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Zum Tag der Deutschen Einheit: Interview mit Steffen Hörtler
Am Sonntag ist Tag der Deutschen Einheit. Selbst heute, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, erscheint die deutsche Wiedervereinigung wie ein politisches Wunder. Für Steffen Hörtler, heute SL-Landesobmann Bayern, stellvertretender SL-Bundesvorsitzender und Direktor des Heiligenhofs, kam der Zusammenbruch der DDR genau zum richtigen Zeitpunkt, wie der 48Jährige im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung erzählt.
Herr Hörtler, Sie stammen aus einer Vertriebenenfamilie und sind in der DDR aufgewachsen. Wie wurde das Thema Flucht und Vertreibung in Ihrer Schulzeit aufgearbeitet?
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Steffen Hörtler: Überhaupt nicht. Wir haben sehr viel erfahren über die Greultaten der Nazis, wobei die Opfer immer Kommunisten, Polen, Tschechen und Russen waren. Über die Hauptopfergruppe, die Juden, wurde nicht gesprochen. Und das Thema Vertreibung war sowieso ein großes Tabu.
Wie haben Sie als Schüler reagiert?
Hörtler: Eskaliert ist es 1988. Damals war ich in der achten Klasse. Unsere Lehrerin hat von den Verbrechen der Nationalsozialisten berichtet. Da habe ich mich gemeldet und erzählt, was meinen Eltern und Großeltern während der Vertreibung widerfahren ist.
Wie hat Ihre Lehrerin reagiert?
Hörtler: Sie war außer sich und hat gemeint, mein Vater habe das falsch erklärt, und ich hätte das falsch verstanden. Aber das war noch nicht alles: Mein Klassenlehrer, die Direktorin und der Politoffizier sind zu uns nach Hause gekommen und haben meine Eltern zur Rede gestellt. Ich selbst durfte an dem Gespräch nicht teilnehmen. Als Wiedergutmachung und um trotzdem noch Abitur machen zu dürfen, sollte ich dann unterschreiben, daß ich nach der Schule freiwillig zur NVA gehe. Das habe ich nicht gemacht, aber dieses Erlebnis hat mich geprägt.
Glück für Sie, daß ein Jahr später im Herbst die Mauer fiel.
Hörtler: Ja, das kam für mich genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich konnte dann in Hermsdorf auf ein Internat gehen und dort das Abitur nach dem hessischen Lehrplan machen.
Wie war die Zeit in der DDR für Ihre Eltern?
Hörtler: Mein Vater hat sich seine sudetendeutsche Vergangenheit von niemanden nehmen lassen, aber bereits damit ist man in der DDR angeeckt. Er war Industriemeister, aber im Umkreis unseres Wohnortes Meuselwitz im Altenburger Land wollte ihn kein Betrieb anstellen. Er hat dann für Wismut gearbeitet und mußte jeden Tag 50 Kilometer pendeln.
Woher stammte Ihr Vater?
Hörtler: Mein Vater wurde am 23. Mai 1937 in Blottendorf bei Haida im Kreis Böhmisch Leipa geboren. Als unsere Familie vertrieben wurde, war mein Vater neun Jahre alt.
Haben Ihr Vater und Ihr Großvater über die Vertreibung gesprochen?
Hörtler: Mein Vater ja, mein Großvater leider kaum. Er war immer unglaublich bedrückt, wenn es um dieses Thema ging. Ich weiß heute, daß er das Massaker von Haida erlebt und dabei schreckliche Dinge gesehen hat. Das treibt mir heute noch die Tränen in die Augen. Das tut immer noch weh. Damals wurden mitten auf dem Marktplatz mehrere Sudetendeutsche willkürlich ausgewählt, in aller Öffentlichkeit stundenlang immer wieder bis zur Bewußlosigkeit geschlagen und gefoltert und anschließend erschossen. Die anderen Deutschen mußten sich dieses Massaker als Abschreckung anschauen. Darunter war wohl auch mein Opa.
Konnten Sie von Thüringen aus die alte Heimat besuchen?
Hörtler: Ja, wir sind zwei bis drei Mal pro Jahr nach Haida gefahren, jeweils für eine Woche im Frühjahr, Sommer oder Herbst. Obwohl die DDR-Propaganda die Tschechen als „sozialistisches Brudervolk“ bezeichnete, waren die Grenzkontrollen für uns Vertriebene jedes Mal eine Schikane. Einmal mußte mein Vater sogar die Radkappen abbauen. Aber für mich als Kind war das alles ein großes Abenteuer. Und heute kenne ich die Heimat wie meine Westentasche. Da ich gerne wandere, gibt es im gesamten Riesengebirge wohl keinen Wanderweg, den ich nicht schon gegangen bin.

Steffen Hörtler mit Frank-Walter Steinmeier, seit 2017 Bundespräsident.
Wie ging es nach der Wende und Ihrem Abitur weiter?
Hörtler: Mein Vater hat nach der Wende in Thüringen die Sudetendeutsche Landsmannschaft aufgebaut, und ich ging zum Studieren nach Fulda. Nachdem ich beim Bund einen Lkw-Führerschein hatte machen konnte, habe ich mein Studium als Aushilfsfahrer finanziert. In Fulda habe ich mich dann bei dem legendären Kreis-obmann Wilhelm Schöbel gemeldet, der mich mit den Worten begrüßte ,Wir brauchen immer wieder junge Leute – zum Stühlerücken‘. Aber Wilhelm wurde ein guter Freund...
Ihr Studium Sozialwesen haben Sie als Diplom-Sozialpädagoge abgeschlossen. Wie war die Zeit in Fulda?
Hörtler: Fulda selbst ist konservativ geprägt, aber die Hochschule war tiefrot. Ich habe gemerkt, daß man mit dem Thema Vertreibung sofort aneckt. Und das hat mich angespornt.
Sie haben nach einem Aufsatz, den Prof. Peter Krahulec, ein eingefleischter Alt-68er und Autor des Buches „Die Wildschweine und die Flüchtlinge“, verfaßt hatte, sogar einen Brief geschrieben. Was stand da drin?
Hörtler: Krahulec war drei Jahre alt, als seine Familie aus Prag vertrieben wurde. Er gab seinem Vater, der erst nach jahrelanger Zwangsarbeit wieder zu seiner Familie durfte, und dessen Generation die Schuld an der Vertreibung. Ich habe ihm geschrieben, daß er keine Ahnung hat, weil er nie mit Zeitzeugen gesprochen hat.
Wie hat er reagiert?
Hörtler: Was ich ihm hoch anrechne ist, daß er seine Haltung überdacht und differenziert hat. Er hat zu mir gesagt: „Es sind nicht die dümmsten Professoren, die auch auf ihre Studenten hören.“ Später wurde mir klar, daß Krahulecs ursprüngliche Haltung zum Thema Vertreibung eigentlich aus einem ungelösten Vater-Sohn-Konflikt resultierte. 1997 kam dann Wolfgang Egerter für einen Vortrag an die Hochschule in Fulda. Der spätere persönliche Berater des Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel war stark in der Sudetendeutschen Landsmannschaft engagiert und unter anderem Vorsitzender des Sudetendeutschen Sozial- und Bildungswerks gewesen.
Sie haben damals als Student das Einführungsreferat gehalten und über Vertreibung und Versöhnung gesprochen. Offenbar war Egerter tief beeindruckt von Ihnen.
Hörtler: Er hat mich für ein Praktikum bei der Bildungsstätte Burg Hohenberg schanghait. Diese zwei Semester waren ein Jahr mit sehr wenig Einkommen, aber eine lehrreiche und fruchtbare Zeit. Ich habe damals mein Herz für die Erwachsenenbildung entwickelt und 1999 die Leitung von Burg Hohenberg übernommen. Hier habe ich dann auch meine Frau Lucie Jindrová kennengelernt. Wir haben dann 2005 auf der Burg geheiratet, und 2009 kam unsere Tochter Laura zur Welt. Ich habe also nur beste Erinnerungen an Burg Hohenberg und wollte eigentlich nichts anderes mehr machen.
2003 kam aber der Ruf an den Heiligenhof.
Hörtler: Ja, und am Anfang war ich nicht begeistert. Aber nach ein paar Wochen habe ich verstanden, was der Heiligenhof wirklich ist. Es ist ein Ort, der den Sudetendeutschen gehört, es ist ein Stück Heimat. Wenn man das Leuchten in den Augen der sudetendeutschen Landsleute sieht, wenn sie am Heiligenhof ankommen, entschädigt das für all die Mühen.
Sie haben den Heiligenhof zu einer führenden Bildungsstätte weiterentwickelt und viele neue Ideen umgesetzt, aber dann kam das Frühjahr 2020 – der erste Lockdown in der Corona-Pandemie.
Hörtler: Das war, als ob man bei einem Elektromotor den Stecker zieht. Natürlich haben wir uns alle Sorgen gemacht. Überlebt der Heiligenhof die Pandemie? Schaffen wir das alles? Wir haben sofort Seminare auf Online umgestellt. Damit haben wir zwar kein Geld verdient, aber wir haben auch im Lockdown den Kontakt zu unseren Gästen gehalten.
Eineinhalb Jahre sind seitdem vergangen. Wie lautet Ihre Antwort? Haben Sie es geschafft?
Hörtler: Bislang sind wir mit einem blauen Auge davon gekommen. Und für die kommenden Monate sehen wir eine hervorragende Buchungslage. Wir haben das aber nicht allein erreicht. Wir hatten eine unglaubliche Unterstützung von unseren Landsleuten, die über 100 000 Euro gespendet haben. Außerdem waren wir während der Pandemie im ständigen Kontakt mit der Politik und haben staatliche Hilfe erhalten. Sonst hätte der Heiligenhof das nicht überlebt. Mein großer Dank geht hier an unseren Schirmherren, Ministerpräsident Markus Söder, und seine gesamte Regierung, inbesondere natürlich an Schirmherrschaftsministerin Carolina Trautner, an Staatskanzleichef Florian Hermann, an den Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses, Sandro Kirchner und an Sylvia Stierstorfer, die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene. Auch im Landtag gab es – übrigens über alle Parteigrenzen hinweg – echte Unterstützer, wie Josef Zellmeier (CSU), den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, Volkmar Halbleib, den vertriebenenpolitischen Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, oder Bernhard Pohl, den Sprecher für Vertriebenenfragen in der Fraktion der Freien Wähler. Auf Bundesebene haben natürlich unsere Direktabgeordnete Dorothee Bär, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, sowie Stephan Mayer, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat und Sohn einer Familie, die aus Mähren vertrieben worden ist, immer ein offenes Ohr für uns. Und mit Christa Naaß, unserer Präsidentin der Sudetendeutschen Bundesversammlung, haben wir eine weitere profilierte SPD-Politikerin, die sich für die Landsleute einsetzt.

Steffen Hörtler mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder, dem Schirmherrn der Sudetendeutschen.
Warum ist der Heiligenhof parteiübergreifend geschätzt?
Hörtler: Wir sind eine Brükke der Versöhnung zwischen Deutschland und Tschechien. Und bei diesem wichtigen Thema stehen mögliche Parteiinteressen hinten an. Wir beherbergen viele Gruppen aus Tschechien und zeigen, daß es zur Versöhnung keine Alternative gibt. Im Heiligenhof sind auch viele deutsche Gruppen zu Gast, die gar nichts mit dem Thema Vertreibung zu tun haben. Wir nutzen aber diese Gelegenheit, um über diesen einschneidenden Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu informieren. Wir halten Vorträge, wir haben alle Zimmer nach Vertriebenen benannt, und wir haben überall Hinweistafeln aufgestellt. So kommen wir ins Gespräch.
Vor ein paar Monaten haben Sie die Erweiterungspläne für den Heiligenhof in der Sudetendeutschen Zeitung vorgestellt. Warum ist diese Investition notwendig?
Hörtler: Wir müssen den Heiligenhof zukunftssicher und zukunftsfest machen. Dazu gehören Veranstaltungsräume mit entsprechender Konferenztechnik und eine Küche, die den heutigen Standards entspricht. Wir stellen jetzt die Weichen für die nächsten zwanzig, dreißig Jahre. Wir investieren hierfür 5,5 Millionen Euro. Davon erhalten wir 2 Millionen Euro an staatlichen Zuschüssen, den Rest finanzieren wir über Kredite und Spenden.
Vor wenigen Monaten ist Bad Kissingen ins Weltkulturerbe aufgenommen worden. Inwieweit hilft dies bei der Vermarktung des Heiligenhofs.
Hörtler: Natürlich ist die Begeisterung über diese Auszeichnung noch immer sehr groß. Als Weltkulturerbe-Stadt erhält Bad Kissingen jetzt eine globale Aufmerksamkeit. Was gerade mich als Sudetendeutschen freut, ist, daß Bad Kissingen gemeinsam mit den böhmischen Bädern Karlsbad, Marienbad und Franzensbad ins Weltkulturerbe aufgenommen worden ist.
Anfang August haben Sie am Brünner Versöhnungsmarsch teilgenommen und sind zu Fuß die 30 Kilometer vom Massengrab in Pohrlitz in den Augustinergarten in Alt-Brünn gegangen, um dort am Gedenkstein für die sudetendeutschen Opfer eine Kerze anzuzünden. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Hörtler: Die Vergangenheit kann man nicht ungeschehen machen, aber man kann aus ihr lernen. Der Brünner Todesmarsch oder das Massaker von Haida, an dessen Folgen mein Opa sein Leben lang gelitten hat, so wie viele andere Verbrechen während der Vertreibung resultieren aus dem widerwärtigen Nationalsozialismus und dem wachsenden Nationalismus zwischen deutschen und tschechischen Landsleuten nach dem Ersten Weltkrieg. Unser Ziel muß es sein, Europa voranzutreiben und immer das Verbindende zu suchen, nicht das Trennende. Uns alle verbindet eins: Wir alle sind Menschen. Krieg, Haß und Gewalt sind keine Option, sondern immer der Anfang vom Ende.

Steffen Hörtler vor dem Eingang des Sudetendeutschen Museums in München mit dem berühmten Zitat von Václav Havel. Foto: Torsten Fricke
❯ Zur Person: Steffen Hörtler
❯ Geboren am 16. Juli 1973 in Meuselwitz (Thüringen).
❯ Verheiratet, eine Tochter.
❯ Studium Sozialwesen in Fulda mit dem Abschluß Diplom- Sozialpädagoge.
❯ 1998 bis 2003: Praktikant und ab 1999 Leiter der Bildungsstätte Burg Hohenberg.
❯ Seit 2003: Leiter der Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen.
❯ Seit 2016: Direktor der Stiftung Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk.
❯ Seit 2010: Stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft
❯ Seit 2014: Landesobmann SL Bayern.
❯ Seit 2017 Vorsitzender der CSU-Fraktion im Stadtrat von Bad Kissingen.
❯ Seit Juli 2020: ZDF-Fernsehrat.