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«Ich weiss, wie schnell es gehen kann» Ausgrenzung Bernadette Schaffner (28) ist als Tochter einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter aufgewachsen. Heute steht sie finanziell auf eigenen Beinen. AUFGEZEICHNET VON  SIMON JÄGGI

«Bei uns war nie viel Geld da, und das hatte Auswirkungen auf alles. Die Schule, die Freizeitgestaltung, die Ferien. Bei uns in der Schule waren Markenkleider ein grosses Thema, sich darstellen. Nike Air Max waren damals voll die coolen Schuhe, alle wollten die haben. Natels kamen gerade auf: das tĂŒrkise Nokia. Ich konnte mir diese Dinge nicht leisten. Ich sparte viele Monate, damit ich mir diese Schuhe kaufen konnte. Ich dachte, wenn ich die habe, bin ich dabei, gehöre ich dazu. Ich kaufte mir dann Nike-Schuhe, aber es waren nicht exakt dieselben. Und sofort hiess es dann: â€čAh, schau mal, Bernadette. Haha! Sie hat so komische Schuhe.â€ș Da wusste ich, es ist egal. Wenn man einmal den Aussenseiter­ stempel hat, wird man ihn nicht wieder los. Bald fielen SprĂŒche wie â€čZigeunerinâ€ș oder â€čBauernkindâ€ș. Nicht dass das schlimme Beleidigungen sind, aber als Kind war das sehr verletzend. Einmal rief der Lehrer alle einzeln auf, das Geld fĂŒr die Klassenkasse zu ĂŒbergeben. Ich hatte nur einen Brief, in dem stand, dass wir nicht genĂŒgend Geld haben. Das hat die ganze Klasse gesehen. Als sich unsere Eltern getrennt haben, war meine Schwester fĂŒnf und ich drei. Meine Mutter erhielt damals das alleinige Sorgerecht. Der Vater nahm das nicht gut auf und hat sich nach Deutschland verzogen. Er war quasi verschwunden, wir haben nie mehr von ihm gehört. Entsprechend floss da auch kein Geld. Nach der Scheidung hatte unsere Mami drei Monate Anrecht auf Arbeitslosengeld. Danach kam sie zur Sozialhilfe. Sie war ab der Geburt meiner Schwester natĂŒrlich zuhause geblieben, damals in den Neunzigern. Zum Zeitpunkt der Scheidung hatte sie fĂŒnf Jahre nicht mehr auf ihrem Beruf als Hochbauzeichnerin gearbeitet. In dieser Zeit hatte sich technisch viel verĂ€ndert. Deshalb war es fĂŒr sie sehr schwierig, wieder eine Stelle zu finden. Umgezogen sind wir nach der Scheidung vier oder fĂŒnf Mal. Wir mussten mehrere Male die Wohnung wechseln, weil die BeitrĂ€ge der Sozialhilfe immer wieder angepasst wurden. Wir wohnten immer in Dreizimmerwohnungen. Zuerst teilten wir uns das Zimmer, die Schwester und ich. Als wir Ă€lter wurden, richtete sich das Mami im Wohnzimmer ein Bett ein. Es war unserer Mutter immer wichtig, dass wir unsere TrĂ€ume verwirklichen können. Ihre eigenen BedĂŒrfnisse steckte sie zurĂŒck. Sie sammelte in einer Kartonbox das anfallende MĂŒnz und verreiste damit spĂ€ter, als meine Schwester schon ausgezogen war und ich mein Studium begann, alle zwei Jahre ein paar Tage allein in die Ferien. FrĂŒher in der Schule hatten wir ein kleines GrĂŒppchen von Aussenseiterinnen. Zwei Kolleginnen, von denen eine auch armutsbetroffen war, und ich. Zuhause wurde uns beiden gesagt: â€čGebt euch MĂŒhe in der Schule. Macht eine gute Ausbildung, dann passiert euch das nicht.â€ș Und das ist dann halt eine schwierige Mischung: kein Geld, Streberin, Aussenseiterin. SchulausflĂŒge waren immer ein grosses Hickhack mit der Sozialhilfe. Wer zahlt was? In einem Jahr gab es ein Skilager. Wir mussten alles mieten, und ich hatte kein zusammenpassendes 16

Set von Hose und Jacke. Das sorgte fĂŒr GelĂ€chter auf der Piste. Ich tat dann so, als wĂ€re ich krank, damit ich im Haus bleiben konnte. So hat man sich auch selber eingeschrĂ€nkt. Ich habe mich zurĂŒckgezogen, um dem Spott zu entgehen. â€čIch mache das eh nicht gerneâ€ș, das waren hĂ€ufige Ausreden. Immer wenn es irgendwo hiess, â€čwir gehen in den Ausgang, shoppen, ins Kinoâ€ș, da war bei mir nichts zu machen. Ich wurde oft gar nicht gefragt. Ich wĂ€re auch gerne von den Ferien zurĂŒckgekommen und hĂ€tte Geschichten erzĂ€hlt. Aber wir hatten die Ferien bei Verwandten verbracht. Auch der Nikolaus kam bei uns nie zu Besuch. Als ich acht war, gingen wir in den Verkehrsgarten, und alle konnten Velofahren ausser mir. Ich bekam dann ein Trottinett. Das war natĂŒrlich die nĂ€chste Gelegenheit fĂŒr Spott. â€čSchau mal, Bernadette ist zu blöd zum Velofahren.â€ș Oder: â€čDie haben nicht einmal Geld fĂŒr ein Velo.â€ș Als Kind kann man das nicht einordnen. Bei mir entstanden Frust und ein GefĂŒhl von Minderwertigkeit. Ich dachte damals einfach, ich bin nicht cool. Erst viel spĂ€ter habe ich gemerkt, dass das HĂ€nseln stark mit unserer wirtschaftlichen Situation zusammenhing. SpĂ€ter fing ich an, gegen gesellschaftliche Konventionen zu rebellieren. Ich hörte Punkmusik, zog mich alternativ an. Ich legte es darauf an, anders zu sein, weil ich wusste, normal passe ich sowieso nirgendwo rein. Ich suchte mir eine Nische, wo Geld keine Rolle spielte. Ich war wĂŒtend, auf die Gesellschaft und das System. Meine Mami fand dann wieder eine Arbeit, als ich 15 war. Sie verdiente dort aber nur wenig mehr Geld, als wir von der Sozialhilfe erhalten hatten. Finanziell blieb es knapp. Meine Schwester hatte eine Lehre gemacht. FĂŒr mich war klar, ich wollte studieren. Aber das war ein problematisches Thema, denn ein Studium kostet Geld. Ich studierte dann trotzdem Soziale Arbeit, erhielt Stipendien und wohnte zuhause. WĂ€hrend der Ausbildung litt ich an Depressionen und Angststörungen. Als Folge des Mobbings, des Verlusts des Vaters, der Geldnot. Ich fĂŒhlte mich auch schuldig, dass ich studierte und so zu den finanziellen Sorgen meiner Mutter beitrug. Wegen der Erkrankung brauchte ich zwei Semester lĂ€nger fĂŒr mein Studium und musste dafĂŒr ein Darlehen aufnehmen. Mit 26 Jahren schloss ich mein Studium ab, mit 27 zog ich von zuhause aus. Das ist noch nicht so lange her. Inzwischen habe ich eine gute Anstellung in der Jugendarbeit. Eine gewisse Geldangst ist geblieben. Ich weiss immer genau, wie viel Geld ich auf dem Konto habe und welche Kosten auf mich zukommen. Zum Einkaufen gehe ich nach Deutschland oder zu Aldi. Luxus, das sind heute fĂŒr mich meine TĂ€towierungen und meine eigene Wohnung. Manchmal rechne ich durch, wie lange mein Erspartes reicht, sollte ich meine Stelle verlieren. Ich weiss, wie schnell es gehen kann und man bei der Sozialhilfe und in der Armut landet.» Surprise 484/20


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