Anna Dorothea Keller-Brand – Meine lange Reise nach innen (Kurzvorschau)

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VERA

spürbaren Widersprüchen und Ungereimtheiten könne sie sich sagen, das gehöre halt auch zu Floëe ... Das sei für sie ein Wunder. «Für mich auch», erwidere ich, was sie zu Tränen rührt. In dieser Sitzung prägt sie auch den Titel ihres Interviews: «Ich wundere mich, dass ich so guter Dinge bin!» Ich danke dir, geschätzte Floëe, dass ich dich begleiten durfte. Von dir habe ich gelernt, dass es nie zu spät ist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. Ich habe immer bewundert, wie bescheiden und dankbar du bist und dass du dir trotz deinem zurückgezogenen Leben deine humorvolle und gesellige Seite erhalten hast.

«Der Körper sagt immer die Wahrheit!» PS: Floëe hat vor rund zwei Jahren noch eine reiche Zeit bei unserer Hypnose-Session in der Natur von Frankreich erlebt. Sie bezeichnet es als die schönste Zeit ihres Lebens, weil sie sich noch nie so erfüllt und ganz erlebt habe. Sie kann trotz ihrer inzwischen verschlimmerten Neurasthenie plötzlich über eine Woche wieder laufen. Voller Übermut spielt sie sich richtig als Diva auf, was für andere Teilnehmerinnen nervig ist, doch nachsichtig behandelt wird. Sie hat es sogar bewerkstelligt, sehr kurz nach dieser Zeit noch einmal auf eigene Faust ihren «Zauberort» aufzusuchen und sich im Städtchen ein Kleid zu kaufen. Floëe kann sich auch noch darüber freuen, dass ihr gerichtlich das Geschlecht «weiblich» zugesprochen wird, ohne dass sie sich – wie bisher üblich – einer Operation unterziehen muss. Ein langer Weg und viel Arbeit mit Behörden finden ein gutes Ende Ein halbes Jahr später erleidet sie einen sehr schlimmen Schlaganfall und liegt lange im Spital und in einer Reha-Klinik. Doch sie kann sich weder körperlich noch psychisch davon erholen. Sie dämmert in einem Altersheim vor sich hin und möchte niemanden mehr sehen. * Dissoziation ist ein physiologischer Schutzmechanismus, der unser Gehirn bei traumatischen Erfahrungen in eine Art Notaggregat versetzt. Wir fühlen uns nicht mehr im Körper, stehen wie neben uns oder erleben alles wie im Film. ** S. Anhang: therapeutischer Ansatz.

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«ES GIBT EIN LEBEN VOR UND EIN LEBEN NACH DER THERAPIE» VERA, 44 JAHRE Zu meiner Person: Ich möchte dazu keine Angaben machen, vor allem, weil ich mich mit Daten aus meinem Lebenslauf wie Beruf usw. nicht mehr identifizieren kann. Was hat Sie dazu bewogen, eine Therapie zu beginnen? Das hatte mit folgender Lebenssituation zu tun: Ich hatte drei Jahre lang eine Fernbeziehung zu einer Frau in Edinburgh. Schliesslich reiste ich ihr hinterher. Ich hatte organisiert, dass ich dort – verbunden mit einem grossen finanziellen Aufwand – mein Studium weiterführen konnte. Zusammen wohnten wir viereinhalb Jahre lang in Schottland. Diese Beziehung war für mich Motivation und Inhalt meines Lebens. Meiner Partnerin bot sich dann die Möglichkeit, eine Weiterbildung in Kalifornien zu machen. Wir planten, zusammen in die USA zu ziehen. Ich wollte aber zuerst meine Doktorarbeit in der Schweiz beenden, also reiste sie schon mal allein nach Kalifornien. Zu dieser Zeit begann ich eine Liebelei mit einer anderen Frau in der Schweiz. Trotzdem war für mich klar, dass ich bald zu meiner Freundin nach Kalifornien ziehen würde. Ich zog dann – das war 2012 – vorübergehend zu meinen Eltern, das erste Mal seit 20 Jahren. Ich weiss nicht mehr genau, wie es anfing, aber ich begann, Schlafstörungen zu entwickeln. Ich konnte zwar einschlafen, erwachte aber kurz darauf wieder. Sehr oft, täglich, hatte ich zudem unerklärliche Heulattacken. Dabei wollte ich mich doch auf meine Doktorarbeit konzentrieren. Das ging aber irgendwie nicht. Ich war sehr müde und sehr verzweifelt. Mein Leben war meiner Kontrolle entglitten, ich hatte das Gefühl, nichts mehr zustande zu bringen. Dann war da noch die Geschichte mit den beiden Frauen: Ich traf zwischendurch meine Affäre, dann skypte ich wieder mit meiner Partnerin in Kalifornien, der ich nicht die Wahrheit über meinen Zustand und schon gar nicht über die andere Frau sagte. Ich erzählte ihr die unterVera | 29

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