
4 minute read
Zwischen Tür und Angel
Würde man Schostakowitsch nach seinem Todestag fragen, würde er nicht den Tag nennen, an dem er starb. Er würde den Tag nennen, als Stalin ihn zum Feind erklärte.
Text Cinzia Caracciolo
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) war einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Am 9. August 2025 jährt sich sein Todestag zum 50. Mal. Doch für das Ende seines Lebens als Künstler ist ein anderes Datum wichtiger: Am 28. Januar 1936 schlug Schostakowitsch die russische Tageszeitung Prawda auf und las die Schlagzeile «Chaos statt Musik». Tage zuvor musste er der Aufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk beiwohnen, denn Stalin sass in der Regierungsloge, um sich sein Werk anzuhören. Und nun stand es da schwarz auf weiss: Schostakowitsch und seine Musik seien vom sowjetischen Kurs abgekommen. Stalin veranlasste mit einem Leitartikel über die Oper Macbeth den Totalverriss des Komponisten und verbannte das Stück von den Bühnen der Sowjetunion. Es heisst, er habe den Artikel sogar selbst geschrieben. Schostakowitsch war über Nacht zum Volksfeind geworden.
Schon vor diesem Tag schlief Schostakowitsch bekleidet im Bett mit dem fertig gepackten kleinen Koffer neben sich auf dem Boden. Ab sofort verbrachte er die schlaflosen Stunden draussen vor dem Aufzug. Julian Barnes beschreibt dies in seinem Schostakowitsch-Roman Der Lärm der Zeit wie folgt: «Er wartete darauf, dass sich die Türen öffneten, auf den Anblick einer Uniform, ein Nicken des Erkennens, und dann würden ausgestreckte Hände nach ihm greifen und eine Faust sich um sein Handgelenk klammern. Was ganz unnötig wäre, schliesslich wollte er so schnell wie möglich mit ihnen mitkommen, sie vom Haus wegbringen, weg von seiner Frau und seinem Kind.» Er rechnete damit, jeden Moment abgeholt und verhaftet zu werden. Doch nichts geschah.
Während Stalins Säuberungen in den 1930er-Jahren kamen viele Künstler und Freunde Schostakowitschs um, doch er selbst blieb verschont.
Fortan hält Schostakowitsch seine Kompositionen innerhalb der Linien des Regimes. Mehr noch: Als offizieller Kulturbotschafter wurde er zum Sprachrohr Stalins und las vorgefertigte Reden vor, worin er den emigrierten Strawinsky, den er eigentlich verehrte, als Beispiel für die Perversion in der Musik und als Verräter seines Vaterlands bezichtigte. Er schloss sich gar öffentlich der Meinung an, dass westliche Musik in sowjetischen Konzertsälen verboten sein sollte.
Ist es verwerflich, dass sich Schostakowitsch Stalins Macht gebeugt hat, um künstlerisch arbeiten und leben zu können? Tat er dies aus Feigheit? Wäre es nicht leichter gewesen, Russland in Richtung Westen zu verlassen, wie dies Strawinsky oder Prokofjew taten? Dürfen wir darüber urteilen?
Das ursprüngliche Misstrauen gegenüber Schostakowitschs Persönlichkeit und seiner Kunst, deren ästhetische Linie sich der Komponist von den sowjetischen Behörden diktieren liess, verblasst allmählich. Seit seinem Todestag hat sich das Bild von Schostakowitsch, seiner Rolle und seinem Rang in der Musik des 20. Jahrhunderts enorm verändert. Schostakowitsch bietet uns die Möglichkeit darüber nachzudenken, wie Künstler:innen in Diktaturen zu überleben versuchen und welche Rolle die Musik in einer Unterdrückungs-Politik einnimmt. Niemand ahnte, welch heftigem Druck auch Künstler:innen ausgesetzt waren. Schostakowitschs Position ist weitaus differenzierter, als wir uns vorstellen können. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion finden wir zahlreiche Zeugenberichte vor, die ein besseres Verständnis der Geschehnisse in den sowjetischen Kulturkreisen ermöglichen. Sie betonen insbesondere die Tatsache, dass jeder und jede gezwungen war, sich in bestimmten Momenten zu fügen. In der Sowjetunion war es unmöglich, die Wahrheit zu sagen und am Leben zu bleiben. Schostakowitsch hatte jedoch nie aufgehört, eine gewisse Distanz zur Macht zu wahren. Vielleicht ist es nicht sofort von aussen hörbar. Seit Lady Macbeth ist es zumindest den Parteibehörden nicht aufgefallen. Doch für sein Publikum und seine treuen Zuhörer:innen, die in der Lage sind, bestimmte Elemente zu entschlüsseln, ist es erkennbar.
Fazıl Say
Di | 10. Juni 2025 | 19.30 Uhr Tonhalle Zürich
Fazıl Say KlavierWilli Zimmermann Violine und Leitung Zürcher Kammerorchester
Frank MartinPavane Couleur du temps für Streichorchester
Mieczysław WeinbergSinfonietta Nr. 2, op. 74
Fazıl SayLeopards für Streichsextett, op. 103
Dmitri SchostakowitschKammersinfonie c-Moll, op. 110a, bearbeitet von Rudolf Barschai
Dmitri SchostakowitschKonzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur, op. 102
TicketpreiseCHF 115 / 105 / 90 / 65 / 40