassenchor im Kunstobjekt», Konzert, Sa, 6. Sept., 13 Uhr, Ark Nova, Lidowiese, Luzern. lucernefestival.ch

Sie sticht auf jeden Fall ins Auge, die riesige, aubergine-pinke Konstruktion. Auch in ihrem Innern dürfte es spannend werden, denn die «Ark Nova» ist die erste mobile, aufblasbare Konzerthalle der Welt. Dieses Jahr kommt sie auf dem Gelände des Lucerne Festivals zum Einsatz. Auf der Lidowiese wird sie Austagungsort von 35 Kurzkonzerten sein, Klassik und Jazz sind ebenso vertreten wie Volks-musik und Pop – und eben auch der Surprise Strassenchor. Allerdings geht es um mehr als das musikalische

Raum mit seinen runden, weichen Formen Geborgenheit und Wärme vermitteln und so den Menschen Zuversicht und neue Perspektiven während des Wiederaufbaus geben. Seitdem wurde sie an verschiedenen Orten eingesetzt, um zu zeigen, dass Musik Hoffnung spendet – eine perfekte Bühne also für unseren Strassenchor, der Lebensfreude und die verbindende Kraft der Musik hautnah spürbar macht. NICOLAS FUX

Basel

«CPTED», Ausstellung, bis So, 31. Aug., Mi bis Fr, 13.30 bis 18.30 Uhr; Kurator*innentalk, So, 31. Aug., 14 Uhr, Klybeckstrasse 29. dock-basel.ch

Innerschweiz / TI / AG «100 Jahre BSLA», Landschaftsspaziergänge, Do, 4. Sept., 16 Uhr, Luzern; Sa, 6. Sept., 10 Uhr, Gotthardpass; Do, 11. Sept., 16 Uhr, Uri; Sa, 13. Sept., 11 Uhr, Schwyz, u. v. a. bsla.ch

Programm, denn die «Ark Nova» versteht sich als soziokulturelles Projekt. Entstanden ist dieses Pro-

jekt als künstlerische Antwort auf das Erdbeben und den Tsunami in Japan im Jahr 2011. Das begehbare Kunstwerk sollte als organischer

Oleksandr Holiuk beschäftigt sich in seinem Projekt «CPTED» mit dem Verhältnis zwischen dem Kunstraum DOCK und seinem städtischen Umfeld – insbesondere der Klybeckstrasse und dem Matthäusquartier. Dabei geht es auch um die Rolle von Kunst- und Kulturorten im Zusammenhang mit Gentrifizierung und um Kontrollmechanismen im urbanen Raum, durch die bestimmte Gruppen überwacht, verdrängt oder ausgeschlossen werden. Gleichzeitig zeigt das Projekt, wie der Kulturbetrieb häufig auf genau jene kriminalisierten Netzwerke prekärer (oft migrantischer) Arbeit angewiesen ist, die er selbst mitverdrängt oder kontrolliert. CPTED (Crime Prevention Through Environmental Design – Kriminalprävention durch Umweltgestaltung) ist ein Bündel von Strategien zur Abschreckung krimineller Aktivitäten im öffentlichen Raum, und zwar durch bauliche und gestalterische Planung. Das Konzept entstand in den 1970er-Jahren im Bereich der Kriminologie und Stadtplanung in den USA und wurde seither von Polizei- und Stadtplanungsbehörden in verschiedenen Ländern übernommen. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass die gebaute Umgebung selbst das Potenzial hat, die Kriminalitätsrate zu senken. Durch bessere Sichtverhältnisse und durch Selbstkontrolle innerhalb der Gemeinschaft etwa. Wir möchten anmerken: Das hört sich erst mal überzeugend an, hat aber auch viel mit Grenzmarkierungen und Überwachung zu tun. Spannendes Thema, das kontrovers diskutiert wird. Auch im DOCK, nehmen wir an. DIF

Diese Ansage klingt interessant: Alles ist Landschaft – von den Energielandschaften im Tessin über Waldgebiete im Kanton Schwyz bis hin zu den Grosssiedlungen im Kanton Aargau. Und diese werden nun begangen, mit einem offenen Blick für die Themen, die in diesen Landschaften stecken, und natürlich mit dem nötigen Expert*innenwissen. So wandert man mit der Architektin Francesca Kamber über den Gotthardpass und geht gemeinsam der Frage nach: Kann sich Landschaft bewegen? Oder in der Zuger Lorzenebene: Sind Siedlungen auch Landschaft? Und auf der Luzerner Allmend: Wieviel Freiraum brauchen wir? Anlass für all diese Begehungen und Spaziergänge in der Innerschweiz, dem Tessin und im Aargau ist das 100-Jahr-Jubiläum des «Bund Schweizer Landschaftsarchitekten und Landschaftsarchitektinnen» (BSLA). Jede Begehung beleuchtet ein anderes Thema anhand exemplarischer Landschaften, und mit jedem Spaziergang wird versucht, eine offene Frage zu beantworten. Die Karten für die Routen bleiben auch über das Jubiläum hinaus nutzbar und regen zur Auseinandersetzung mit der Landschaft an. Infos, Anmeldung und weitere Veranstaltungen: siehe online. DIF

Tour de Suisse

Pörtner in Buchs SG

Surprise-Standorte: Bahnhof

Einwohner*innen: 13  845

Sozialhilfequote in Prozent: 1,2

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 44,2

Anzahl Arbeitsplätze: 8 500

Buchs ist Border Town, das Einfallstor zum Osten, wobei es erstmal an das allgemein als harmlos wahrgenommene Fürstentum Liechtenstein grenzt. Dahinter aber liegt das Land, von dem man in meiner Kindheit und Jugend einen Einmarsch befürchtete, die Gefahr dann als gebannt ansah, ehe sie nun wieder denkbar scheint. Zwischendurch wurde weniger ein Einfall von Soldaten denn von Migrant*innen befürchtet. Von all diesen Gefahren ist aber an diesem regnerischen Sommertag, dem Nationalfeiertag, nichts zu spüren. Die Feiern wurden bereits am Vorabend abgehalten, was durchaus Sinn ergibt, so bleibt der freie Tag zum Ausschlafen, falls die Heimat zu heftig begossen wurde.

Die Bühne, auf der die Feier abgehalten wurde, befindet sich im Hof eines Einkaufszentrums nahe dem Bahnhof, die

Fahne hängt noch, die Festbestuhlung wurde teilweise zur Seite geräumt, in der Mitte eine Art verwaiste Schneebar aus Kunststoff. Hier finden auch sonst Konzerte statt, in der ganzen Stadt hängen Plakate von kleineren und grösseren Acts wie etwa Gianna Nannini, die in der Region auftreten.

Kleiderläden reihen sich aneinander, überall ist Sale, Sale, Sale. In einem Schaufenster tragen die Mannequins entsprechend bedruckte T­Shirts, dahinter sind Bilder ausgestellt, die aber nicht vom Ausverkauf betroffen sind. Eigentlich eine gute Idee, die beiden kriselnden Wirtschaftszweige Kunst und Detailhandel zu verbinden. Etwas weiter hinten steht eine Reihe Ladengeschäfte leer. Es gibt aber nicht nur Kleider, ein Laden bietet edle Spirituosen und Tabakwaren an, neben Zigarren aus Nicaragua

auch Pfeifen, die eigentlich für ein Comeback in Hipsterkreisen prädestiniert wären, handelt es sich doch um eine aufwendige, unpraktische und elitäre Form des Tabak­Konsums, dem Männer von Max Frisch bis Christoph Blocher frönen. Auch im Angebot sind Shishas, also Wasserpfeifen, die heute viel weiter verbreitet sind, sowie Flachmänner (Flachpersonen?) in allen Farben. Ebenfalls farbig ist die in Rosa gehaltene reformierte Kirche, davor das grosse, mit Holz verkleidete Pfarrhaus, an dem ein Plakat für das kommende Gemeindefest wirbt. Etwas weiter ist ein Gelände eingezäunt. An einem halbverfallenen Gebäude prangt noch die Werbung für den Schlussverkauf: «Ales mus weg! Grosse Auswahl Abendkleider und für Kinder!»

Überall in der Stadt stehen knallrote Bänke, teils unter Bäumen, teils vor Brunnen, und laden zum nicht dem Konsum verpflichteten Draussensein, Verweilen und Sichtreffen, sogar Tische fürs Picknick stehen zur Verfügung. Zu einem Hotel gehört die kleine Terrasse, die auf eine Art künstlichen Kanal hinausgeht, der extra dafür angelegt worden zu sein scheint, um ein wenig mediterranes Flair zu verbreiten.

Vom Bahnhof aus führt eine Vielzahl von nationalen und regionalen Velorouten in alle Himmelsrichtungen. Hinter dem umfangreichen Wegweiser steht eine alte Lokomotive. Sie heisst Tigerli und gilt als Buchser Wahrzeichen. Alle denkbaren Masse und Daten sind aufgeführt, vom Triebraddurchmesser bis zum Kesseldruck. Das Betreten der Lok ist allerdings verboten.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Die 25 positiven Firmen

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Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

AnyWeb AG, Zürich

Hagmann-Areal, Liegenschaftsverwaltung

Alternative Bank Schweiz AG movaplan GmbH, Baden

Fonds Heidi Fröhlich

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken

Stahel & Co. AG, Der Maler fürs Leben. ZH a energie ag, Schüpfen

Afondo Consulting, Adrian Hässig - Coach

Gemeinnützige Frauen Aarau

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Schweiz. Philanthropische Gesellschaft Schreinerei Beat Hübscher, Zürich

Lebensraum Interlaken GmbH Scherrer & Partner, Basel www.tanjayoga.ch, Lenzburg

Kaiser Software GmbH, Bern

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Peter Deubelbeiss AG, Brandschutzberatung Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

Automation Partner AG, Rheinau

SVIT Zürich

Stiftung Litar

BODYALARM - time for a massage

Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich

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Das Programm

Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Eine von vielen Geschichten

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankun wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkau seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim He verkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom He verkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei nanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

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Rätsel aus #604 Lösungswort: GEDANKENZIMMER

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Rätsel aus #605 Lösungswort: VERMITTLUNGSVERSUCHE

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Jelena HoferAndjelkovic

*7. April 1960 bis †28. Juli 2025

Als sie im Sommer vor einem Jahr eine neue Wohnung suchen musste, hatte Jelena Hofer-Andjelkovic «Glück im Unglück», wie sie erzählte (Surprise 594/25). Beim Verkaufen von Surprise hatte sie gehört, wie eine Frau eine andere fragte, ob sie eine Wohnung zu vergeben habe, und diese sagte Ja. Ein paar Tage darauf sprach Jelena Hofer-Andjelkovic sie ebenfalls an. Und tatsächlich, die Frau hatte eine Wohnung für sie.

30 Jahre lang, ein halbes Leben, war Basel ihre Stadt. Und Kleinbasel, wo sie seit Jahren vor dem Coop im Klybeck Surprise verkaufte, ihr Quartier. Jelena Hofer-Andjelkovic kam 1995, mit 35 Jahren, in die Schweiz. Eigentlich wollte sie nur ihre Schwester besuchen, die schon länger in Zürich lebte. Doch sie lernte jemanden kennen und verliebte sich. Aldo, ihre grosse Liebe. Sie heirateten.

Jelena Hofer-Andjelkovic war in Serbien, im damaligen Jugoslawien, geboren worden. Mit neun Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Kroatien, in Zagreb eröffneten sie einen Kleiderladen. Mit siebzehn Jahren wurde sie zum ersten Mal Mutter, ein Jahr später zum zweiten Mal.

«Hut ab! Das war wohl nicht ganz einfach?», meinte der Journalist der Kleinbasler Quartierzeitung Mozaik, als er Jelena Hofer-Andjelkovic im November 2024 interviewte. Sie aber entgegnete: «Es war kein Problem.» Geklagt, etwa über ihre Rückenschmerzen, hat sie nicht. Es gelang ihr, in erster Linie die guten Dinge zu sehen und weniger das Schwierige und Schwere, das sie auch erlebt hat. Sie schien zu sagen: Ich bin hier, und gerade ist ziemlich vieles gut. Sie strahlte eine Herzlichkeit und Wärme aus. Der Austausch mit ihren Kund*innen hat ihr Kraft gegeben, wie auch der Zusammenhalt im Surprise Strassenchor.

Wenige der Sänger*innen sind länger dabei, als sie es war. Zehn Jahre lang besuchte sie am Dienstagabend die Chorprobe. Wenn der Chor ein serbisches oder kroatisches Lied einstudierte, war sie es, mit ihrer kräftigen und tiefen Stimme, die den anderen die Aussprache beibrachte. Im Chor geht es lebendig zu und her – sie, die eher ruhig war, liebte das. Wenn einige Sänger*innen ausgelassen tanzten, schien Jelena HoferAndjelkovic zu denken: «Muss ich wirklich?» – und im nächsten Moment tanzte sie mit.

Nach der Heirat mit Aldo verkaufte Jelena Hofer-Andjelkovic das Kleidergeschäft in Zagreb, das sie von ihren Eltern übernommen hatte, und zog mit ihren beiden Söhnen, damals 18 und 17 Jahre alt, nach Basel. Seit der frühen Trennung vom Vater der Kinder hatte sie sie alleine durchgebracht. Erst pendelte sie für die Arbeit nach Zürich, beim Flughafen leitete

An ihrer Beerdigung sang der Surprise Strassenchor «Laska Devla», ein Romn*ja-Lied, und «Malaika Nakupenda Malaika», ein swahilisches Lied, beide mochte Jelena Hofer-Andjelkovic besonders gerne.

sie ein Reinigungsteam, dann arbeitete sie in einer Buchhaltungsfirma. Bald erkrankte ihr Mann an Krebs. Im Jahr 2000 – nach fünf gemeinsamen Jahren – starb er. Für Jelena Hofer-Andjelkovic folgte eine schwierige Zeit. Sie erkrankte an einer Depression und konnte nicht mehr arbeiten; sie brauchte psychologische und medizinische Hilfe. Ihren Söhnen erzählte sie nichts davon.

Ob sie erst nach dem halbstündigen Aufwärmen zur Chorprobe kommen dürfe, fragte Jelena Hofer-Andjelkovic die Chorleiterin irgendwann. Sie sei nicht so beweglich und könne dann ein wenig länger arbeiten. Vor vielen Auftritten des Chors hiess es von Jelena Hofer-Andjelkovic, dass sie keine Zeit habe, sie müsse arbeiten. Sie kam dann doch – und nahm Magazine mit, die sie nach dem Konzert verkaufen konnte. Daneben gab es nur einen weiteren Grund, weshalb sie manchmal keine Zeit hatte: ein Besuch ihrer Enkelin Julia, für die sie immer da war. Sie las gerne – Philosophisches, Psychologisches, sehr gerne auch Liebesromane –, machte Spaziergänge und kochte. Immer wieder sagte sie ihrem jüngeren Sohn, er solle weniger arbeiten, sich auch Zeit nehmen für das Leben. Für die Familie, das Zusammensein.

Jelena Hofer-Andjelkovic starb am 28. Juli im Alter von 65 Jahren.

Text LEA STUBER

FOTO: DAVID HESS

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