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Familienbegleitung

Mittendrin, aber nicht dabei

Familie Interlaken bietet alles für die perfekte Ansichtskarte aus der Schweiz: Berge, Seen, Swissness. Doch auch im schönen Berner Oberland leben Familien in Armut – mit massiven Folgen für die Kinder. Ein Besuch bei Familie Boganovic*.

TEXT ANDRES EBERHARD

Der Höheweg in Interlaken ist zwar nicht, was sein Name verspricht: Alpenpanorama hat er nicht zu bieten. Dafür Souvenirshops, Luxusboutiquen und edle Hotels. Die Promenade verläuft vom Bahnhof West zum Bahnhof Ost. Von dort fährt ein Intercity direkt nach Berlin. Die Berge, die Aare, die Lage: Das 5600-Einwohner-Städtchen ist ein Vorzeigeort für Tourist*innen – vor allem aus arabischen Ländern, Indien und China. Auf der Fotoplattform Instagram ist Interlaken das beliebteste Sujet der Schweiz, noch vor dem Matterhorn. Zu mindest vor Corona boomte das Geschäft mit der Swissness.

Läuft man vom Bahnhof Ost nicht auf dem Höheweg, sondern in die andere Richtung, gelangt man ein paar Querstrassen weiter zur Wohnung der sechsköpfigen Familie Boganovic*, die unter der Armutsgrenze lebt. Wenn Interlaken die perfekte Schweizer Ansichtskarte ist, dann ist dieser Ort deren Rückseite.

Holztreppe, zweiter Stock, Kathleen Hennessy klingelt. Sie ist Sozialarbeiterin und besucht die Familie seit rund eineinhalb Jahren fast jede Woche. Vor drei Jahren war Jana, die Mutter, handgreiflich geworden gegenüber ihrer Tochter, der 16jährigen Valentina. Die Tochter zeigte die Mutter an, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) schaltete sich ein. Die Behörden beauftragten die örtliche Firma Qualifutura mit einer Familienbegleitung. Ziel ist die sozial-berufliche Integration der Kinder. Hennessy übernahm den Auftrag im Mandat. «Anfangs war es schwierig, das Vertrauen von allen zu gewinnen», wird sie später erzählen. Mittlerweile sei sie aber beinahe ein Teil der Familie. «Die Eltern hören auf mich und setzen einiges um – auf eine Art, die für sie stimmt.» Die Eltern stehen gemeinsam in der Tür, Hände werden hingestreckt, «darf man?», fragt Vladi, der Vater, aber da ist es schon zu spät. Gemeinsam setzt man sich aufs tiefe Sofa im Wohnzimmer, es riecht frisch geputzt, ein Flatscreen-TV dominiert den Raum. «Interlaken ist die beste Stadt für uns», sagt Vladi. «Wir brauchen kein Auto, um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen.» Nur die älteren Kinder, ergänzt Jana, würden lieber in einer Grossstadt leben. Das Ehepaar war nach dem Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren zuerst nach Deutschland geflüchtet, dann in ein Asylzentrum in der Nähe. Seit 2005 lebt die Familie im Zentrum von Interlaken.

«Isch mini Idee gsi»

Jana und Vladi haben vier Kinder, alle wohnen sie – zumindest offiziell – noch zuhause. «Bei den älteren beiden haben wir viele Fehler gemacht», sagt Jana. Dem 19-jährigen Sohn hätten sie zu viele Freiheiten gewährt, der 16-jährigen Tochter zu wenige. Der Sohn geriet auf Abwege, war in Schlägereien verwickelt. Zum Zeitpunkt des Besuchs haben die Eltern seit zehn Tagen nichts von ihm gehört, vielleicht sei er bei Freunden. «Ich habe alles für ihn gemacht, wahrscheinlich zu viel», sagt die Mutter. «Ich selbst hatte eine Scheiss-Kindheit. Deshalb wollte ich, dass er es besser hat.»

Tochter Valentina erlebte das Gegenteil. Als sie in die Pubertät kam, musste sie alles übernehmen, wofür die Eltern keine Zeit hatten: kochen, putzen, waschen, sich um die kleinen Geschwister kümmern. Beide Eltern arbeiteten zu diesem Zeit punkt hundert Prozent. Wie schon zuvor ihr grosser Bruder brach auch Valentina die Schule ab. Seit eineinhalb Jahren ist sie zuhause, ohne Abschluss, ohne Perspektiven und ohne Freund*innen, wie sie selbst sagt. Die Mutter sagt: «Ich habe sie überfordert, sie hatte nie Zeit für sich. Ich habe ihr sogar verboten, Freunde zu treffen und auszugehen.»

Die Hoffnungen liegen nun auf den 12-jährigen Zwillingen. «Auf sie passen wir besser auf», sagt Jana. Ihr Wohl steht auch im Zentrum der Familienbegleitung von Kathleen Hennessy. Die beiden Jüngeren sollen eine normale Kindheit erleben, die Schule besuchen, Hobbys haben, irgendwann eine Ausbildung machen, Geld verdienen – also all das, was viele andere Kinder haben und was bei den Älteren danebenging.

Valentina kommt ins Wohnzimmer, sie ist gerade erst aufgestanden, obwohl es schon nach 14 Uhr ist. Als sie hört, worum es geht, fragt sie etwas ungläubig: «Haben wir denn hier überhaupt Kinderarmut?» Als man ihr bestätigt, dass die Familie als armutsbetroffen gilt, sagt sie: «I weiss nid», und denkt nach. «Es isch sicher nid luxuriös. Aber es isch akzeptabel.»

Bei Armut denkt Valentina an die Ferien in Bosnien – Menschen, die kein Dach über dem Kopf oder zu wenig zu essen haben. In der Schweiz sind Obdachlose zwar seltener und weniger sichtbar. Dafür ist Geld umso wichtiger, um dazuzugehören. Wer nichts auf dem Konto hat, kann sich so manches Hobby, den Besuch im Restaurant oder den Wochenendausflug mit Freund*innen nicht leisten. Selbst der Zahnarztbesuch kann zu teuer sein. Auch Kinder laufen so Gefahr, zu Aussenseiter*innen werden.

In der Schweiz haben 660 000 Menschen Probleme, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Familie Boganovic gehört

dazu. Heute hat Hennessy die monatliche Abrechnung der Sozialhilfe mitgebracht. «Auf dem Konto haben wir noch Zweitausendund ... », sagt Vladi und blickt zu seiner Frau, die den Kontostand ohne Zögern benennen kann: « ... fünfundsiebzig Franken.» Die Miete sei noch nicht abgezogen, also blieben 150 Franken für den Rest des Monats – von diesem Tag an noch eine Woche. «Dabei sind noch nicht alle die Rechnungen vom letzten Monat bezahlt», so Jana. 4319,60 Franken steht fettgedruckt auf dem Papier des Sozialamts, das die Eltern in den Händen halten. Nach Abzug von Miete und Gesundheitskosten bleiben der Familie nur rund 2000 Franken zum Leben. Der volljährige Sohn bezieht selbst Sozialhilfe, also bleiben für die restlichen fünf Familienmitglieder knapp 14 Franken pro Person und Tag für Essen, Kleidung, Strom, Hygiene, Reisekosten, Handy und Hobbys. Auch Bildungskosten muss die Familie aus diesem Budget berappen – wie den halbjährigen Kurs zur Kosmetikerin, den die ältere Tochter gerne absolvieren würde. «Mit Weg und Essen kostet das 9000 Franken», rechnet die Tochter vor. Sie setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. «Das zahlt die Sozialhilfe leider nicht.»

Als beide Eltern arbeiteten, sah es so aus, als könnte den Boganovics der Weg aus der Armut gelingen. Die sechsköpfige Familie hatte pro Monat rund 7500 Franken brutto zur Verfügung – das reichte für alle. Der Preis dafür war allerdings hoch: Der Vater war nur am Wochenende zuhause, unter der Woche arbeitete er als Handwerker im Tessin. Weil auch die Mutter bei der Arbeit war, blieben die Kinder häufig allein. Irgendwann wollte sich die damals 13-jährige Valentina nicht mehr mit der Rolle als Hausfrau zufriedengeben. Sie seien über fordert gewesen, sagt Mutter Jana rückblickend. «Ich bin schuld daran.»

Vater Vladi nimmt eine Zigarette aus der Marlboro-Packung und geht auf den Balkon. Als er zurückkommt, sagt er: «Wenn du arbeitest, verlierst du die Kinder. Wenn du nicht arbeitest, kannst du den Kindern nichts bieten. Und wenn du ein Kindermädchen hast, arbeitest du, damit du dieses bezahlen kannst.»

Luca, einer der Zwillinge, kommt ins Wohnzimmer, die Schule ist aus, der Rucksack hängt noch über seinen Schultern. Er strahlt und legt sofort los, erzählt davon, dass er Skaten, Biken, Wakeboarden und Snowboarden möchte. «Und ich möchte Kfz-Mechaniker werden. Dann mache ich eine Autogarage auf mit einem Internet-Café und einer Shisha-Bar zum Warten, bis der Service fertig ist.» Dort könne dann auch der abwesende ältere Bruder– zurzeit arbeitslos – arbeiten. Stolz ergänzt der Sechstklässler: «Isch mini Idee gsi.» Seine Mutter lächelt, sie ist es nicht mehr gewohnt zu träumen. Hennessy wirft ein: «Wenn du Mechaniker werden willst, brauchst du aber Mathe.» Luca rümpft die Nase. «Vielleicht finden wir einen Neuntklässler, der gerne skatet oder Velo fährt, um Nachhilfe mit dir zu machen?» Luca nickt zögerlich.

Damit es mit der sozial-beruflichen Integration der Kinder klappt, braucht es mehr als gute Schulnoten. Deswegen will Hennessy erreichen, dass sich die Kinder in ihrer Freizeit sinnvoll beschäftigen. Selma, Lucas Zwillingsschwester, geht in den Volleyballverein. Bei Luca war es zunächst schwierig, ein Hobby zu finden, das ihm Spass macht. Letzten Winter sorgte Hennessy dafür, dass die Zwillinge regelmässig in die nahen Berge fahren konnten. Zum ersten Mal standen die beiden auf Snowboards. Die Ausrüstung organisierte Hennessy beim Skiclub Interlaken und in einem Brockenhaus. Das Sozialamt übernahm alle Kosten. «Willst du wieder einmal in die Berge?», fragt Hennessy. Luca nickt begeistert: «Ich glaube, die Tageskarte kostet zehn Franken.» Diese sei zwar etwas teurer, entgegnet Hennessy, aber es müsste eigentlich schon klappen, denn auch beim Sozialdienst fände man das eine gute Idee. «Dann gehen wir alle zusammen. Ich möchte, dass Mama und Papa dir zu schauen können.»

«Dann könnte es klappen»

Nach der Eskalation zuhause gab Vater Vladi seinen Job im Tessin auf. Seither arbeitet nur noch Jana 60 Prozent bei einem Detailhändler, mehr darf sie nicht, ansonsten wäre die Sozialhilfe weg. Vladi schaut zu den Kindern, repariert Sachen, auf der Mülldeponie sucht er nach Geräten, die er reparieren kann. Manchmal flickt er den Nachbarn das Velo. Und pflegt ein Netzwerk zu anderen Familien in ähnlichen Situationen – man hilft sich.

Kaum ist Luca gegangen, steht Selma mit einem Gspänli aus der Klasse im Wohnzimmer. Sie kommt von einer Schulreise. Auf einen Berg seien sie hochgewandert, erzählt sie, auf welchen, das habe sie vergessen. Sie hätten eine Kuh gestreichelt, aber eine ohne Hörner. «Jetzt gehe ich Haare schneiden, etwa so kurz will ich sie haben.» Sie zeigt auf die Frisur ihrer Freundin. Als sie verschwunden ist, sagt Vladi: «Haben Sie die zerrissenen Kleider von Selma gesehen? Schon die älteren beiden haben sie getragen.» Es sei nicht immer einfach, den Kindern zu erklären, dass sie keine neuen Sachen haben könnten. Weil ihre Kollegen immer wieder mit den angesagtesten Sneakers oder Kleidern ankommen. Und es wird eher schwieriger. In der Budgetberatung sagte man den Eltern, dass sie für die Kleider der drei Kinder total 100 Franken monatlich zur Verfügung hätten. «Früher kaufte ich Kleider und schickte die Rechnungen ein», erinnert sich Vladi. Dass bei der Sozialhilfe im Kanton Bern seit einigen Jahren gespart wird, spürt die Familie. «Es wird Druck gemacht. Niemand fragt, wie es einem dabei geht.»

Valentina sitzt noch immer im Schnei dersitz auf dem Wohnzimmerboden. Ob sie nie das Gefühl hatte, benachteiligt zu sein? «Doch, sicher. Ich hatte noch nie mehr als 50 Franken in der Tasche.» Sie würde gerne ihre Freundinnen aus dem Aargau oder aus Zürich sehen. Aber sie habe kein Geld für die Bahn. Da kommt der Mutter in den Sinn, dass auch die Busse bei der SBB noch nicht bezahlt ist. Diese brachte die Tochter nach Hause, weil sie ein paar Mal trotzdem in den Zug gestiegen ist.

Vielleicht kann Valentina mit Unterstützung des Sozialamts bald für ein paar Monate arbeiten gehen, sie hat nämlich etwas in Aussicht. Mit diesem Geld könnte sie die Ausbildung zur Kosmetikerin absolvieren, was vielleicht der erste Schritt wäre, um dereinst auf eigenen Beinen zu stehen. Auch Vladi hofft auf Arbeit. In Bosnien war er Musiker. Die Gitarre verkaufte er vor einem Jahr, damit die Kinder nach Bosnien in die Ferien reisen und so sein Heimatland kennenlernen konnten. Nun bewirbt er sich um Jobs als Handwerker oder Maler. Vladi ist begabt, hat aber kein Diplom. «Wenn wir uns zuhause aufteilen könnten, sie am Morgen, ich am Nachmittag, dann könnte es klappen», sagt der Vater und legt den Arm um Janas Schulter.

Klappt alles wie geplant, wäre das wo möglich der Auftakt für eine bessere Zukunft der Familie Boganovic. Zumindest hört es sich in diesem Moment so an.

ELLEN, 12, BASEL

Alle als Handschrift gestalteten Texte in diesem Heft sind frei geschriebene Beiträge von Jugendlichen zur Frage: «Was bedeutet für dich Armut in der Schweiz?» Die Texte sind in Zusammenarbeit mit einer Schulklasse aus Basel-Land sowie dem Kinderbüro Basel entstanden. Die Autor*innen konnten frei wählen, ob sie ihren Namen, ihr Alter und ihren Wohnort angeben.