«Kinder kommen nur am Rande vor» Soziale Teilhabeâ Kinder aus armutsbetroffenen Familien tragen eine grosse Last. WĂŒrde man sie mehr in die
Gesellschaft miteinbeziehen, wĂ€re das womöglich ein Weg aus ihrer Misere, findet der Soziologe Ueli MĂ€der. INTERVIEWâ KLAUS PETRUS
Ueli MĂ€der, ist von Kinderarmut die Rede, denkt man an verwahrloste Kinder in Lumpen. Dabei ist das PhĂ€nomen, gerade in WohlstandslĂ€ndern, viel subtiler â und wohl auch versteckter. Ja. In der Schweiz werden Kinder, die unter prekĂ€ren UmstĂ€nden aufwachsen mĂŒssen, statistisch teilweise wegdefiniert â sie kommen eher am Rande oder gar nicht vor. In den Erhebungen des Bundesamts fĂŒr Statistik zum Beispiel werden 135â000 Working Poor aufgefĂŒhrt, also Menschen, die erwerbstĂ€tig sind und trotzdem unter dem Existenzminimum leben. Diese Zahl ist schon deswegen eine Banalisierung, weil sie die Kinder der Erwerbsarmen ver nachlĂ€ssigt. Wieso das? Unsere Gesellschaft fokussiert vor allem auf jene, die ökonomisch nĂŒtzlich sind, also verwertbare Leistungen erbringen. Kinder spielen da eine kleinere Rolle. Könnte es auch damit zusammenhĂ€ngen, dass Kinder ihre eigene Armut womöglich als solche gar nicht wahrnehmen â und sie so gesehen auch nicht unmittelbar betroffen sind? Es gibt Eltern, die ihren Kindern möglichst viel bieten möchten â obschon sie es sich eigentlich gar nicht leisten können. Sie ei fern einem gewissen Konsumzwang nach, der in unserer Gesellschaft ohnehin sehr ausgeprĂ€gt ist. Was dann eben auch dazu fĂŒhren kann, dass die Zimmer dieser Kin der voller Spielsachen sind. TatsĂ€chlich könnte man in solchen FĂ€llen fast schon sagen: Je Ă€rmer die Familien, desto plasti fizierter die Kinderzimmer. Es gibt aber auch den anderen Fall: Kinder, die weniger Spielsachen haben und das Einfache schĂ€t zen. Sie leben bescheiden und entwickeln sogar etwas WiderstĂ€ndiges. Wie Ă€ussert sich das? Sie lernen zum Beispiel schon frĂŒh, aus wenig viel zu machen, sie lassen sich nicht bevormunden, sind skeptisch gegenĂŒber AutoritĂ€ten. Wachsen sie in einem Umfeld Surprise 484/20
auf, das ihren Selbstwert stĂ€rkt, können sie zu selbstbewussten Jugendlichen her anwachsen und ihren Weg recht eigenstĂ€n dig gehen. Aber all das darf nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass fĂŒr Kinder ein Leben unter prekĂ€ren Bedingungen oft eine sehr grosse Belastung darstellen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer «Culture of Poverty», einer Kultur der Armut: Kinder ĂŒbernehmen die Denk- und Verhaltensmuster ihrer armutsbetroffenen Eltern. Es gibt Familien, in denen die stĂ€ndige Ar mut einen grossen Druck erzeugt, und der ĂŒbertrĂ€gt sich auch auf die Kinder. Sie sind es, die diese Spannungen emotional auf fangen mĂŒssen, viel zu frĂŒh fĂŒr ihr Alter. Das können depressive Verstimmungen sein, aber auch eine gewisse selbstde struktive Haltung. Hinzu kommen Schuld gefĂŒhle, die sich sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern einstellen. Die Folgen fĂŒr die Kinder können fatal sein, sie emp finden das eigene Zuhause, das Schutz ge wĂ€hren sollte, als beengend oder gar be drohlich, sie bekommen Probleme in der Schule oder kapseln sich sozial ab. Doch wie gesagt, einige dieser Kinder nehmen bewusst wahr, dass sie benachteiligt sind. Sie schöpfen daraus auch eine Kraft, sich zu wehren und weniger an normierte Vor gaben anzupassen. FĂŒhrt das Reden ĂŒber eine «Kultur der Armut» dazu, dass Armutsbetroffene psychologisiert und damit am Ende auch stigmatisiert werden? Diese Gefahr besteht. Es gibt Betroffene â darunter auch Kinder â, die mit dem GefĂŒhl aufwachsen oder leben, immer die Num mer 2 auf dem RĂŒcken zu tragen. FĂŒr sie wird es zu einer SelbstverstĂ€ndlichkeit, dass da immer noch jemand ist, der angeb lich besser ist als sie oder der ein Anrecht auf etwas hat, das sie selbst nicht haben oder erreichen können. Dieses GefĂŒhl geht dann oft mit einer Scham einher, die dazu fĂŒhrt, sich zurĂŒckzunehmen und andern das Feld zu ĂŒberlassen.
Gerade unter armutsbetroffenen Menschen ist Scham hĂ€ufig ein Thema. Dazu trĂ€gt auch unsere christlich geprĂ€gte, individualisierte Gesellschaft bei, in der SchuldgefĂŒhle und gesellschaftliche Ver antwortung gern dem Einzelnen ĂŒbertragen werden. In einem Umfeld, in dem der Slogan «Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg» do miniert, gilt jedes vermeintliche Scheitern als persönliches Versagen, das dann eben mit Scham behaftet ist. Was bedeutet dies in Bezug auf die sogenannte Kultur der Armut und die Gefahr der Stigmatisierung? Dass Betroffene in ihrer Rolle als Arme ver haftet bleiben, hat viel mit unserer Gesell schaft zu tun, auch mit Institutionen oder Individuen, die es durchaus gut meinen mit diesen Menschen, ihnen zugleich aber auch paternalistisch ein GefĂŒhl von lĂ€h mender BedĂŒrftigkeit vermitteln. Damit verstĂ€rkt sich ein Opferstatus, der Armut verstetigen kann. Im Sinne von «Einmal arm, immer arm». Aber aufgepasst, wir können Armutsbetroffene auch stigmati sieren, indem wir sie heroisieren. Gerade im Fall der Kinder wĂŒrde das heissen, dass man sie zu sehr sich selbst ĂŒberlĂ€sst oder von ihnen erwartet, was wir selbst zu we nig praktizieren. Wo sehen Sie Lösungen? NatĂŒrlich mĂŒssen wir auf struktureller Ebene endlich Bedingungen schaffen, da mit alle existenziell abgesichert sind. Der Reichtum hat in LĂ€ndern wie der Schweiz massiv zugenommen. Damit sind ausrei chend Ressourcen vorhanden, dass alle gut ĂŒber die Runden kommen können. Von da her ergibt fĂŒr mich diese bekannte Forde rung, wir sollten die Armut halbieren, we nig Sinn; vielmehr mĂŒssen wir sie ganz ĂŒberwinden. NatĂŒrlich werden am Ende nicht alle genau gleich viel haben. Aber in einer Gesellschaft wie der unsrigen sollte es doch möglich sein, dass alle zumindest materiell genug haben fĂŒrs Leben. Damit wĂŒrde ein StĂŒck weit auch der finanzielle Druck weggenommen, der auf vielen Fa 11