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Fortschritt für Fußgänger

In der Waldviertler Schuhwerkstatt wird auf einen hohen Anteil an Handarbeit im Fertigungsprozess großer Wert gelegt.

Wie Waldviertler Schuhe Österreichs Füße erobern

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Die Waldviertler Schuhwerkstatt geht auf ein Beschäftigungsprojekt zurück, mit dem die hohe Arbeitslosigkeit im Waldviertel, der charaktervollen Landschaft im nördlichen Niederösterreich, bekämpft werden sollte. Die Diözese Sankt Pölten, die Re-

publik Österreich und das Land Niederösterreich stellten für dieses Projekt Gelder zur Verfügung, und ab 1984 wurden Schuhe hergestellt. Sieben Jahre lang lief die Schuhwerkstatt in Selbstverwaltung mit Förderungen und bot Arbeitslosen und auch Alkoholkranken eine sinnvolle Betätigung. Als im Jahre 1991 die Förderungen eingestellt wurden, entschloss sich der damalige Vertriebspartner Staudinger zusammen mit zwei weiteren Geldgebern, die Firma zu übernehmen, da sie sonst hätte schließen müssen. Marketingexperten prophezeiten ihm damals, dass seine Firma nicht lange werde existieren können, denn Staudinger hielt am Produktionsstandort Waldviertel fest. Seit 1994 ist die Schuhwerkstatt in privater Hand, und sie entwickelt sich prächtig: Im Jahr 1998, als in Österreich sieben Schuhfabriken geschlossen wurden, hatte das Unternehmen sein bis dahin bestes Ergebnis. Mittlerweile ist Staudinger der Alleininhaber, einer seiner Geschäftspartner ging inzwischen für ein Entwicklungshilfeprojekt nach Afrika.

v o n A l e x a n d e r G l ü c k

M a r k e n z e i c h e n f l e x i b l e N a h t

Knapp 20 Personen sind derzeit in der Waldviertler Schuhwerkstatt beschäftigt. Vierzehn davon produzieren, während sieben in der Endkontrolle, im Verkauf und im Büro tätig sind. Immer wieder bildet die Firma Lehrlinge aus. Das Unternehmen hat sich auf die so genannte flexible Naht spezialisiert, die gewissermaßen eines der Markenzeichen der Waldviertler Schuhe geworden ist. Dabei wird das Oberleder nicht über einen Rahmen, sondern direkt mit der Zwischensohle vernäht. Der hohe Anteil der Handarbeit am Fertigungsprozess erlaubt es, auf Kundenwünsche einzugehen. Ristauflagen, Größenkorrekturen oder sogar Einzelschuhe für Einbeinige sind überhaupt kein Problem. Die Schuhe werden von Händlern in ganz Österreich vertrieben, wobei die Geschäfte der Firma GEA den größten Absatzanteil ausmachen. Man kann also die Schuhe der kleinen Werkstatt möglicherweise auch im S c h u h g e s c h ä f t um die Ecke finden. Es ist bereits vierundzwanzig Jahre her, dass ein junger Mann mit Namen Heini Staudinger in einer Kneipe einen außergewöhnlichen Schuh gezeigt bekam. Dabei handelte es sich um den EarthShoe aus Dänemark, und Staudinger beschloss, diesen Schuh zu vertreiben. Er fuhr nach Dänemark, bestellte viele Schuhe auf Pump und wurde Schuhhändler. Heute handelt Heini Staudinger nicht mehr mit importierten Schuhen, sondern mit seinen eigenen. Es begab sich nämlich, dass sich seine Wege mit denen der Waldviertler Schuhwerkstatt kreuzten, und daraus wurde eine gute Zusammenarbeit.

Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es mehrere kleine Waldviertler Unternehmen, die aus Schuhmachereien hervorgegangen waren und im etwas größeren Umfang produzierten. Betriebe dieser Art waren über die ganze Region verteilt, und darunter gab es auch große Firmen wie etwa Schmidt in Krems, die bis zu tausend Mitarbeiter beschäftigten. Von all dem ist heute nichts mehr vorhanden. Im Waldviertel begann zuerst, was vor mittlerweile 15 Jahren das ganze Land N i e d e r ö s t e r reich heimsuchte: der völlige Niedergang der Schuhindustrie. Daher knüpft die Arbeit der Schuhwerkstatt nicht an vorhandene Traditionen an, sondern ist als völlig neue Entwicklung zu sehen. Gleichwohl: Wo diese Firma ihre Arbeit aufnahm, hatte zuvor ein Holzschuhmacher die seinige eingestellt. Man

kann sagen, dass die Waldviertler Schuhwerkstatt das letzte Unternehmen dieser Art in Niederösterreich ist. Ein gefördertes Arbeitslosenprojekt muss zunächst jedoch nicht auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen achten. Und heute, wo das Unternehmen in der Tat auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen achtet, erweist sich der Standort nicht als nachteilig, sondern stiftet bei Mitarbeitern und Käufern das Gefühl, eigene, inländische Produkte herzustellen, zu kaufen und zu tragen. Die Mitarbeiter kommen überwiegend aus der näheren Umgebung zu ihrem Arbeitsplatz in Schrems. Sie heißen Edith, Stefan, Ossi oder Marko, nur etwa ein Fünftel von ihnen hat mehr als zehn Kilometer zurückzulegen. In der Werkstatt steht ein großer Maschinenpark. Es ist kein Widerspruch, für handwerklich dominierte Arbeit Maschinen einzusetzen, solange das Manuelle im Vordergrund steht. Bei einer Fabrikationsanlage läuft in der Regel alles vollautomatisch ab –hier hingegen nicht. Die Arbeit selbst steht also in handwerklicher Tradition, zu ihrer Bewältigung bedient man sich jedoch bestimmter Werkzeuge. Etwa der Maschine, die Oberleder und Zwischensohle eines Schuhs mit einer stabilen Naht verbindet, jedoch immer nur so präzise, wie sie geführt wird. Oder des Gerätes, mit der die Sohlenkante glattgeschliffen wird – wer wollte das mit der Hand machen? Neben der aufwendigen Kontrolle und Führung der Maschinen ist auch die Arbeitsteilung charakteristisch für die Arbeit der Schuherzeuger in Schrems. Die Mitarbeiter setzen sich aus ausgebildeten Fachkräften, Angelernten und Auszubildenden zusammen. Nach und nach wird man als Mitarbeiter mit den verschiedenen Arbeitsbereichen vertraut gemacht; vier bis fünf Leute können sozusagen alles. Dadurch ist Abwechslung am Arbeitsplatz gewährleistet, und nötigenfalls können Kollegen einspringen, wenn jemand ausfällt. Betriebsklima und Fertigungsqualität profitieren davon. Die Mitarbeiter der Waldviertler Schuhwerkstatt wissen, dass sie die Fährnisse ihres Schiffleins, in dem sie gemeinsam sitzen, gemeinsam meistern können. Die Identifikation mit dem Unternehmen ist ausgesprochen hoch.

Z u h a u s e c h a o t i s c h

Wenn man Herrn Staudinger in seiner Wohnung in Wien besucht, staunt man zunächst einmal über das dort herrschende Chaos. Es handelt sich um eine reichlich abgewohnte Studentenbude, Socken und Bücher liegen herum, irgendwo lehnt eine Gitarre, ein gusseiserner Ofen steht mitten im Raum, und auf dem Arbeits-, Ess- und Ablagetisch türmen sich Zettel, auf denen der Prototyp eines Schuhs liegt. Es handelt sich um genau die Sorte von Chaos, in der man seine Sachen sofort findet (was sich mit dem Aufräumen schlagartig ändern würde). In dieser Höhle wohnt also der Chef, ein Mann in den späten Vierzigern, und er wohnt hier schon ziemlich lange. Er entstammt der blühenden Szene der Achtundsechziger, und wie viele andere, die in dieser Zeit zumindest aus internationaler Solidarität Lada fuhren, hat auch er einen gewissen Wandel durchgemacht. Der mittlerweile recht erfolgreiche Schuh- und Möbelhändler muss das nicht als Bruch mit seinen Idealen sehen: Andere Alt-Achtundsechziger sind immerhin in der Rüstungsindustrie gelandet. Diesem Mann nimmt man rundweg ab, dass er irgendwo er selbst geblieben ist. Gerade wenn er in seinem Geschäft japanische Luxusbetten um mehr als 1.800 € das Stück verkauft, während er selbst eher bescheiden lebt. Verschiedene Fächer hat er studiert, dies alles dann aber vorzeitig beendet, als er den tollen Schuh aus Dänemark sah und dann unbedingt Schuhhändler werden wollte. Marktanalyse? „Die gehen praktisch von selber, weil allein in meinem Bekanntenkreis immer mehr darauf stehen“, dachte sich der Möchtegern-Unternehmer. Die Rechnung ging auf. Ohne jedes Bargeld bestellte Staudinger für 300.000 Schilling Schuhe. Zuhause angekommen, borgte er sich das Geld von Freunden zusammen. Ein geeignetes Geschäftslokal fand sich ebenfalls. Wie macht das einer, der erklärtermaßen der Arbeiterklasse zuzurechnen ist, nun aber mehrere GEA-Filialen und eine florierende Betten- und Matratzenmanufaktur unterhält sowie auch noch die Waldviertler Schuhwerkstatt leitet? Schließlich, so Staudinger, „bleibt die Verantwortung allein bei mir hängen. Auf das kommst du erst langsam drauf, in langen, schlaflosen Nächten.“

Derzeit knapp 20 Personen sind in der Waldviertler Schuhwerkstatt beschäftigt. Geschäftsführer Heini Staudinger K l a s s i s c h e F o r m e n s p r a c h e

Die Waldviertler Schuhe sind Gesundheitsschuhe im besten Sinne, aber freilich nicht die einzigen. Sie sind breit und bequem geschnitten, bieten aber genügend Halt. Das Oberleder ist mit der Zwischensohle durch eine stabile Naht verbunden; die Laufsohle wird aufgeklebt und lässt sich somit auch leicht erneuern. Ein Reparaturservice bringt abgetragene Schuhe wieder auf Vordermann. Durch den Wegfall des Rahmennähens können die Schuhe günstig produziert werden. Was aber zum Hauptcharakteristikum dieser Schuhe geworden ist: Sie haben alle keinen Absatz. Ihre Form orientiert sich am Fußabdruck, bei dem die Ferse den tiefsten Punkt ausmacht. Die tiefe Fersenstellung bietet überraschende Vorteile: Man steht aufrecht, die Wirbelsäule wird gestreckt, die Körperhaltung wird gesund. Diese Schuhe sind zwar gesund und bequem, verzichten aber nicht auf eine gewisse optische Ästhetik. Sie werden in zahlreichen Farben und Modellen hergestellt, sogar als Golfschuh und – in Vorbereitung – als elegante, breit geschnitte Derby-Variante. Haferlschuhe und unauffällige Modelle gehören ebenso zur Palette wie gefütterte Winterstiefel und Knöchelschuhe Modell Tramper. Ihnen allen ist eine recht breite Form gemeinsam, die allerdings nicht jedermanns Sache ist. ■

Waldviertler Schuhwerkstatt GmbH Niederschremser Straße 4 A-3943 Schrems Tel. 0043-2853/76503 www.gea.at

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