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Medizin – mehr als Naturwissen schaft?

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Medizin – mehr als Naturwissenschaft?

KOMMENTAR: Warum die Integration von komplementärmedizinischen Aspekten in der Ärzteausbildung dringend nötig wäre*

Die Medizin, lateinisch ars medicina, die ärztliche Kunst, ist die „Wissenschaft vom gesunden und kranken Menschen, von den Ursachen, Wirkungen und der Vorbeugung und Heilung der Krankheiten“ – so heißt es im Pschyrembel1. Medizin wird auch als „Heilkunst“, „Heilkunde“ und „ärztliche Wissenschaft“ beschrieben. Aber was ist das Besondere an dieser Definition? Es bleibt unerwähnt, dass Medizin eine Naturwissenschaft ist.

Das naturwissenschaftliche Fundament der Medizin

Eine Krankheit betrifft den gesamten Organismus. Dazu zählen körperliche Symptome ebenso wie vegetative, psychosomatische, psychische, soziale und mentale Faktoren. Letztere sind subjektiv, daher nicht messbar und das Besondere eines jeden Individuums. Aufgrund dieser Unschärfen sowie des individuellen Ansprechens der Patienten auf Medikamente und auf Therapien kann Medizin nicht als exakte Naturwissenschaft betrieben werden. Medizinische Wissenschaft ist also mehr als Naturwissenschaft. Befunde müssen gedeutet werden. Die Beurteilung von Befunden und die Verschreibung von Medikamenten sind nur mit „klinischer Erfahrung“ möglich. Das folgende Zitat von ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Marktl, emeritierter Physiologe der MedUni Wien und Präsident der GAMED (Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin), verdeutlicht diese Auffassung: „Es ist keine Frage, dass die Naturwissenschaft eine Grundlage des medizinischen Handelns ausmacht. Naturwissenschaft ist keineswegs die einzige Art von Wissenschaft und hat vor allem keinen ursprünglichen Bezug zum Menschen und seinen fundamentalen Bedürfnissen. Medizin sollte aber den Menschen in seiner Gesamtheit und seinen Bezügen zur Umwelt in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Dabei sollte es zu einer Synthese einer naturwissenschaftlichen und einer Auffassung von Gesundheit und Krankheit kommen, die anderen Denkweisen entspricht. Zweifelsohne sind dabei bestimmte Kriterien der Seriosität einzuhalten, die aber keineswegs identisch sind mit einem ausschließlich naturwissenschaftlichen Zugang, demzufolge der Mensch und seine Lebensäußerungen ausschließlich auf der Basis von Chemie und Physik zu erklären sind.“ Somit kann festgestellt werden, dass die Medizin Methoden der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Sozialwissenschaften – in wachsendem Umfang auch Kenntnisse aus Computerwissenschaften, Rechtswissenschaften, Soziologie, Ökologie, Philosophie und Ethik – für die Behandlung Kranker in der Praxis benötigt.

Autor: Dr. Bernhard Zauner

Arzt für Allgemeinmedizin, Referent für Komplementärmedizin der Ärztekammer für OÖ, 2. Vizepräsident der Ärztegesellschaft für klassische Homöopathie

Die Bedeutung klinischer Erfahrung

Ärztliche Arbeit beruht auf Entscheidungen. Diese sind erforderlich, weil Wissen zum Teil immer theoretisch bleibt, Handeln aber real ist. Letzteres erfolgt aufgrund ausreichender „Legitimation“, aufgrund von Wissen, aus guten und klaren Gründen. Leider lässt sich nicht jedes Handeln und somit jede Entscheidung durch Wissen belegen – es braucht neben der fachlichen Urteilskraft auch eine menschliche Beurteilung. Um diese Entscheidungen treffen zu können, wird Erfahrung benötigt, in der Medizin klinische Erfahrung, um praktisch handeln zu können. Die Medizin ist eine praktische Wissenschaft. Bezeichnend dafür ist der alte Begriff des praktischen Arztes, welcher durch den des Allgemeinmediziners ersetzt wurde. Praktische Ärzte streben Handlungen an, um praktische Ziele zu erreichen. So geht es in der Medizin nicht nur um Erkenntnis, sondern auch um Handlungen, die erkrankten Men- >

schen Heilung oder Linderung bringen sollen. Dieses Handeln in der täglichen Praxis hält sich nicht immer exakt an die Theorie. Zwischen Theoriewissen und Anwendung klafft eine Lücke. Keine Theorie und kein wissenschaftliches Konzept kann exakt angeben, wie unter Praxisbedingungen zu handeln ist. Der Sprung von der Theorie zur Praxis ist nur mit menschlicher Urteilskraft möglich. Das Handeln orientiert sich an verbindlichen Werten. Als Arzt muss man Nutzen und Schaden abwägen, den individuellen Krankheitszustand und die Wünsche der Patienten. Medizin ist folglich nicht die Optimierung von theoretischem Wissen, vielmehr geht es darum, Kranken zu helfen. So verlangt jede Krankenbehandlung Schritte, selbst dann, wenn die Datenlage unsicher oder auch unvollständig ist.

Gesundheit als Definitionsfrage

Unser Gesundheitssystem definiert sich über Krankheit und geht nicht vom gesunden Menschen aus. Als Arzt muss man darüber Bescheid wissen, was Gesundheit ist. Diesbezüglich gibt es Ansätze. Die allgemein bekannte Definition der WHO lautet: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Hier sehen wir schon, dass es um mehr als die Abwesenheit von Krankheiten geht. Friedrich Nietzsche2– auch Philosophen haben sich darüber Gedanken gemacht – wird folgende Definition zugeschrieben: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Ein Arzt muss darüber Bescheid wissen, was Krankheit ist. Krankheit wird in der lateinischen Sprache als insanitas – also als „Ungesundheit“ – bezeichnet, im Unterschied zu sanitas, der Gesundheit. Wo beginnt nun Krankheit? Hängt dies rein von gemessenen Laborwerten ab, von den Abweichungen von einem Normalbefund, welche bildgebende Verfahren erkennen lassen? Oder spielen auch subjektive Befindlichkeiten von Patienten eine Rolle? Kann hier eine klare Linie gezogen werden oder sind diese Übergänge fließend? Ist eine Befindlichkeitsstörung, bei der keine abweichenden Untersuchungsergebnisse festgestellt werden konnten, insanitas oder sanitas? Ist es die Aufgabe des Arztes, sich bei nicht naturwissenschaftlich messbaren Beschwerden um den Patienten zu kümmern?

Komplementärmedizin im internationalen Vergleich

Wir können dankbar sein, dass wir in einem Land wie Österreich leben, welches sich ein gutes Gesundheitssystem (bedingt) leisten kann. Die universitäre Medizin, die sich in Österreich der „evidenzbasierten konventionellen Medizin“ verschrieben hat, stellt einen wichtigen Teil der Versorgung der Bevölkerung dar, ist unverzichtbar und hat in den letzten Jahrzehnten hervorragende Fortschritte erzielt. Was wir zusätzlich brauchen, ist ein Dialog mit anderen Wissenschaften, um Denkweisen aufzunehmen, die Kranken helfen können. Jene führen weg vom einzelnen Körperteil, der repariert wird, oder vom Organ, das ausgetauscht wird. Bedauerlich ist auch das Desinteresse an einer ganzheitlichen Medizin seitens der Gesundheitspolitik, was angesichts des Umstandes, dass die Bevölkerung diese Art von humaner Medizin gerne annimmt, befremdlich erscheint. Wie ist die Situation außerhalb Österreichs? In Nordamerika gab es 2012 bereits 54 „Institute für Integrative Medizin“ an medizinischen Universitäten. Ein Zitat von Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Robert Jütte3 bringt die Lage auf den Punkt: „Während bei uns in Europa wieder Forderungen laut werden, die Komplementärmedizin aus dem Curriculum zu verbannen oder nicht mehr von den Kassen erstatten zu lassen, wird in den USA an den medizinischen Universitäten, auch in Harvard, eine erstaunliche Bandbreite unterrichtet.“ In der Schweiz werden seit Sommer 2017 komplementärmedizinische Therapien von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt. Es gibt einen Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Zürich, eine kollegiale Instanz für Komplementärmedizin an der Universität Bern und eine Unité de recherche et d’enseignement in Lausanne. Lehrstühle und Forschung in puncto Integrativer Medizin sind in Bayern und BadenWürttemberg geplant, auch mit Unterstützung der Politik.

Ein integrativer Zugang

Therapeutisches Handeln gehört stets an eine fundierte Ausbildung gekoppelt, es muss weiterhin Ärzten vorbehalten bleiben. Die komplementärmedizinische Therapie muss sich dabei immer mit dem aktuellen Stand der konventionellen medizinischen Therapie vergleichen. Bei der Behandlung akuter Krankheiten muss z. B. die komplementärmedizinische Therapie ebenso effektiv wirken wie die konventionelle Therapie. Bei chronischen Krankheiten darf durch die komplementärmedizinische Therapie keine Zeit verloren gehen bzw. darf dadurch die Krankheit nicht fortschreiten, die man mit konventioneller Therapie hätte aufhalten können, unter Berücksichtigung der Vermeidung iatrogener Pathologie durch Therapieschäden. Eine Integration von komplementärmedizinischen Aspekten in Studium und Ärzteausbildung ist dringend nötig. Es bedarf der Information und Vermittlung von Grundwissen, um den Patienten bei der richtigen Entscheidung zu helfen. Die Verankerung des Fachgebietes „Komplementärmedizin“, gelehrt von Komplementärmedizinern als Integrative Medizin in der akademischen Ausbildung an den medizinischen Universitäten, muss angestrebt werden. Es braucht gute Studien in Kooperation mit Universitäten und Krankenversicherungen mit finanzieller Unterstützung. Zudem ist ein faires Miteinander von konventioneller und komplementärer Medizin im Sinne der Integrativmedizin samt einer respektvollen akademisch geführten Diskussion mit ärztlicher Kompetenz unerlässlich.

* Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Zusammenfassung der Veranstaltung „Medizin – mehr als

Naturwissenschaft“ vom 08.02.2021 im Rahmen des

Keplersalons.

Quellen: 1 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, 256. Auflage,

Walter de Gruyter, 1990. 2 wikipedia.org/wiki/Gesundheit, 20.05.2021. 3 „Pluralismus in der Medizin“, 4. 12. 2019 in Linz.

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