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Seelsorge in Alterszentren Zwischen Einsamkeit und Angst

Seelsorge in Alterszentren

Zwischen Einsamkeit und Angst

Die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie stellten die Altersheime auf eine harte Probe. Das Coronavirus forderte viel – auch im Hinblick auf die Einsamkeit der Bewohnenden. In diesen unsicheren Zeiten war Seelsorge nicht «abgesagt». Im Gegenteil, in den Seniorenheimen sind Seelsorger und Seelsorgerinnen «angesagter» als zuvor.

Liebe Zita Haselbach. Sie sind Seelsorgerin im Alterszentrum Rosental in Winterthur. In der akuten Corona-Phase im Frühjahr 2020 herrschte in Altersheimen Besuchsverbot. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Wie stark hat Sie die Situation dort belastet? Bei der Seelsorge ist menschliche Nähe sehr wichtig. Was hat Sie bewegt? Gab es in dieser schwierigen Zeit auch schöne Momente?

«Wie geht es meiner Zimmernachbarin? Sagen Sie ihr einen lieben Gruss von mir.» So wurde ich im Alterszentrum Rosental gegen Ende Jahr oft gefragt. Alle Bewohnenden waren über Wochen isoliert in ihren Zimmern, denn plötzlich waren die Hälfte der Seniorinnen und Senioren und viele Pflegende an Covid-19 erkrankt. Und es wurden noch mehr. Die Heimleitung und ihr Team setzten sich enorm ein, man half untereinander, es kam Hilfe von aussen. Zwischendurch brauchten auch wir gegenseitig Ermutigung: Leidende zu sehen und immer wieder Abschied nehmen zu müssen, tat weh. Belastend war auch die Sorge, Covid-19 aus dem Heim nach draussen zu schleppen. Ich kam noch nie so viel mit den Angestellten ins Gespräch.

Bereits Anfang 2020 waren laufend neue und verschärfte Schutzmassnahmen eingeführt worden. Mitte März wurden die Alterszentren komplett abgeriegelt. Die Freiwilligen und die Aktivitäten fehlten. Niemand durfte nach draussen gehen. Ab dem 16. März wurden alle Gottesdienste abgesagt. Im Mail der Heimleitung stand hingegen: «Wir sind sehr froh, wenn ihr eure seelsorgerische Tätigkeit weiter wahrnehmt (vielleicht sogar ausbaut, wenn es geht) und die Bewohnenden einzeln besucht. Für sie ist die Situation jetzt sehr unangenehm, langweilig und teilweise beängstigend.»

Die Bewohnenden waren sehr dankbar für jeden Besuch der Seelsorge. Oft hörte ich nur zu. Manche sprachen von ihren Sorgen und Ängsten, andere schauten dankbar oder nachdenklich auf ihr Leben zurück, sprachen ungelöste Knoten an. Nicht wenige sprachen vom Sterben. Wir hielten manche Klagen aus, und den Ärger über Meinungen von draussen, dass die Leute eh nicht mehr lange gelebt hätten. Immer wieder durfte ich auch mit Staunen erfahren, wie ruhig und gelassen viele sind – durchaus dankbar, dass sie schon so lange leben durften und sehr bewusst, dass irgendwann jedes von uns gehen wird. Da Besuche bei über hundert Bewohnenden Zeit in Anspruch nehmen, druckte ich

Abschied von 20 verstorbenen Bewohnern

Foto: Zita Haselbach

Flyer mit Grüssen, Impulsen und farbigen Fotos. Erst kürzlich zog eine Frau das Bündel aus ihrem Nachttisch und sagte, sie würde noch jeden Abend einen Impuls lesen. Zu Ostern konnte ich in jedes Zimmer einen kleinen Topf Osterglocken bringen und viel Dankbarkeit erfahren.

Zu Weihnachten war für viele die Isolation vorbei und sie durften zum ersten Mal wieder in den Speisesaal. Wir organisierten spontan eine Feier mit Lichtern, Krippe und Weihnachtsmusik. Aber es war hart, denn nun wurden die vielen Lücken erst sichtbar. So entstand der Wunsch, ruhig eine gemeinsame Abschiedsfeier zu gestalten. «Wir nehmen Abschied von Herrn E., von Frau O., von Frau T. … .» Zwanzig Namen, zwanzig Lichtlein. Es ging zu Herzen, zwanzig Mal tauchten ein bekanntes Gesicht und eine meist längere Geschichte vor uns auf. Nach der Feier sagte mir eine Bewohnerin: «Jetzt kann ich mich wieder dem Leben zuwenden.» Ich spürte noch nie so stark, wie sehr die Seelsorge in den Altersheimen geschätzt wird.

Liebe Helga Styger. Sie sind Seelsorgerin im Alterszentrum Neumarkt (AZN) in Winterthur. In der akuten Corona-Phase im Frühjahr 2020 herrschte in Altersheimen Besuchsverbot. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Wie stark hat Sie die Situation dort belastet? Bei der Seelsorge ist menschliche Nähe sehr wichtig. Was hat Sie bewegt?

Die Seelsorge zu Corona-Zeiten war geprägt von besonderen Herausforderungen: immer informiert sein über aktuelle Schutz- und Hygienemassnahmen, Hände desinfizieren, sich für jeden Einsatz umziehen, regelmässige Absprachen mit der Standortleitung, was Besuchsverbot und Schutzmassnahmen im Konkreten für die Seelsorge bedeuten. Nicht nur Gottesdienstfeiern, alle Gruppenaktivitäten waren nicht mehr möglich und wurden schmerzlich vermisst. Da, wo Liebgewordenes und Lebenswichtiges wegfallen, sind Ängste und Unsicherheit gegenwärtig.

Einzelseelsorge war noch möglich und mehr denn je gefragt! Das Tragen der Maske, trotzdem verstanden werden, Nähe aufbauen und nicht distanziert wirken, das war das grösste Problem. Ich war einfach froh, dass ich so wenigstens für die Bewohnenden da sein konnte. Durch die noch intensivere Zusammenarbeit mit der Pflege wurde ich als Seelsorgerin Teil eines grossen Ganzen. Seelsorge wurde so bunter und vielfältiger, ja noch lebensnaher. Das hiess aber auch einfach zuhören, trösten, ablenken, auffangen, Tränen trocknen, lachen, Gespräche führen, beten, ein Wort aus der Bibel vorlesen oder segnen. Besonders ergreifend und berührend war die menschliche Nähe beim Begleiten von Sterbenden und ihren Angehörigen, bei Trauerfeiern, trotz Schutz- und Hygienemassnahmen. Vor einer möglichen Ansteckung hatte ich trotz strenger Hygienevorschriften Respekt, aber nie Angst. Es war mir wichtig, da zu sein – da tritt dieAngst in den Hintergrund. Und die Menschen waren und sind dankbar. Ich war selten so gefragt in meiner Aufgabe als Seelsorgerin.

Ich blicke auf eine intensive, strenge aber auch bereichernde Zeit zurück. Es berührte mich immer wieder aufs Neue, wie das ganze Team im AZN die betagten Menschen in dieser anspruchsvollen und schwierigen Zeit liebevoll betreute. Ich bin nach wie vor gerne ein Teil dieses Teams, bei dem das Wohl und die Würde der Bewohnenden im Mittelpunkt stehen.

Foto: Helga Styger

Es kam in Altersheimen zu vielen tragischen Schicksalen, Menschen starben ohne Begleitung, Familien durften nicht bei ihren Angehörigen sein. Gab es auch schöne Momente?

Die Einschränkung der Kontakte zu den Angehörigen nahm vielen Bewohnenden das, was ihnen in ihrem Leben noch am meisten Freude machte. Traurigkeit und Depression griffen immer mehr um sich! Gerade da wuchsen Leitung, Pflegekräfte, ja alleAngestellten über sich hinaus. Wir investierten alles, um den betagten Menschen in einer einsamen Zeit Sicherheit, Liebe und Geborgenheit zu geben. Jeder versuchte an seinem Ort Tränen zu trocknen, Trost und Freude in den oft einsamen Alltag im Alters- zentrum zu bringen. Trotz der konsequenten Umsetzung der strengen Regeln, der Quarantäne und Isolation, stand immer die Menschenwürde im Mittelpunkt. So war es möglich, dass immer auch ein frohes Lachen zu hören war. Die Bewohnenden rückten näher zusammen (trotz Distanz!), machten sich gegenseitig Mut: «Wir haben viel erlebt und geschafft im Leben, das packen wir auch noch», hörte ich nicht nur einmal. Ich habe oft Menschen erlebt, die ohne zu klagen die Einsamkeit der Quarantäne ertrugen. «Der Herrgott war ein ganzes Leben an meiner Seite, er ist auch jetzt da und lässt mich nicht allein.» Ein so starkes Gottvertrauen berührte mich tief!

Was früher selbstverständlich war, wurde wieder neu geschätzt und dankbar angenommen. Dieses neue Bewusstsein erlebe ich immer noch: dankbar sein für Kleinigkeiten, für das, was wieder möglich ist, anstatt über das zu schimpfen, was im Moment nicht geht. Durch das gemeinsame Durchstehen dieser Grenzsituation, das Aushalten der Ohnmacht, ist ein neues Gemeinschaftsgefühl im Alterszentrum Neumarkt entstanden. Trotzdem sind alle froh, wenn wieder normale Zeiten anbrechen!

Lieber Salu Mathew. Sie sind als Vikar der Pfarrei St. Peter und Paul auch in Alters- zentren tätig. In der akuten Corona-Phase im Frühjahr 2020 herrschte in Altersheimen Besuchsverbot. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich halte Gottesdienste in den Alterszentren Wiesengrund und Brühlgut. Beide Institutionen hatten ein Besuchsverbot. Daher bin ich nicht auf Besuch gegangen. Es war eine schwierige Zeit. Da ich im Pfarrhaus mit anderen Priestern wohne, war es mir ein Anliegen, niemanden im Haus mit Corona anzustecken. Im Altersheim trage ich immer eine Maske, reinige meine Hände und halte ausreichend Abstand. Die Hygienevorschriften waren für mich ungewohnt und auch befremdend. Besonders der Kontakt

zu den Bewohnenden hat mir gefehlt. Sehr belastend war und ist die Tatsache, dass wir uns nicht mehr die Hände reichen können. Die menschliche Nähe fehlt uns immer noch. Ich habe versucht, mit den Bewohnenden über Telefon Kontakt aufzunehmen und oft gemerkt, dass die Stimmung gedrückt war. Es hat mich sehr gefreut, dass wir den betagten Menschen die Gottesdienste aus St. Peter und Paul per Video über den Beamer zur Verfügung stellen konnten. So war es den Bewohnenden möglich, wenigstens ein kleines Stück Pfarrei-Alltag zu spüren.

Liebe Claudia Gabriel. Sie sind Seelsorgerin im Alterszentrum Oberwinterthur. In der akuten Corona-Phase im Frühjahr 2020 herrschte in Altersheimen Besuchsverbot. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Wie stark hat Sie die Situation dort belastet? Bei der Seelsorge ist menschliche Nähe sehr wichtig. Was hat Sie bewegt? Gab es in dieser schwierigen Zeit auch schöne Momente?

Die Altersheimseelsorge war und ist trotz Pandemie nie abgesagt, eher angesagter als früher. Im ersten Lockdown habe ich mit den Bewohnenden einen engen Kontakt aufgebaut: Besuche, Spaziergänge im Park und kleine Andachten auf den Wohngruppen waren sehr erwünscht. Die Kleider- und Hygienevorschriften sowie die konsequente Handdesinfektion sind kein Problem für mich. Die Maskenpflicht erschwert jedoch die Kommunikation und der fehlende Händedruck, die fehlende Nähe, waren einschneidend. Erst dadurch ist mir bewusst geworden, dass Streicheln, eine Hand halten, ein Kreuz auf die Stirn zeichnen, zu wichtigen Kommunikationsmitteln der Seelsorge geworden sind.

In der ersten Phase der Pandemie konnte ich mich frei im Haus bewegen, da wir keinen Covid-19-Fall hatten. Dieses Privileg habe ich nicht wirklich geschätzt, sondern als selbstverständlich angeschaut. Allerdings war die Zeit für mich psychisch sehr belastend, da ich grosse Angst hatte, das Virus ins Haus zu tragen. Dies besonders, weil ich auch noch im Spital arbeite. Daher schotte ich mich privat sehr ab, sehe meine Familie selten und bewege mich ungern an öffentlichen Orten. Zum Glück hat mein Ehemann grosses Verständnis dafür. Aktuell ist die Situation anders. Da wir Covid-19 betroffene Bewohnende und Pflegende hatten, durfte ich nicht mehr alle Wohngruppen besuchen. Tritt ein Fall auf, ist die Wohngruppe für mich lange Zeit nicht mehr erreichbar. Ich habe darum begonnen, Karten zu schreiben und zu telefonieren. Dies ist leider kein ausreichender Ersatz für den physischen Besuch. Dadurch habe ich oft das Gefühl, die Bewohnenden im Stich zu lassen. Wenn ich die Meldung über einen Todesfall bekomme, ohne dass ich diese Person begleiten konnte, tut das weh. Generell gesehen ist die zweite Phase der Pandemie für mich schwieriger auszuhalten: Ich darf nur «gesunde» Wohngruppen besuchen, Andachten sind eingeschränkt und mit maximal vier Bewohnenden möglich. Ich bin angehalten, ausschliesslich Einzelgespräche durchzuführen. Dies ist schwierig, denn die Bewohnenden sitzen oft gemeinsam im Stübli. Aber Gruppengespräche sind nicht erlaubt, um allfällige Ansteckungsketten besser nachvollziehen zu können. So führe ich Buch über meine Besuche.

Die Bewohnenden sehen kein Ende der belastenden Situation und haben teilweise grosse Mühe, die Einschränkungen zu akzeptieren. Ich spüre die Freude, wenn ich nach langer erzwungener Abwesenheit endlich wieder alle besuchen darf. Meine Karten und Telefonate während der Isolation werden geschätzt, bestehende Beziehungen dadurch enger. Insgesamt ist die Arbeit im Alterszentrum trotz allem sehr bereichernd!

Besondere Gottesdienste im Altersheim St. Urban

Das Altersheim St. Urban, halbrund gebaut, bildet mit der katholischen Kirche St. Urban eine Art Innenhof. Es kam die Idee auf, in den Sommermonaten Gottesdienste im Altersheim-Hof anzubieten. Von Juni bis Oktober fand alle zwei Wochen eine ökumenische Feier statt. Die Glocken der Kirche St. Urban läuteten zum Hof-Gottesdienst. Die Liturginnen und Liturgen, Sänger/-innen und Musizierende standen im Hof und schauten zu den Bewohnenden auf den Balkonen des Altersheims. Eine frohe, besinnliche Atmosphäre trug uns durch die Feiern. Es nahmen auf dem öffentlich zugänglichen Hof auch Leute teil, die nicht im Altersheim leben. Von allen Seiten gab es viele positive Rückmeldungen. Und der Wunsch, an den ökumenischen Hof-Feiern auch im nächsten Jahr teilhaben zu dürfen.

Was geschah in den Wintermonaten? Wegen der Corona-Massnahmen war eine gemeinsame Feier im Kirchenraum nicht möglich. Balkon-Gottesdienste konnten wegen Nässe und Kälte nicht stattfinden. Sollte auf die besinnlichen Feiern wirklich verzichtet werden? Bei der Idee, die Gottesdienste auf den vier Etagen des Altersheimes zu feiern, kam uns die Altersheim-Leitung sowie das Personal sehr entgegen. Herzlichen Dank! Jeden Freitag waren die Seniorinnen und Senioren zu einer 30-minütigen Feier mit Musik, Gebet, Bibel-Lesung und Kurz-Predigt eingeladen – alternierend katholisch oder reformiert. Eine feierliche, menschlich-nahe Stimmung stellte sich ein!

In «normalen» Jahren findet eine Weihnachtsfeier für alle Bewohnenden des Altersheimes St. Urban statt. Ein festlicher Anlass mit Weihnachtsgeschichten, Violin-Quartett und einem Festessen. Und im Corona-Jahr? Gerade in schwierigen Zeiten sind gemeinsame Feiern wichtig: Halt gebend, aus der Einsamkeit holend, Perspektiven öffnend. Die letztjährigen Weihnachtsfeiern wollten genau dies vermitteln. So fand im Altersheim pro Etage eine Weihnachtsfeier statt. Da nicht gesungen werden durfte, wurden Weihnachtslieder vorgespielt. Beim Hören dieser Lieder gab es Tränen: nicht mit Familien-Mitgliedern singen zu können, machte traurig und das Gefühl von Isoliert-Sein wurde bewusster. Dagegen half unter anderem ein geschenkter Strohstern, der bei vielen ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

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