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BOULEVARD DER HELDEN
MARK SPITZ VERLIEBT IN SUPERMAN
Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die aussergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 4: Teenie-Schwärmerei für einen Meisterschwimmer im Sommer 1972.
Das ist eine alte Geschichte, an die manchmal gern, manchmal ungern erinnert wird. Sie trug sich im Sommer 1972 zu. Die Olympischen Spiele fanden in München statt. Wir alle, die damals so viel Freude am Sport hatten, denken gern daran – mein Onkel Hans war Schiedsrichter beim Hochsprung der Damen; und wir denken nicht gern daran, denn ein grosses Verbrechen war geschehen: Palästinensische Terroristen überfelen das Camp der israelischen olympischen Mannschaft und ermordeten zwei Sportler. Insgesamt starben siebzehn Menschen.
So viel Freiheit war in meinem Leben damals. Ich war Student, in den Semesterferien wollte ich arbeiten, um wenigstens einen Teil meines Studiums selbst zu verdienen. Genauso mein Freund. Es gab die Möglichkeit, in der Schweiz auf den Feldern Bohnen zu ernten, da konnte man gut Geld machen und eine interessante sonnenbraune Haut bekommen, aber die Arbeit war beschwerlich – und: Wir wären nicht dazugekommen fernzusehen, wir hätten die meisten Wettbewerbe verpasst. Das allein war unser Antrieb, dem ORF ein Hörspiel anzubieten, das erste, wir hatten keine Erfahrung. Aber der ORF nahm an, und wir verdienten etwa genauso viel wie auf den Schweizer Bohnenfeldern. Und wir konnten uns im Fernsehen die Olympischen Spiele ansehen.
Das war Glück.
Meine Familie hatte damals noch keinen Fernseher. Aber die Familie meines Freundes hatte einen. Er studierte auch, fast das Gleiche wie ich, er hatte eine sehr liebe kleine Schwester, sie war erst vierzehn und interessierte sich überhaupt nicht für Sport. Sie mochte ihren Bruder gern, und mich mochte sie auch, ich darf
mir sogar einbilden, sie mochte mich besonders gern, und deshalb setzte sie sich zu uns und schaute sich gemeinsam mit uns an, was da alles in München geschah. Und dann verliebte sie sich. Und sie verliebte sich so heftig, so bedingungslos, voll Hingabe und Verzweiflung – nie in meinem Leben bin ich MICHAEL KÖHLMEIER einem solchen Überschwang begegnet.
Der Vorarlberger Sie verliebte sich in Mark Spitz.
Bestsellerautor gilt Und das war ja auch ganz leicht. Mark als bester Erzähler Spitz war Schwimmer, er trat für die USA deutscher Zunge. Zuletzt erschienen: «Die Märchen», an. Er war ein schöner Mann – das erstens. Zweitens war er am Ende der Spiele der er816 Seiten, Verlag folgreichste olympische Sportler aller Zeiten. Carl Hanser. Sieben Goldmedaillen hat er gewonnen! Ausserdem sieben Mal Weltrekord! Und das innerhalb einer Woche! Zu gross, um es nur zu erwähnen; ich will, ich muss aufzählen: Am 28. August 200 Meter Schmetterling und 4×100 Meter Freistil, am 29. August 200 Meter Freistil, am 31. August 100 Meter Schmetterling und 4×200 Meter Freistil, am 3. September 100 Meter Freistil, am 4. September 4×100 Meter Lagen. Während sich seine Konkurrenten alle Haare vom Körper rasieren liessen, um dadurch vielleicht um ein paar Hundertstel schneller zu sein, trat Mark Spitz mit fast schulterlangen braunen Locken auf und mit einem attraktiven Schnurrbart. Hundertstelsekunden spielten bei ihm keine Rolle, wo er doch alle anderen manchmal sogar um einige Längen hinter sich liess.
Die Schwester meines Freundes versäumte keinen Start. Sie feberte. Sie feberte nicht, weil sie sich um einen Sieg ihres Idols sorgte. Nein. Jeder wusste, Mark Spitz würde in allen Disziplinen, in denen er antrat, gewinnen. Sie feberte, weil sie fürchtete, er könnte schon vergeben sein. Sie war vierzehn

Jahre alt, aber doch nicht so naiv, dass sie dachte, sie könne diesen Prinzen des Wassers erobern. Nicht in der Wirklichkeit jedenfalls. Aber in ihren Träumen. Nur Verrückten gelingt es, ihre Träume ganz und gar von der Wirklichkeit zu lösen – ich kann mir nicht einbilden, ein Wolf zu sein, aber ich kann mir einbilden, einen dressierten Wolf zu besitzen. Ich will der Schwester meines Freundes einen Namen geben, einen falschen Namen, ich hoffe, das wird mir niemand nachtragen. Ich nenne sie Marianne. Mariannes Traum wäre zerstört worden, hätte sie erfahren, Mark Spitz sei verheiratet oder verlobt oder sonst wie gebunden. Sie stutzte ihre Träume zurecht. Wenigstens die Hand wollte sie ihm geben. Wenigstens ein paar Worte wollte sie mit ihm wechseln. Vielleicht ihm das Handtuch reichen, wenn er aus dem Bassin steigt.
Und dann war sie weg. Es war am 4. September, Marianne war verschwunden.
Ohne einen Brief. Ohne jemandem etwas zu sagen. Ihr Bruder berichtete, er sei früher als sonst aufgewacht, er wollte Marianne wecken, sie war nicht mehr da. Als sie bis zum Abend nichts von ihr hörten, verständigten die Eltern die Polizei.
Ach, es ist eine merkwürdige Geschichte! Meine Familie hatte damals nicht nur keinen Fernseher, wir hatten auch kein Telefon. Wenn ich telefonieren wollte, ging ich in den Gemischtwarenladen in unserer Strasse. Jeder in unserer Strasse kannte die Nummer dieses Ladens. Marianne auch. Am Morgen des 5. September klingelte es an unserer Haustür, die Angestellte des Ladens stand draussen und sagte, ich werde am Telefon verlangt. Es war Marianne. Sie rief aus München an, von einer Telefonzelle. Sie habe leider nur wenige Münzen sagte sie, sie sprach schnell und mit hoher, aufgeregter Stimme. Ich solle bitte ihren Eltern ausrichten, es gehe ihr gut, sie sei sehr, sehr glücklich. Mich bat sie, ich solle sie in München abholen, sie habe kein Geld mehr für die Rückreise. Ich fragte, wo ich sie denn treffen könne. Sie rief in den Hörer: «Bei Mark …» Dann brach die Verbindung ab.
Ich mochte Marianne von Herzen gern, also fuhr ich nach München. Aber wo ist «bei Mark»? Dass sie Mark Spitz gemeint hatte, das war klar. In diesen Tagen war dieser Mann der grösste Star der Welt. Den kann man nicht einfach treffen. Zugleich aber dachte ich, wenn es jemand kann, dann Marianne. Was wird sie tun? Mit dem unbedingten Zutrauen eines vierzehnjährigen verliebten Mädchens wird sie sich durch die Stadt zum olympischen Dorf fragen und dort zu den amerikanischen Sportlern und dort zu Mark Spitz. Also, dachte ich, mache ich es genauso. Und ich traf sie. Sie sass, an die Wand einer Baracke gelehnt, im amerikanischen Bezirk und lachte mir entgegen. Sie habe, rief sie mir schon von Weitem zu, Mark Spitz getroffen. Er habe sie auf eine Jause eingeladen und ihr eine Limonade spendiert. Und dann habe er ihr einen Kuss gegeben. Auf den Mund. Hundertprozentig. «Gott, ich lüge nicht!»
Was soll ich sagen: Ich glaubte ihr.
«Glaubst du mir?», fragte sie.
«Ich glaube dir», sagte ich.
«Hundertprozentig?»
«Hundertprozentig.»
Sie war glücklich. Wir gingen den weiten Weg in die Stadt, und dort lud ich sie auf ein Eis ein, nicht irgendein Eis, sondern ein sechsstöckiges, das nur zur Hälfte abgeschleckt werden konnte, der Rest tropfte ihr über die Hand und den Ärmel hinunter auf die Beine und die Schuhe, es war ein sehr heisser Tag. Sie lachte darüber. Sie war glücklich. Über und über.
«Also erzähl», sagte ich. «Wie ist er?»
Sie wollte gerade beginnen – ich schwöre –, da war um uns herum plötzlich ein Tumult – Polizeisirenen heulten, Menschen schrien, Durchsagen ertönten. Was war geschehen? Terroristen hatten das Haus des israelischen Olympiateams gestürmt, zwei Männer erschossen und die anderen als Geiseln genommen. Einer neben uns sagte, sie hätten auch Mark Spitz in ihrer Gewalt, er sei zwar Amerikaner, aber Jude, und die Terroristen wollten alle Juden töten.
Marianne brach zusammen und weinte und weinte weiter, noch als wir erfuhren, dass Mark Spitz in Sicherheit sei. Er sei unter einer Decke in einem Auto aus dem olympischen Dorf gebracht und nach London ausgefogen worden.
Dreissig Jahre später war Marianne in Amerika. Sie besuchte ihren Bruder, meinen Freund, er war inzwischen ein ziemlich berühmter Rockmusiker. Sie erkundigte sich nach Mark Spitz, fand heraus, wo er lebte, mietete sich einen Pontiac Firebird, fuhr nach Modesto in Kalifornien und klingelte an seiner Tür.
Und Mark Spitz himself öffnete.
Und Mark Spitz himself lud sie zu sich in sein Haus ein, er selbst liess ihr einen Kaffee aus der Espressomaschine rinnen, er selbst holte einen Kranz Eiskuchen aus dem Tiefkühlschrank. Er sah immer noch gut aus, die Haare waren inzwischen grau geworden, auch der Oberlippenbart – Marianne vermutete, er färbe ihn den Haaren nach, was sie als geschmackvoll wertete.
Sie verbrachten einen netten Nachmittag miteinander. Marianne erzählte ihm, dass sie vor dreissig Jahren einen sehr, sehr guten Freund angelogen habe, dass sie diesem Freund erzählt habe, sie habe ihn, Mark, in München während der Olympischen Spiele getroffen, ihn persönlich, im olympischen Dorf, sie habe ihm, Mark, die Hand gegeben und er, Mark, habe sie auf die Wange geküsst. Sie habe den langen Weg nach Modesto zurückgelegt, um diese Lüge auszulöschen. Ob er, Mark, sie, bitte, auf die Wange küssen wolle.
Das tat er.
Weitere zehn Jahre später traf ich Marianne in Wien. Wir hatten uns in all den Jahren aus den Augen verloren. Aber das bedeutete nichts. Sie hatte geheiratet, sich scheiden lassen, wieder geheiratet, sich wieder scheiden lassen. Sie sagte zu mir, ich sei der beste Freund in ihrer Jugend gewesen. Sie sagte, ich solle mich nicht wundern, aber sie wolle mir das Geld zurückgeben, das ich damals für ihre Rückfahrt aus München ausgelegt habe. Sie habe kein Glück mit Männern, sagte sie. Sie habe sich als Vierzehnjährige in Superman verliebt, das sei ihr Verhängnis gewesen. Und dann erzählte sie mir von ihrem Nachmittag im Haus von Mark Spitz in Modesto in Kalifornien.
Und was soll ich sagen: Ich glaubte ihr.
«Glaubst du mir?», fragte sie.
«Ich glaube dir», sagte ich.
«Hundertprozentig?»
«Hundertprozentig.»



