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Machtmissbrauch hinterlässt Spuren
#METOO
Machtmissbrauch hinterlässt Spuren
Erst jüngst wurden Vorwürfe wegen angeblicher sexueller Belästigung gegen einen österreichischen Verleger laut. Der HAUSARZT sprach mit Experten über die Relevanz des Themas dreieinhalb Jahre nachdem #MeToo Geschichte machte.
Eigentlich wollte sich Natalie K. von ihrer Hausärztin nur ein Medikament gegen Schlafstörungen verschreiben lassen. Die 32-Jährige hatte nicht vor, die sexuellen Übergriffe in ihrer Arbeit im Gespräch mit ihrer Allgemeinmedizinerin zu thematisieren. Als diese jedoch „nachzubohren“ begann, sich erkundigte, seit wann sie die Probleme habe, was sie als Ursache vermute, ob private oder berufliche Gründe dahinterstecken könnten, sprudelte es aus der jungen Frau heraus: dass sie im Büro immer öfter mit abfälligen Witzen und zweideutigen, sexualisierten Äußerungen konfrontiert sei. Dass ein Vorgesetzter sie schon mehrmals, z. B. beim Kaffeeautomaten, wie zufällig berührt habe. Und Ähnliches mehr. All das belastet die Patientin sehr. Sie ist in der Situation zu perplex, um adäquat darauf zu reagieren. Hinzu kommt, dass sie ihren Job nicht verlieren will. Nun sollte man meinen, dass dreieinhalb Jahre, nachdem #MeToo Geschichte machte, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz im Abnehmen begriffen seien. Damals, im Oktober 2017, begann der Skandal bekanntlich damit, dass Alyssa Milano, Freundin eines Opfers des US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, dazu aufrief, mit der Phrase „Me too“ auf sexuelle Belästigungen, Nötigungen oder Vergewaltigungen aufmerksam zu machen, die unter dem „Deckmantel“ der Prominenz und in wirtschaftlicher Abhängigkeit stattfanden. MeToo verbreitete sich daraufhin viral. Am 15. Oktober wurde der Hashtag mehr als 200.000 Mal auf Twitter verwendet. Auf Facebook erschienen in den ersten 24 Stunden über zwölf Millionen Postings dazu.
Kein Kavaliersdelikt mehr?
Das virale Geschehen trug zweifelsohne dazu bei, das Problem der sexuellen, psychischen und körperlichen Gewalt verstärkt an die Öffentlichkeit zu bringen und vom Stigma zu befreien. Die
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Spirale von Macht und Gewalt wurde sichtbarer. „Opfer von Gewalt und Missbrauch gibt es aber natürlich nach wie vor“, betont DDr. Cornel BinderKrieglstein, Klinischer Psychologe und Arbeitspsychologe in Wien-Favoriten, im Gespräch mit dem HAUSARZT. Er ist für den Inhalt einer umfassenden Broschüre der Arbeiterkammer zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz verantwortlich*. Als positive Entwicklung zeichnet sich laut dem Experten in der Praxis ab, dass „insbesondere Vorstufen massiver körperlicher Übergriffe, welche die persönliche und psychische Integrität des Gegenübers beeinträchtigen, etwas mehr aus dem Kavaliersdeliktbereich herausgeholt werden konnten.“ Habe die Frage früher oft gelautet: „Körperlicher Übergriff mit Koitus oder nicht?“, so werde heute viel mehr auf die Ganzheitlichkeit geachtet. Will heißen: Erste Schritte von Übergriffen, etwa anzügliche Anspielungen und unerwünschte Berührungen, werden nicht mehr akzeptiert. DDr. Binder-Krieglstein: „In diesem Sinne würde ich schon sagen, dass sich die Situation verbessert hat.“ Auch aus der Sicht von Dr.in Irene Kloimüller, MBA, Arbeitsmedizinerin, Psychotherapeutin und Healthcare-Managerin in Wien-Hietzing, hat #MeToo zur Bewusstseinsbildung beigetragen. „Allerdings: Immer noch ist es für Frauen schwierig und verlangt es ihnen Mut ab, an die Öffentlichkeit – und damit auch an die Unternehmensöffentlichkeit – zu gehen“, gibt sie zu bedenken. „Viele schweigen aus Angst, Angst vor dem, was über sie dann verbreitet wird, Angst, dass es ihrer Karriere in Zukunft schadet. Man geht als Frau immer noch ein hohes Risiko ein, als unglaubwürdig und mitschuldig hingestellt, ja, sogar öffentlich gedemütigt zu werden. Betroffenen wird vielfach ein übersteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis vorgeworfen. Die Taten werden bagatellisiert und die Opfer beschuldigt, zu übertreiben, man spricht von Victim Blaming.“ Die Gefahr ist umso größer, je ausgeprägter hierarchische Strukturen am Arbeitsplatz sind. Deshalb hilft es, wenn in immer mehr Branchen sogenannte „etablierte“ Strukturen des Machtapparates hinterfragt und Unterstützungsstrukturen geschaffen werden. „Früher war vieles ein Kavaliersdelikt“, bestätigt die Arbeitsmedizinerin. „Heute müsste man eigentlich als Betrieb vorbereitet sein, mit dem Arzt zusammenzuarbeiten, um so schon im Sinne eines Präventionskonzepts erstens zu wissen: Was tut man im Anlassfall? Und um zweitens auch Schulungen im Sinne der Prävention zu machen. Die Fürsorgepflicht des Vorgesetzten ist nicht zu unterschätzen!“
Körperliche und psychische Reaktionen
Klappt es am Arbeitsplatz nicht mit der Aussprache, so sind Ärztinnen und Ärzte oft erste Ansprechpartner für Frauen, die Opfer von Übergriffen wurden. Wenn eine Patientin, wie das zuvor erwähnte Beispiel zeigt, etwa mit Schlafstörungen zum Haus- oder Facharzt kommt, empfiehlt DDr. Binder-Krieglstein, immer symptomorientiert und ursachenorientiert vorzugehen. Also anamnestisch einen kurzen Blick auf Körper und Seele zu werfen: Könnte ein Hilferuf dahinterstecken? Sexualisierte Gewalt löst jedenfalls großen Stress bei den Betroffenen aus. Je nach Art der Gewaltausübung führt sie zur psychischen Traumatisierung, aber auch zu physischen Beschwerden. „Die Betroffenen haben Angst, fühlen sich hilflos und ohnmächtig, zugleich ist das Geschehen oft mit Scham verbunden“, weiß Dr.in Kloimüller. Ein typisches Merkmal der Traumatisierung sei die Reaktivierung des Traumas in Situationen, die an die auslösende Situation erinnern. Das Trauma wird praktisch nochmals erlebt, mit allen körperlichen und psychischen Reaktionen, mit der gleichen Angst, dem gleichen Leid. „Menschen können ohne Behandlung ein Leben lang an diesen sogenannten Flashbacks leiden. Sie können so stark sein, dass solche Situationen zunehmend vermieden werden, die viel- >
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HAUSARZT: Wie geht es eigentlich der Bewegung #MeToo in Österreich, hat sie
Foto: © Oliver Zehner im Kampf gegen sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz etwas bewirken können? Dr.in Irene Kloimüller: Das Bewusstsein für sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz ist aus meiner Sicht gestiegen, die Arbeitswelt aber
Dr.in Irene Kloimüller, MBA Medizinerin, Psychotherapeutin, längst nicht belästigungsfrei. In der Praxis Healthcare-Managerin hinkt einiges hinterher, z. B. dass immer noch wenige Firmen proaktiv etwas gegen das Problem unternehmen bzw. darüber offen kommunizieren. Oft gibt es keine innerbetrieblichen Ansprechpersonen, die niederschwellig erreichbar, neutral und geschult sind. In größeren Organisationen gibt es diese Anlaufstellen schon, z. B. Kontaktfrauen, Gleichbehandlungsbeauftragte. #MeToo war und ist immer noch wichtig, weil es sexualisierte Gewalt in Bezug auf die Ausnutzung von Macht thematisiert. Die Bewegung hat sicher auf viele Männer abschreckend gewirkt, sie verunsichert und hoffentlich angeregt nachzudenken, z. B. ob es wirklich angebracht ist, sexistische Witze zu reißen. Dennoch finden Übergriffe aus Machtpositionen heraus weiterhin statt, und sexuelle Belästigung ist immer noch alltäglich.
Können Sie ein Beispiel aus dem Gesundheitsbereich nennen, bei dem vorgesetzte Ärzte oder Kollegen gefordert wären, genau hinzuschauen und einzuschreiten?
Ich bin der Meinung, dass dieser Appell einzuschreiten in allen Branchen gehört werden sollte. Hier sind vor allem auch die Führungskräfte gefordert, die deshalb für dieses Thema sensibilisiert und geschult sein sollten. Es gibt bereits an mehreren Kliniken Österreichs Leitfäden und Schulungen. Das Besondere an Gesundheitseinrichtungen ist, dass die Patientinnen ihr Leid wegen sexualisierter Gewalt praktisch in die Häuser mitbringen. Hier sehe ich die Aufgabe darin, dies im Verdachtsfall unbedingt anzusprechen. Darüber hinaus müssen die Betroffenen Unterstützung durch ihre Vorgesetzten erfahren. Eine weitere Besonderheit der Branche besteht darin, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte natürlich auch als Ansprechpartner für Frauen fungieren, die Opfer von Gewalt, u. a. sexueller, wurden. Sie müssen im Umgang mit ihnen geschult sein und weitere Unterstützung vermitteln können. Ich denke, hier gibt es noch Schulungsbedarf in puncto Befunderhebung, Dokumentation und Kenntnis von Betreuungsmöglichkeiten.
Was würden Sie sich von der Politik diesbezüglich wünschen?
Eine konstruktive öffentliche Diskussion zum Thema, gestützt auf Fakten, weg von einer Bagatellisierung der Diskussion. Eine konsequente Verfolgung von Übergriffen. Sicherlich müssten auch Gesetzeslücken betreffend sexuelle Gewalt geschlossen werden. Vor allem Opfer müssten besser geschützt werden, wenn sie den Mut haben, ihr Leid öffentlich zu machen.
leicht an die ursprüngliche Situation erinnern“, gibt die Arbeitsmedizinerin zu bedenken. „Dieses Vermeidungsverhalten kann sich derart ausweiten, dass es zu massiven Einschränkungen im täglichen Leben bzw. bei sozialen Kontakten führt.“ Andere Folgen des Erlebens sexualisierter Gewalt können Übererregbarkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Depressionen, eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, ein gesteigertes Suchtverhalten, Selbstverletzungen und vieles mehr sein.
Die Haltung der Ärztin/des Arztes
In der ärztlichen Praxis stellt sich die Frage: Wie reagiert man im Verdachtsfall am besten? „Am wichtigsten ist die Haltung des Arztes“, hält DDr. Binder-Krieglstein fest. „Dass er formuliert, dass es Unterstützung gibt. Dass diese nicht unbedingt sofort in Anspruch genommen werden muss, dass das genauso bei einem Folgetermin Sinn machen kann. All das kann man bei einem ersten Verdacht feinfühlig andeuten. Und dass es eine ganz verständliche Reaktion ist, wenn die Einheit von Körper und Seele auf Übergriffe mit Symptomen reagiert.“ Der Psychologe rät Medizinern, das Thema, so wie andere Fachthemen auch, ständig – „mit einer gleich schwebenden Aufmerksamkeit“ – im Hinterkopf zu behalten: „Lieber einmal zu oft gefragt oder Hilfe von einem Kollegen im Netzwerk angeboten als einmal zu wenig.“ Bei Natalie K. funktionierte das. Ihre aufmerksame Ärztin versorgte sie mit Infomaterial zum Thema Gewalt am Arbeitsplatz. Es gelang ihr nach der Lektüre, die Tipps umzusetzen – insbesondere Grenzverletzungen durch vorgesetzte Kollegen sofort anzusprechen und damit zu bekämpfen. Sie hatte Glück: Das brachte ihr Respekt ein. Die Situation entspannte sich. Die junge Frau geht nun wieder gern in die Arbeit und schläft besser.
Mag.a Karin Martin
* wien.arbeiterkammer.at (Service/Broschüren/
Arbeitnehmerschutz/Belästigung und Gewalt am
Arbeitsplatz)
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