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AKTUELL
Sudetendeutsche Zeitung Folge 39 | 1. 10. 2021
Künstler, Bürgerrechtler, Staatspräsident: Václav Havel wäre am 5. Oktober 85 Jahre alt geworden
Mut tut gut
„Václav Havel se zasloužil o svobodu a demokracii.“
Sag „Nein“ zur Angst
„Václav Havel hat sich um Freiheit und Demokratie verdient gemacht.“ Von Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe Der Kontakt mit Václav Havel war zunächst nur indirekt. Wir schmuggelten von München im Gepäckraum eines Linienbusses immer wieder verbotene Literatur und Druckmaschinen zu den verfolgten Bürgerrechtlern im kommunistischen Prag und beförderten auf dem Rückweg deren im Untergrund verfaßte Manuskripte in den Westen.
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n den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich Havel nicht nur zur führenden Persönlichkeit des tschechoslowakischen Widerstandes gegen die totalitäre Tyrannei der Kommunisten, er wurde auch in den ebenfalls versklavten Nachbarländern im damaligen Ostblock als Licht der Freiheit wahrgenommen. Gemeinsam mit dem Gründer der polnischen Solidarnosc-Bewegung, Lech Wałęsa, und Papst Johannes Paul II. wurde er zum grenzüberschreitenden Impulsgeber aller Völker in Mittel- und Osteuropa. Auf Berghütten und Bauden im Riesengebirge traf er sich mit Bürgerrechtlern aus Polen, Ungarn, der DDR und anderen sowjetisch besetzten Ländern, um den Widerstand zu koordinieren. Den marxistischen Diktatoren sollte es nicht mehr gelingen, die freiheitlichen Regungen nach dem Motto „Teile und herrsche“ gegeneinander auszuspielen und damit zu ersticken. Zu einem entsprechenden Signal wurde die letzte von mehreren Verhaftungen Havels am 15. Jänner 1989. Seine Festnahme bei einer Demonstration zum Gedenken an Jan Palach, jenen Prager Studenten, der sich 1969 aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armee in der Tschechoslowakei selbst verbrannt hatte, empörte die Menschen im ganzen Warschauer Pakt. In Ungarn konnte dies schon öffentlich einen Ausdruck finden. So sprach etwa ich Anfang März 1989 bei einer Kundgebung für die Freilassung des tschechischen Dichters und Dramaturgen auf dem Budapester Vörösmarty-Platz, die der ungarische Freiheitskämpfer György Konrád organisierte – damals noch umringt von schwerbewaffneter kommunistischer Miliz. Während der Samtenen Revolution im Herbst 1989 durfte ich in Prag erleben, wie der Dramaturg Havel den Sturz des Kommunismus inszenierte. Zwischen Demonstrationen und zähen Verhandlungen mit roten Funktionären, die nicht wußten, ob sie das Volk blutig niederschlagen oder doch die Macht übergeben sollten, setzte er weithin beachtete Zeichen. Eines davon war das Klingeln von Hunderttausenden von Schlüsselbunden auf dem Wenzelsplatz – darunter auch mein Schlüssel aus München, den ich heute noch in Ehren halte. Den Rücktritt des kommunistischen Diktators Gustáv Husák organisierte er so, daß dieser am 10. Dezember 1989 erfolgte – am Tag der Menschenrechte. Havel war nicht nur Vorkämpfer der Freiheit, sondern auch Pionier der Völkerverständigung, Architekt eines geeinten Gesamteuropa und ungekrönter König einer freien Bürgergesellschaft.
Václav Havel: Sein Vermächtnis bleibt lebendig, obwohl sich nach wie vor viele an ihm reiben. Inmitten der gefährlichen Übergangssi- stige US-Präsidentenberater Zbigniew tuation von der Diktatur zur anfänglich Brzeziński, ein Exilpole, zugegen, der in noch sehr schwachen Demokratie wag- Prag für eine gegen das sich wiederverte er, was zu diesem Zeitpunkt kaum je- einigende Deutschland gerichtete polmand vermutet hätte, nämlich das heiße nisch-tschechisch-slowakische DreierföEisen der sudetendeutschen Frage auf- deration warb. Havel lehnte dieses Konzugreifen. Er verurteilte die Vertreibung zept als uneuropäisch ab und bat uns, als „zutiefst unmoralische Tat“, die Un- ihn dabei argumentativ zu unterstützen. schuldigen unsägliches Leid zugefügt Auch wenn die tapfere Haltung Haund letztlich dem ganzen Land schwer vels in Sachen Vertreibung nicht zum geschadet habe, wandte sich energisch erhofften Durchbruch und zum direkgegen den Kollektivschuldgedanken ten Dialog führte –das eigene Volk und und sprach als Bürgerrechtler wie als dessen Führungsschicht folgten ihm daPräsident davon, daß die „Verjagung“ bei nicht, und auch aus Bonn ertönte etder Sudetendeutschen Rache und nicht wa aus dem Mund von Hans-Dietrich Recht gewesen Genscher, das Gansei. Die europäische Einigung ze dürfe nur zwiAls ich ihn geRegierungen war ein Herzensanliegen schen meinsam mit Otgeregelt werden –, to von Habsburg so säte er doch auf und Rudolf Kučera am 18. März 1990 auf einen unfruchtbar scheinenden Acker der Prager Burg besuchte –er saß da- manches, was jetzt langsam an Verstänmals noch nicht in den von den alten Ap- digungsmöglichkeiten aufzugehen beparaten beherrschten Amtsräumen, son- ginnt. dern Weißbier trinkend inmitten einer Vor allem die europäische Einigung Rauchwolke in der Burggaststätte Vikár- war dem ehemaligen Bürgerrechtler ein ka –, erzählte er uns, daß er einer Ein- Herzensanliegen. Beim ersten Besuch ladung von François Mitterrand, zuerst einer Delegation des Europaparlamennach Paris zu reisen, um die Kleine En- tes auf dem Hradschin führte er mich tente der Zwischenkriegszeit zu erneu- vor allen Kollegen demonstrativ durch ern, nicht gefolgt, sondern bewußt zu- seine Privaträume, um deutlich zu mavor nach München und Berlin gefah- chen, daß er Tschechen und Sudetenren sei. Der Weg nach Europa führte deutschen eine Brückenfunktion im für ihn über die deutschen Nachbarn, Herzen Europas beimaß. In Straßburg auch wenn es später zu manchen ge- sprach er von Europa als einer „Heimat genseitigen Enttäuschungen und Ent- der Heimaten“, die einer Verfassung befremdungen kommen sollte. Damals in dürfe, „die jedes Schulkind versteht“. der Vikárka war zeitweise auch der mit Diese Forderung ist noch unerfüllt, aber der Familie Beneš verschwägerte ein- sein wohl wichtigstes Vermächtnis. Die
Foto: vaclavhavel.cz
Wirkkraft dieses großen Europäers endete auch nicht, als er 2003 aus seiner Präsidentenfunktion ausschied. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Staatsoberhaupt hatte er sich in einer materialistisch orientierten Gesellschaft als herausragende moralische Instanz erwiesen. Dabei war er eine religiös eher undogmatische Persönlichkeit, die von vielen Kommentatoren als agnostisch eingestuft wurde. Wer ihn aber persönlich kannte, wußte, daß er ein vielleicht auf unkonventionellen Wegen suchender, aber zutiefst gläubiger Mensch war. Am schönsten fand dies seinen Ausdruck, als mit Johannes Paul II. erstmals ein Papst zu Besuch in die frei gewordene Tschechoslowakei kam. Havel begrüßte den polnischen Pontifex mit folgenden Worten: „Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist; trotzdem wage ich zu behaupten, daß ich in diesem Augenblick ein Wunder erlebe.“ Als Havel am vierten Advent 2011 starb, geleitete ihn ein trauerndes Land zur letzten Ruhe, das trotz aller Säkularisation den Abschied von seinem Befreier wie einen riesigen Gottesdienst zelebrierte. Sein Vermächtnis bleibt lebendig, obwohl sich nach wie vor viele an ihm reiben. Das tschechische Parlament verabschiedete sich mit einer ehrenvollen Geste und beschloß am 19. Dezember 2011 einstimmig ein Gesetz, das nur aus einem einzigen Satz besteht: „Václav Havel se zasloužil o svobodu a demokracii“ – „Václav Havel hat sich um Freiheit und Demokratie verdient gemacht.“
Václav Havel sprach am 24. April 1997 auch das Thema Vertreibung an
Historische Rede im Deutschen Bundestag Eine Rede für die Geschichtsbücher: Am 24. April 1997 hat Václav Havel als erster tschechischer Staatspräsident im Bundestag gesprochen. Sein Besuch in Bonn war ein Schritt bei dem Versöhnungsprozeß, den er selbst seit 1989 entscheidend vorangebracht hatte. Havel thematisierte in seiner Rede auch das Unrecht der Vertreibung.
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iemand von uns ist natürlich so naiv, zu glauben, die Erklärung sei ein Zauberstab, der all die bitteren Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert unser Zusammenleben beeinträchtigten, und
all den traditionellen und traditionsgemäß genährten Irrglauben, der über dieses Zusammenleben und diese Erfahrungen auf beiden Seiten besteht, auf einmal verschwinden lassen wird. Trotzdem bin ich der Meinung, daß die Erklärung von großer Bedeutung ist, vielleicht von größerer Bedeutung, als manchen von uns bewußt ist. So wie das heutige Deutschland nicht in der Lage ist, die Zehntausende tschechischer NS-Opfer ins Leben zurückzurufen und uns in die Zeit vor 1938 zurückzuführen, in der Tschechen, Juden und Deutsche bei uns zusammenlebten,
Stehende Ovationen im Bundestag: Auch Bundespräsident Roman Herzog applaudiert seinem Amtskollegen Václav Havel.
so wenig kann die heutige Tschechische Republik den vertriebenen Deutschen ihr altes Zuhause zurückgeben. Durch diese Erklärung haben wir meines Erachtens klar gesagt, daß wir nicht das Unmögliche anstreben, das heißt, daß wir nicht versuchen, die eigene Geschichte zu ändern und ihre nicht wiedergutzumachenden Folgen wiedergutzumachen, sondern daß wir diese Geschichte unvoreingenommen erforschen, ihre Wahrheit suchen und dadurch die einzig möglichen und sinnvollen Grundlagen unseres künftigen guten Zusammenlebens legen wollen.“
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m die Wende vom September zum Oktober feiert die Katholische Kirche gleich zweimal ein Engelsfest. Am 29. September danken wir Gott für die drei Erzengel Michael, Gabriel und Rafael. Am 2. Oktober ist das Fest der heiligen Schutzengel. Das Wort Engel entstammt dem Altgriechischen. Dort bedeutet „Ángelos“ soviel wie „Bote“. In der Bibel gibt es mehrere Engelserzählungen, in denen diese himmlischen Wesen als Boten Gottes figurieren. Sie sind Überbringer der Botschaft, daß Gott unser Leben lenkt und leitet, daß er eine besondere Aufgabe für uns hat oder schlicht und einfach, daß er gegenwärtig ist und die Menschheit nicht vergißt. Die Engelserzählungen der Bibel sind Mutmach-Geschichten. Sie helfen uns, hoffnungsfroher und trostreicher unsere Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen. Insofern ist es positiv, daß die Engelsverehrung seit Jahrzehnten floriert, auch bei solchen Menschen, die man sonst kaum als praktizierende Christen bezeichnen kann. Letztlich geht es dabei um die menschliche Ursehnsucht nach Geborgenheit und Beziehung, nach Schutz und Halt. Die Engel scheinen dabei fast so etwas wie Platzhalter zu sein. Ihre Figuren und Bilder finden sich häufig dort, wo eigentlich auch ein Mensch für einen anderen Menschen da sein könnte und sollte. Insofern gefällt mir ein Gedicht des Lyrikers und Pädagogen Rudolf Otto Wiemer (1905–1998) besonders gut, in dem es heißt: „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel“. In der Tat: jeder kann einem anderen zum Engel werden. Manchmal genügt ein offenes Ohr, wenn jemand von seiner Not erzählt. Doch zurück zu den Engelserzählungen der Bibel. Sie haben ihren Höhepunkt zweifellos in den Begegnungen, welche die Eltern Jesu vor dessen Geburt mit himmlischen Wesen hatten. Im Lukasevangelium wird der Besuch des Erzengels Gabriel bei Maria erzählt. Dieser kommt mit der Ankündigung, daß Gott ihr eine große Aufgabe zugedacht habe, nämlich die Mutter des verheißenen Messias zu werden. Ihrem Bräutigam Josef erscheint im Matthäusevangelium ein Engel im Traum und läßt dessen gebeutelte Seele aufhorchen. Das Kind, das Maria ohne sein Zutun erwartet, ist nicht von irgendeinem anderen Mann, sondern vom Heiligen Geist. In beiden Erzählungen wird dem Engel ein Satz in den Mund gelegt, der auch sonst zu den Kernbotschaften der Bibel gehört: „Fürchte dich nicht.“ Man könnte das in freier Weise auch so formulieren: Sag „Nein“ zu deiner Angst, zu deinem Mißtrauen in die Zukunft, zu deinem Vertrauensmangel in Gott und in dich selber. So komme ich auf das Gedicht von Rudolf Otto Wiemer zurück. Dort heißt es in der letzten Strophe: „Er steht im Weg, und er sagt Nein, / der Engel. Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein.“ Ich wünsche nicht nur mir selbst und jedem anderen Menschen solche Engel. Ich wünsche das auch der Gesellschaft und der Welt in all den kollektiven Ängsten, unter denen wir oft allzu sehr leiden. Es müssen ja nicht immer nur Männer mit Flügeln sein. Dr. Martin Leitgöb CSsR Seelsorger der Pfarrei Ellwangen-Schönenberg