Sudetendeutsche Zeitung 12. November 2021 Ausgabe 4

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Sudetendeutsche Zeitung Folge 45 | 12.11.2021

Einstimmig ist Christoph de Vries mit Beginn der neuen Legislatur zum neuen Vorsitzenden der Gruppe der Vertriebenen, Spätaussiedler und deutschen Minderheiten in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewählt worden. Was der Hamburger Bundestagsabgeordnete mit sudetendeutschen Wurzeln umsetzen will und wie er die Lage seiner Partei und die der Vertriebenen nach der Wahlniederlage sieht, erklärt der 46-jährige im großen Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung.

SUDETENDEUTSCHE GESPRÄCHE � Christoph de Vries, Vorsitzender der Gruppe der Vertriebenen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

„Bei der Ampel-Koalition mache ich mir große Sorgen“

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err de Vries, Glückwunsch zur Wahl. Warum haben Sie für den Vorsitz der Gruppe der Vertriebenen, Spätaussiedler und deutschen Minderheiten in der CDU/CSU-Fraktion kandidiert? Christoph de Vries: Vertriebene, Aussiedler und die deutschen Minderheiten im Ausland sind überwiegend Menschen, denen Heimat, Tradition, Familie, Glaube und Verbundenheit zum Vaterland viel bedeuten. Und das geht mir ganz genauso. Deshalb verspüre ich eine große Verbundenheit. Zudem besitzt meine Mutter selbst einen Vertriebenenhintergrund und hat uns Kindern viel über das Schicksal ihrer Familie sowie die ökonomischen und psychologischen Folgen durch den Heimatverlust erzählt. Außerdem engagiere ich mich seit einigen Jahren für die Spätaussiedler, unsere Landsleute aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie sind in Hinblick auf Bildungsaffinität und Erwerbsintegration absolut vorbildlich, Christoph de Vries ist der neue Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, und ich habe inzwischen auch Spätaussiedler und deutschen Minderheiten in der CDU/CSU-Fraktion. Der viele freundschaftliche Kontak- Hamburger Bundestagsabgeordnete hat sudetendeutsche Wurzeln. te geknüpft. Da meinem Vorgänger Eckhard Pols der WiederDe Vries: Wir erleben gerade Millionen Euro einen historieinzug in den Bundestag leider den demographischen Wechsel schen Höchststand erreicht und nicht geglückt ist, habe ich den von der Erlebnis- zur Bekennt- sind in der Regierungszeit der Hut in den Ring geworfen und nisgeneration. Aber der Heimat- Union seit 2005 fast verdreifacht bin sehr dankbar für das einstim- verlust existiert ja fort und ist in worden. Nun erinnern wir uns mige Votum meiner Kolleginnen den Köpfen und Herzen der Hei- an den Regierungswechsel 1998: und Kollegen. matvertriebenen und ihrer Nach- Schon ein Jahr später haben SPD Sie haben über Ihre Mutter su- kommen weiterhin präsent. Die und Grüne einen massiven Kahldetendeutsche Wurzeln. Wie ist Tradition der Landsmannschaf- schlag bei der Kulturförderung die Familie Ihrer Mutter vertrie- ten, wenn auch in unterschiedli- vollzogen, der das Ende etlicher ben worden? chen Ausprägungen, und die Pa- Paragraph-96er-Einrichtungen De Vries: Die Familie meiner tenschaften mit Bundesländern bedeutete. Es ist kein Geheimnis, Mutter stammt aus Kunewald na- haben sich bis heute erhalten. daß die politische Linke nach wie he Neutitschein und wurde am Die Ächtung jedweder Vertrei- vor wenig für die Vertriebenen 16. Juni 1946 in Viehwaggons bung bleibt leider aktuelles An- übrig hat. Außerdem dürfte der nach Deutschland verbracht, wo liegen deutscher Politik. Allein finanzielle Rahmen, um die zahlsie seitdem in Heidelberg lebte. in der Ostukraine sind durch den reichen hochfliegenden AmpelKopien von den Listen der Trans- Konflikt mehr als 1,5 Millionen Pläne zu bezahlen, ohnehin sehr porte hat mein Onkel uns kürz- Menschen innerhalb des Landes eng sein. Insofern ist diese Gelich zukommen lassen, auf denen vertrieben worden. fahr nach meiner Einschätzung die Familie meiner Mutter bei In den Wahlprogrammen der sehr real. Waggon 33 steht. Aufgeführt ist Parteien hat nur die CDU/CSU Mit Bernd Fabritius, dem Präübrigens auch Elvira Pisch, spä- den Bereich Flucht und Vertrei- sidenten des Bundes der Vertrieter Becker, die Mutter von Ten- bung thematisiert. Da Ihre Partei benen, hatte die scheidende Bunnisspieler Bonicht mehr in der desregierung einen kompetenten Im selben Wagon ris Becker Regierung ver- Beauftragten für Aussiedlerfraund Cousine wie die Mutter von treten sein wird: gen und nationale Minderheiten. meiner MutWie wird sich Wie geht es jetzt weiter? Boris Becker ter. die Stellung der De Vries: Ich würde mir sehr Aus welVertriebenen in wünschen, daß Bernd Fabritius cher Region stammte Ihr Vater? der Politik ändern? seine hervorragende Arbeit als De Vries: Mein Vater stammt De Vries: Auf die Union war Bundesbeauftragter fortsetzt. In aus einer Seemannsfamilie aus und ist immer Verlaß in der Ver- dieser Position sehe ich niemanOstfriesland. Er ist in Brunsbüt- triebenenpolitik. Deshalb haben den, der annähernd fachkuntel am Nord-Ostsee-Kanal gebo- wir dafür gesorgt, daß dieser Be- dig und angesehen bei Vertrieren und aufgewachsen, zog dann reich in einem eigenen Absatz ben, Aussiedlern und deutschen später als junger Export-Kauf- unseres Regierungsprogram- Minderheiten ist wie er. Die Ammann nach Hamburg. mes gewürdigt wird. Bei der Am- pel-Koalitionäre wären klug beWie sind Sie mit dem Thema pel-Koalition mache ich mir ehr- raten, das Amt fortzuführen. SetVertreibung sozialisiert worden? lich gesagt große Sorgen. Wenn zen sich hingegen die Ideologen War das Thema in der Familie? man die Anträge beispielswei- durch, wird die gesellschaftspoliDe Vries: Ja, das war es. Mit se der Grünen aus der zurück- tisch wichtige Tätigkeit zur Diszunehmendem Alter hat sich liegenden Wahlperiode liest, die position gestellt und damit auch meine Mutter immer intensiver aus dem Berliner Dokumentati- die gesamte Aussiedler- und Vermit ihren Wurzeln befaßt. Sie hat onszentrum Flucht, Vertreibung, triebenenpolitik fachlich abgeoft von der bewegten Lebensge- Versöhnung im Grunde ein Mi- wertet. schichte meiner Großeltern be- grationsmuseum machen wollen, Welche politischen Schwerrichtet, die fleißige, angesehe- schwant mir Böses. Und es steht punkte wollen Sie als Vorsitzenne und wohlhabende Bürger wa- zu befürchten, daß es die im Bun- der der Gruppe setzen? ren. Von einem auf den anderen desinnenministerium neu geDe Vries: Im bevorstehenden Tag ging alles Hab und Gut ver- schaffene Abteilung Heimat in Modernisierungsjahrzehnt wolloren. Die Folgen waren nicht nur dieser Form so nicht weiter ge- len wir als Gruppe der Vertriebeder ökonomische Verlust, son- ben wird. nen, Aussiedler und deutschen dern auch der Verlust des gesellDer Paragraph 96 des Bundes- Minderheiten den Bogen zwischaftlichen Status. Man darf zu- vertriebenengesetzes aus dem schen Heimat, Tradition und Indem nicht außer Acht lassen, daß Jahr 1953 verpflichtet Bund und novation spannen. Das bedeudie Vertriebenen in den Nach- Länder, das Kulturgut der Vertrei- tet erstens mit Blick auf den Stakriegswehen vielfach nicht gern bungsgebiete zu erhalten. Sehen tus des Bundesbeauftragten, die gesehene Ankömmlinge waren, Sie diese Regelung, die wesent- Kulturförderung oder das Dokuweil die ansässige Wohnbevöl- lich für die Arbeit der Vertriebe- mentationszentrum Flucht, Verkerung selbst unter Mangel und nenverbände ist, in Gefahr? treibung, Versöhnung diese poArmut litt. De Vries: Die Ausgangslage ist litischen Errungenschaften mit Seit Flucht und Vertreibung wie folgt: Die Mittel für die Kul- aller Kraft zu verteidigen und sind über 75 Jahre vergangen. turarbeit nach Paragraph 96 Bun- erbitterten Widerstand zu leiWarum hat das Thema für Sie desvertriebenengesetz haben im sten, wenn die neue Bundesreheute noch Relevanz? Bundeshaushalt 2021 mit 31,16 gierung Einschnitte plant. Zwei-

� Zur Person: Christoph de Vries

�  Geboren am 4. Dezember 1974 in Hamburg. �  Verheiratet, drei Kinder, praktizierender Katholik. �  2002: Abschluß als Diplom-Soziologe an der Universität

Hamburg. �  Von 2004 bis 2015: Angestellter in der Finanzbehörde Hamburg und dort zuletzt stellvertretender Referatsleiter im Amt für Haushalt. �  Von 2011 bis 2015: Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. �  Seit 2016: stellvertretender Landesvorsitzender der CDU Hamburg. �  Seit 2017: Mitglied des Deutschen Bundestages. �  Seit Oktober 2021: Vorsitzender der Gruppe der Vertriebenen, Spätaussiedler und deutschen Minderheiten in der CDU/CSU-Fraktion. tens möchte ich die Kontakte und Verbindungen zu den Spätaussiedlern weiter ausbauen und intensivieren. Ich bin froh, daß mit meiner Kollegin Ottilie Klein eine Spätaussiedlerin aus BerlinMitte eine aktive Rolle in der Gruppe spielen wird. Mein Ziel ist insbesondere, Ungerechtigkeiten im Fremdrentengesetz zu korrigieren und damit einen Beitrag gegen Altersarmut in der ersten Generation der Aussiedler und Spätaussiedler zu leisten. Drittens möchte ich hörbarer die Stimme erheben, wenn Minderheitenrechte unter Druck geraten, wie derzeit die der deutschen Minderheit in Polen durch eine nationalistische Regierungspolitik. Und schließlich möchte ich, daß unsere Gruppe Impulse in aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen rund um Geschichtspolitik, Identitätspolitik und einen modernen Patriotismus gibt.

Die Mutter von Christoph de Vries wurde am 16. Juni 1946 vertrieben. Sie sind selbst Vater von drei Kindern. Wie bringen Sie Ihren Kindern das Thema Vertreibung nahe? De Vries: Mit meiner 13jährigen Tochter spreche ich schon über das Vertriebenenschicksal ihrer Urgroßeltern und die alte Heimat unserer Familie. Meine beiden anderen Kinder sind noch

zu klein dafür. Waren Sie schon einmal in der alten Heimat? Wenn ja, mit welchem Gefühl? De Vries: Ich war schon häufig in den früheren deutschen Ostgebieten, etwa in Polen, aber leider noch nicht im Sudetenland, der Heimat meiner Mutter. Das habe ich mir fest für diese Wahlperiode im neuen Amt vorgenommen und hoffe, daß die Corona-Pandemie mir keinen Strich durch die Rechnung macht. Auch die sogenannte geordnete Vertreibung 1946 in der damaligen Tschechoslowakei war ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Sie fußte auf den BenešDekreten, die in der Tschechischen Republik heute noch Bestand haben. Wie ist Ihre Haltung dazu? Muß eine deutsche Regierung das Thema in Prag offensiv ansprechen? De Vries: Seit Gründung der Tschechischen Republik 1993 litten insbesondere die bayerischtschechischen Beziehungen unter dem Streit um die rechtliche und moralische Bewertung der Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen. Bayern hat daher stets die Rücknahme der Beneš-Dekrete als Bedingung für die Normalisierung des Verhältnisses gefordert. Es war der jetzige Bundesinnenminister Horst Seehofer, der das Eis gebrochen und 2010 als erster bayerischer Ministerpräsident dem Nachbarland einen offiziellen Besuch abgestattet hat. Seehofer, der damals vom Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe Bernd Posselt begleitet wurde, war sich mit Ministerpräsident Petr Nečas einig, daß es zwar offene Fragen gibt, in denen man nach wie vor unterschiedliche Rechtsauffassungen habe, man aber nun zusammen den Blick in die Zukunft richten wolle. Ob es einem nun gefällt oder nicht, damit waren die Beneš-Dekrete in der Tagespolitik vom Tisch. Das Thema der Vertreibung ist es nicht. Vor allem junge Tschechen set-

3 zen sich zunehmend mit den Massenmorden an Deutschböhmen nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem die tschechische Politik um die längst überfällige Geste der Versöhnung nicht mehr umhinkommt. Und dies wäre ein wichtiger Schritt zur vollständigen Aussöhnung. In welcher Verfassung sehen Sie akutell das deutsch-tschechische Verhältnis? De Vries: Die Corona-Pandemie hat auch den Grenzübertritt zwischen Deutschland und Tschechien beeinträchtigt, aber die bilateralen Beziehungen sind weiter sehr eng. Das Handelsvolumen hat zuletzt mit über 92 Milliarden Euro einen neuen Rekord erreicht. Bei der Vergangenheitsbewältigung hingegen gibt es Verbesserungsbedarf. So steht noch immer der Abschluß eines bilateralen Kriegsgräberabkommens aus, welches die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Tschechien auf eine gesetzliche und damit verbindliche Grundlage stellen würde. Zum Stand der Verhandlungen wird unsere Gruppe das Gespräch mit dem neuen Tschechischen Botschafter Tomáš Kafka suchen. Obwohl die Tschechische Republik ein direkter Nachbar ist, spielt das Land in der deutschen Medienberichterstattung kaum eine Rolle. Haben Sie eine Erklärung dafür? De Vries: Die Osteuropa-Berichterstattung in den deutschen Medien ist insgesamt ein viel zu vernachlässigtes Thema. Die aus Kostengründen reduzierte Zahl der Auslandsjournalisten bildet dabei nur eine Ursache. Allein das Beispiel der Krim-Annexion – die 2014 übrigens von einem früheren Bundesminister mit dem Anschluß des Sudetenlandes verglichen worden war – zeigt, daß wir es uns nicht leisten können, politische Entwicklungen im Osten Europas erst dann mitzubekommen, wenn es schon zu spät ist. Nicht ohne Grund hat sich hier in Berlin das Korrespondenten-Netzwerk „NOst“ gegründet, mit dem unsere Gruppe in Kontakt steht. Sie sind Innenpolitiker. Ein großes Thema ist seit 2015 der Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland. Stimmen Sie dem Satz von Kanzlerin Angela Merkel zu, daß wir das schaffen? De Vries: Die Geste, damals 20 000 in Ungarn frierenden und hungernden Menschen zu helfen, war richtig und ein Gebot christlichen Handelns. Aber die Folgewirkung, also der Zustrom von mehr als einer Million Migranten und Flüchtlingen, ist völlig unterschätzt worden. Unmittelbar nach dieser Geste hätte das klare Signal kommen müssen, daß die Grenzen dicht sind und es sich nicht lohnt, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Dieser Fehler hat unser Land gespalten und zur Etablierung einer rechtsradikalen Partei in Deutschland geführt, was ich sehr bedaure. Der Unterschied zwischen Vertriebenen damals und Flüchtlingen heute ist offenkundig. Bei den Vertriebenen handelt es sich um deutsche Volksangehörige, um Landsleute, die rechtlich und moralisch einen Anspruch auf Aufnahme hatten und als Deutsche nach Deutschland gekommen sind. Sie sind meistens nicht geflohen, sondern gegen ihren Willen aus ihrer Heimat vertrieben worden. Die Heimatvertriebenen haben einen großartigen Beitrag zum Wiederaufbau unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet. Dies ist klar zu unterscheiden von Flüchtlingen heutzutage, die überwiegend aus anderen Kulturkreisen kommen und deren Schutzstatus im Übrigen auch zeitlich befristet ist für die Dauer des Konflikts oder der politischen Verfolgung in der Heimat. Fortsetzung Seite 4


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