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Ein Paar fürs Leben

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Termine

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Schritt für Schritt zum perfekten Schuh

Sein erster Blick geht nach unten. „Die sind ein bisschen zu groß“, lautet Benjamin Bigots Schnelldiagnose zu den tatsächlich etwas locker sitzenden Ballerinas, die ich heute zum Besuch in seiner Maßschuh-Werkstatt angezogen habe. Diese liegt im Alten Schlachthofviertel im Osten von Karlsruhe.

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Wer zu Benjamin, kurz Ben, will, muss eine ehemalige Großmarkthalle durchqueren. Einst handelte man hier mit Fleischwaren. Anstelle von Mettwurst und Hähnchen werden jetzt Keramik, Möbel und Kleidung in einem Dutzend schmaler Ateliers hergestellt. In seinem Studio verspricht Ben nun, dass er meine im Internet bestellten Schläppchen gerne nachher passend macht. Und rät, dass man Schuhe vor dem Kaufen besser immer anprobieren sollte. Sein französischer Akzent lässt den Rüffel freundlich klingen — außerdem hat er ja recht.

Ben, der aus Mâcon im südlichen Burgund stammt, lebte als Kind für einige Jahre mit seinen Eltern in Baden-Baden. Der Junge war begeistert vom deutschen Brot und wollte Bäcker werden. Im Laufe der Zeit änderte sich sein Berufswunsch, und er ließ sich schließlich in Marseille zum Maßschuhmacher ausbilden. Danach ging er als Wandergeselle für die Compagnons du Devoir – eine französische Handwerkergilde, die es seit dem Mittelalter gibt – fünf Jahre lang auf die Walz mit Stationen in Lyon, Toulouse, Straßburg und Paris. In Karlsruhe, wohin es den heute 40-Jährigen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern verschlug, eröffnete er 2010 sein erstes Ladenatelier in einem Vorort; seit Sommer 2021 ist er auf dem Schlachthofareal zu finden.

Sorgfältig bis ins letzte Detail: Benjamin Bigot bearbeitet die Brandsohle

In der ehemaligen Karlsruher Großmarkthalle haben sich Künstler und Handwerker angesiedelt

FOTOS: Benjamin Bigot (2), Sascha Schäfer (3)

Bevor Benjamin Bigot sich 2010 selbstständig machte, arbeitete er für die britische Nobelschuhfirma John Lobb. Ab 2015 unterrichtete er auch an der Pforzheimer Hochschule für Design

Skizzen, Werkzeug und Jojoba-Öl

Der Geruch nach Leder ist intensiv im Atelier: In den Schubfächern des Arbeitstisches befinden sich viele Rollen in unterschiedlichen Farben. Auf der Werkbank liegen Skizzen, Werkzeug und Bens bevorzugtes Schuhputzmittel aus Frankreich: Saphir Crème Universelle mit Bienenwachs und Jojoba-Öl. Er hält sein eigenes Paar Stiefel hoch, das er am Vormittag damit eingecremt und danach poliert hat. Es glänzt satt, „ich putze sie manchmal sogar zweimal am Tag“, erklärt Ben, der – außer einem Paar Turnschuhe – nur eigene Kreationen trägt.

Bevor der Schuhmacher zum Werkzeug greift, spricht er ausführlich mit den Kunden. Sie reisen aus ganz Deutschland, Frankreich und der Schweiz an. Manchmal fährt er auch zu Vielbeschäftigten mit wenig Zeit: „Ich habe schon am Leipziger Bahnhof Maß genommen.“

Ein Franzose fertigt in seiner Karlsruher Werkstatt passgenaue Schuhe für seine Kunden an. Die sparen oft viele Monate auf den Luxus für ihre Füße

Schuhpaar „Jonathan“ aus braunem Cordovan

Die Leisten hängen dicht an dicht in allen Größen unter der Decke

Sobald die Füße vermessen sind, kann Ben den Leisten anfertigen. Er bekommt die Formstücke aus Holz grob vorgefertigt und feilt sie dann individuell auf die Maße zu. Um den Leisten wird später der ganze Schuh aufgebaut werden. Als Nächstes stellt Benjamin einen Probeschuh her, den die Kunden beim zweiten Termin anprobieren. Wenn etwas drückt, ändert er es auf dem Leisten. Dann wird besprochen, welches Schuhmodell es sein soll. „Dabei fließt die Persönlichkeit der Menschen ein, ich kann mit dem Design experimentieren, neue Farbkombinationen ausprobieren.“ Es ist vieles möglich, jedoch verwendet Ben keine exotischen Lederarten wie Schlange oder Krokodil. Meistens verarbeitet er Pferdeleder, auch Cordovan genannt.

Nun schneidet Ben das ausgewählte Leder zu und zieht es auf den Leisten. Der wichtigste Schritt besteht darin, die Brandsohle (Innensohle) ebenfalls aus Leder anzufertigen und auf den Leisten zu nageln. Sie ist die Basis für jeden Schuh, sorgt dafür, dass er gut sitzt. Jetzt wird der Schaft, das Schuhoberteil, über den Leisten gezogen, „gezwickt“, wie es in der Fachsprache heißt, und an der Innensohle befestigt. Aufwändig vernäht Ben den Rahmen von Hand mit dem Oberteil und der Brandsohle. Zum Schluss bringt er die Laufsohle an. Nach rund 200 Arbeitsprozessen hat der Schuhmacher das fertige Produkt vor sich stehen. Ein Paar kostet 4500 Euro. Die Kunden warten bis zu acht Monate darauf.

„Ich will den Menschen zeigen, wie wertvoll alte Fertigungstechniken heute noch sind.“

Sie halten jahrzehntelang

Wieso entscheidet sich jemand, eine solch stattliche Summe auszugeben? Benjamin Bigot erklärt: „Die Maßarbeit ist sehr langlebig. Die Schuhe halten bei guter Pflege 30 Jahre. Sie sind pflegeleicht, robust und haben eine Farbe, die kein anderes Leder als Cordovan bietet. Zudem kann man sie immer wieder gut reparieren.“ Vor allem sind Maßschuhe sehr bequem, durch die individuelle Anpassung drückt rein gar nichts. So kommt es, dass sich nicht nur die Superreichen ein Paar leisten. „Die

Gute Schuh(l)e:

Benjamin Bigot fertigt von Halbschuhen über die sehr beliebten Stiefeletten für Männer und Frauen auch üppig bestickte Pumps an. Mehr zu den Modellen unter: www.originelleschuhe.de Dort finden Sie auch alles zu seinen Kursen im Schuheputzen; sie dauern rund vier Stunden. Außerdem kann man bei ihm auch ein einwöchiges Seminar im Maßschuhmachen absolvieren.

Arbeitsmaterial: dicke Spulen mit Fäden unterschiedlicher Stärke

FOTOS: Benjamin Bigot (5), Sascha Schäfer (2)

Menschen stammen aus allen Gesellschaftsschichten. Manche sparen lange darauf“, weiß Ben. „Ein 23-Jähriger war bei mir, um Maß nehmen zu lassen, nach einem Dreivierteljahr kam er wieder und sagte: ‚Fertige die Leisten an.‘ Er hatte jeden Monat Geld zur Seite gelegt.“

Es gibt jedoch noch andere Gründe als ästhetische für Maßschuhe: gesundheitliche Probleme. Häufig sind es Frauen, die unter einem Hallux valgus leiden, einer schmerzhaften Schiefstellung des großen Zehs. Ben, der auch gelernt hat, orthopädisches Schuhwerk herzustellen, gestaltet seinen Entwurf dann entsprechend. Einem Kunden, der ein verkürztes Bein hat, schenkte er ebenfalls Linderung. Der Mann litt in seiner Kindheit darunter, dass er aufgrund seines Gangs gehänselt wurde. Nie passte ein Schuh richtig, erst die Maßarbeit saß. Ben: „Er hat gleich vier Paar nachbestellt, und ich bin mir sicher, dass er sie gut pflegen wird.“

Schuhputz mit Musik und Kaffee

Auch das kann man bei Ben lernen: Schuhe putzen. Der Franzose gibt Kurse, in denen eine Gruppe ihre mitgebrachten Treter wienert. Dabei wird nicht nur geputzt: Mal veranstaltet Ben ein Frühstück, mal findet ein Konzert von befreundeten Musikern statt. „Die Leute im Kurs sind oft verschieden – aber alle mögen Schuhe“, sagt er. „Für mich ist es ein bisschen wie ein Theaterstück, ich habe vorher auch Lampenfieber. Aber sobald sie versuchen, ihre Schürzen anzuziehen – was kompliziert ist – hilft man sich, und das Eis ist gebrochen.“

Tatsächlich ist Ben inzwischen auch für eine richtige Bühne tätig. Am Staatstheater Karlsruhe entwirft und näht er in der Requisitenabteilung Schuhe. Ihm gefällt der Kontrast: Die Kompanie braucht jede Saison neue Modelle, seine Maßschuhkundschaft will etwas fürs Leben. Allerdings schone Letztere die edlen Stücke bisweilen sogar zu sehr: „Einige trauen sich gar nicht, sie auch zu tragen, weil sie so teuer waren. Sie stellen sie wie Kunstwerke in den Schrank. Aber es ist besser, sie häufig anzuziehen. Wenn etwas kaputt geht, kann ich es reparieren. Also immer raus damit, auf die Straße. Schuhe müssen leben.“

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