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Fokus Surprise

Rassistische Drogenpolitik

655 Inhaftierte pro 100 000 Menschen verzeichnen die USA und sind damit das Land mit den meisten inhaftierten Leuten weltweit. Unter ihnen sind Schwarze und People of Color überproportional vertreten. Diese Unverhältnismässigkeit ist u.a. auf eine rassistische Drogenpolitik zurückzuführen. Billiges Crack, welches als Droge der Schwarzen Bevölkerung und der Armutsklasse gilt, wird weit härter bestraft als teures Kokain, das vor allem von der (weissen) Elite konsumiert wird. Der «Kampf gegen Drogen» wird daher oft zum Kampf gegen Arme – auch ausserhalb der USA.

MEGAPHON, GRAZ

Überproportional ausgeliefert

Mitte August lag die Infektionsrate für Covid-19 – das ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Menschen mit der Pandemie infizieren – bei Schwarzen Amerikaner*innen und Hispanics bei 51 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, betrug für dieselbe Bevölkerungsgruppe 39,2 Prozent. Betrachtet man nur den Teil der Bevölkerungsgruppe, der im arbeitsfähigen Alter ist, liegt die Infektionsrate bei hohen 54,1 Prozent und die Sterblichkeitsrate sogar bei 66,96 Prozent. Mögliche Ursachen für das überproportional hohe Risiko von Afroamerikaner*innen und Hispanics – ihr Anteil an der Bevöl kerung beträgt 31,9 Prozent – sind unter anderem Armut, eine schlechte Gesundheitsversorgung und keinerlei Möglichkeit für Homeoffice in den sogenannten systemrelevanten Jobs, die sie ausüben (z.B. Pflegeberufe).

REAL CHANGE, SEATTLE

Sich um die Zukunft sorgen

Wie geht es Ihnen? Ein halbes Jahr nach dem Lockdown gewöhne ich mich langsam an diese «neue Normalität». Doch bin ich immer wieder überrascht, wie einschneidend die Veränderungen in unserem Alltag sind – zum Guten wie zum Schlechten. Auch bei unseren Verkäufer*innen. Sie sind nach dem Lockdown fast alle zurückgekehrt und dankbar, wieder verkaufen zu können. Die grosse Solidarität, die sich während des Lockdowns durch Ihre Spenden zeigte, setzt sich nun auf der Strasse fort. Die Heftverkäufe sind, entgegen unseren Befürchtungen, nicht eingebrochen. Trotzdem haben die Sorgen der Verkäufer*innen zugenommen, das verdeutlichen die massiv gestiegenen Beratungsstunden unserer Sozialarbeiter*innen. Auch auf der Strasse ist der Stresspegel höher als zuvor. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, und die sehr emotional geführten Diskussionen über Sinn oder Unsinn der Massnahmen hinterlassen ihre Spuren. Unsere Verkäufer*innen spüren das, diskutieren mit und sind ebenfalls mit ihren eigenen Ängsten und Sorgen konfrontiert.

Und die finanziellen Probleme haben sich nicht in Luft aufgelöst. «Ich habe Angst vor dem Briefkasten», hörte ich kürzlich eine Verkäuferin sagen, die dort eine hohe Rechnung vermutete. Verkäufer*innen, die neben dem Heftverkauf noch anderen (Teilzeit-)Stellen nachgehen, haben zum Teil mit Jobverlust oder Einkommenseinbussen zu kämpfen.

Von der Krise besonders stark betroffen sind die Familien. Viele ausserhäusliche Unterstützungsangebote wurden während des Lockdowns heruntergefahren und teilweise eingestellt. Homeschooling unter prekären Bedingungen ist besonders schwierig. Die Familien verfügen oft nicht über die notwendige technische Ausstattung zuhause, etwa einen internetfähigen PC für die Kinder oder WLAN, und haben wenig Rückzugsräume für ungestörtes Lernen. Noch härter trifft es Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern. So fragte uns eine Verkäuferin mit vier Kindern um Hilfe, da sie eine zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage notwendige Weiterbildung angehen wollte, sich aber die dazu nötige Kinderbetreuung nicht leisten konnte. In Zeiten von Quaran

«Der Stresspegel auf der Strasse ist gestiegen»: Jannice Vierkötter.

tänemassnahmen ist es für Familien ausserdem noch schwieriger geworden, auch mal zu entspannen: Ferien in der Schweiz sind für kinderreiche Familien schlicht zu teuer, andere Orte schwer zu erreichen.

Unsere Redaktion hat das Sonderheft über Kinderarmut, das Sie in den Händen halten, zwar schon lange geplant – das Thema hat aber wie alle Armutsthemen durch die Pandemie noch an Dringlichkeit gewonnen. Surprise hilft den Kindern unserer Verkaufenden, indem wir versuchen, die Eltern zu entlasten. Dies tun wir auf vielen Ebenen: Wir beraten sie, verweisen sie an geeignete Anlaufstellen weiter oder helfen bei akuten Finanzproblemen. Kürzlich bezogen wir die Kinder auch selbst mit ein: In Basel richteten wir vor ein paar Wochen ein Spielfest für Kinder aus – natürlich unter Berücksichtigung aller Hygienevorschriften. Sich gegen Kinderarmut einzusetzen, ist für Surprise selbstver ständlich. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Kinder unsere Zukunft sind. Und doch handeln wir als Gesellschaft immer noch viel zu wenig danach.

JANNICE VIERKÖTTER,

Geschäftsleiterin Surprise

Einblicke in Kinderzimmer

Wie leben arme Kinder in der reichen Schweiz? Vier Familien von Surprise-Verkäufer*innen, die unter prekären Bedingungen leben müssen, haben dem Surprise-Redaktor und Fotografen Klaus Petrus Einblicke in die Zimmer ihrer Kinder gewährt. Aus Schutzgründen haben wir darauf verzichtet, die Kinder selbst abzubilden. Oft leben die Familien mit ihren zwei bis drei Kindern von sechs bis zwölf Jahren in einer Dreizimmerwohnung, die im Schnitt 1400 Franken pro Monat kostet. Die Kinder teilen sich ein Zimmer, schlafen, spielen und lernen auf engstem Raum. Ferien können sich die Eltern keine leisten, oft übernimmt die Sozialhilfe Miete und Krankenkasse, Geld bleibt am Ende des Monats kaum übrig. Nicht immer sieht man den abgebildeten Kinderzimmern unmittelbar an, dass hier Menschen in Armut leben. Viele betroffene Eltern möchten, dass es ihren Kindern an nichts fehlt, und kaufen ihnen auch mal Dinge, die sich eigentlich nicht leisten können.