DAS F IK T IV E PHILO S O PHEN- IN T ERV IE W
SCHOPENHAUER SAGT:
«Selbstverwirklichung ist Blödsinn»
Sich selbst zu verwirklichen halten Sie für kontraproduktiv? Damit stehen Sie ziemlich alleine da. Ist mir doch egal, solange es der Wahrheit entspricht. Und das tut es: erstens, weil es dieses ach so tolle Selbst gar nicht gibt; zweitens, weil uns das Wollen auf Dauer versklavt. Ist doch furchtbar, ewig ein Sklave des Willens zu sein – ewig irgendetwas sein zu wollen, was es in Wahrheit gar nicht gibt. Okay, aber was gibt’s dann igentlich noch für uns zu tun? e Gar nichts zu wollen und gar nichts zu sein klingt irgendwie trostlos. Bingo, genau so ist es: trostlos. Das Leben ist eine ziemlich trostlose Angelegenheit – oder sagen wir so: Es wäre komplett trostlos, wenn es da nicht etwas gäbe, was uns von dem ganzen Elend des Wollens befreit.
Das heisst: Wir sind nichts anderes als das, was wir zu sein «Ich warne Sie glauben. Kein Selbst, keine Seele, eindringlich: kein W esenskern oder so etwas? Und alle Bemühungen, das wahre Von dem, was Selbst zu finden, sind Quatsch? in Ihnen steckt, Sagen wir mal so: Da ist schon lassen Sie besser etwas im Hintergrund Ihres Ichs, Da machen Sie mich jetzt aber dessen Sie sich nicht bewusst sind neugierig. Was denn? die Finger.» und was Sie unaufhaltsam vor sich Resignation! Na, na, nun schauen hertreibt. Psychologen nennen es Sie nicht so bedröppelt. Ich meine «das Unbewusste». Ich nenne es «den Willen». Und ich das zwar ernst, habe aber noch mehr zu bieten. Das verstehe darunter eine schwer greifbare Dynamik, die Beste, was Sie tun können, wenn Sie glücklich werden überall in der Welt zugange ist: Evolution, Fortschritt, wollen, ist, dieses ganze Rumgestochere in sich selbst Entwicklung, Geschichte, Ihre Biografie – das alles aufzugeben und sich etwas hinzugeben, bei dem Sie wird unermüdlich vom Willen angetrieben. Wenn es sich komplett selbst vergessen. Kunst oder Musik zum irgendetwas wie Ihr wahres Wesen gibt, dann ist das Beispiel. Das schaltet den Willen aus, da kommen Sie dieser in Ihnen wabernde Wille. zur Ruhe – und vielleicht ja auch zur Wahrheit, die dort beginnt, wo der Wille aufhört. Fussballgucken ist Aber ist das nicht nur ein anderes Wort für die Seele übrigens auch gut. Werde gleich einmal schauen, was oder das Selbst, das zu entdecken uns die von Ihnen die Eintracht macht … so wenig geschätzten Psychologen nahelegen? ARTHUR SCHOPENHAUER (1788–1860) ist der wohl einfluss Nein, der Wille, von dem ich rede, ist unpersönlich. reichste Philosoph Europas. Seine vollständig erhaltenen Dia Er ist die treibende Kraft, die nichts und niemanden loge verraten nicht nur eine beachtliche literarische Begabung, je zur Ruhe kommen lässt. Dieser elende Wille macht sondern auch die Fähigkeit, die Weisheit der griechischen Antike uns fertig. Ihn als «Potenzial zu entfalten» wäre das in einer Philosophie zusammenzufassen. Dümmste, was Sie tun können. Das führt zu nichts als CHRISTOPH QUARCH, 57, ist deutscher Philosoph, Gründer Stress. Wollen, wollen – immer mehr, immer Neues. der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3.org) und Autor Mein Gott! Das mag zwar gut fürs Business sein, aber zahlreicher philosophischer Bücher. Zuletzt erschienen: Sie, mein Freund, gehen in diesem Hamsterrad vor «Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen». die Hunde. Was glauben Sie, weshalb so viele Leute 16
THE RED BULLETIN
BENE ROHLMANN
the red bulletin: «Du musst dein wahres Selbst finden!» – «Du musst dich selbst verwirklichen!» – «Du musst dein Potenzial entfalten!» So oder ähnlich bekommen wir es ständig gepredigt. Was halten Sie davon? Arthur schopenhauer: Nichts halte ich davon, rein gar nichts. Das ist in meinen Augen Küchenpsychologie, die vielleicht für bunte Wochenend-Illustrierte taugt, aber nicht fürs wirkliche Leben.
an Burnout leiden? Weil sie zu viel wollen. Deshalb warne ich Sie eindringlich: Von dem, was da in Ihnen steckt, lassen Sie besser die Finger.
DR. CHRISTOPH QUARCH
Wer wirklich zu sich selbst finden will, muss sich zuerst selbst vergessen. Denn prinzipiell steht unserem Glück nur eines im Weg: Wir wollen zu viel. Das behauptet der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer in unserem fiktiven Interview mit Christoph Quarch.