2 Bildliche Narration 2.1 Ein kurzer Einblick in die lange Geschichte der Bildgeschichte Auch wenn es interessant und in anderen Umständen von Nöten wäre, die Geschichte des Comics genauer zu erläutern, hat sie für mein Thema des textfreien Comics keine grosse Wichtigkeit. Abgesehen davon behandelt die Mehrheit der Comictheorien den klassischen Text- und Bild-Comic, mit einigen Ausnahmen, die tatsächlich die Anfänge der Bilderzählarbeiten wie z.B. solche von William Hogarth (z.B. A Rake’s Progress, 1735) beleuchten. Einen solchen Umweg über die Entstehung, die Entwicklung, den Erfolg, das Aufkommen und die Abspaltung mittels des Begriffs der Graphic Novel, würde in einer Fragestellung über Funktion und Qualität des textfreien Comics einen zu grossen Platz einnehmen. Ein kurzer, erklärender Blick zurück auf die spezifisch wortlosen Comic-Bildgeschichten schadet aber auf keinen Fall. Die Erzählweise weit zurückliegender wortloser Bildgeschichten ist ähnlich wie die heute verwendete. Jedoch waren es damals andere Gründe und andere Motivationen, um eine Bildgeschichte ohne Text zu erzählen, als es heute der Fall ist. So kommt es, dass schon lange vor der Entstehung des Begriffs Comic, in mittelalterlichen Zeiten in textfreien Bildgeschichten die Geschichte Jesus Christus auf kirchlichen Darstellungen gezeigt beziehungsweise erzählt wurde. Der einfache Grund dafür war, dass die meisten Menschen damals nicht lesen konnten. Weil die Kirche aber allen Menschen einen Zugang zum Christentum ermöglichen wollte, wurden Bildgeschichten verwendet. Ausschlaggebend für das Verständnis dieser Bildgeschichten waren die biblischen Erzählungen durch Geistliche. Die Bedeutung des gezeigten Bildes erschloss sich erst aus der schriftlichen Ergänzung (Texte aus der Bibel) oder aus Symbolen, die man schon zu lesen und deuten gelernt hat. Wenn die Geschichte Christi nicht schon mündlich vermittelt wurde, würde man ein Bild von seiner Kreuzigung kaum richtig deuten; z.B. ein bärtiger Mann ist an einem hölzernen Kreuz aufgehängt, mit vier Nägeln befestigt, trägt einen Dornenkranz und ist von Menschen umringt. Identisch verhält es sich mit antiken Keramik-Bildgeschichten, bei welchen die Geschichten und speziell deren Akteure, nur mit dementsprechenden Vorkenntnissen verstanden wurden.2 Das Lese- oder Deutungs-Verständnis zu gewährleisten mit Verzicht auf schriftliche Zusätze ist aber essenziell für eine textfreie
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Ergänzend dazu; Grünewald 2014, in: Bild ist Text ist Bild, S.23.
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