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Spitalseelsorge: Der Mensch ist mehr als seine Krankheit
Spitalseelsorge
Der Mensch ist mehr als seine Krankheit
Der erste «Lockdown» im März 2020 bedeutete für die Patientinnen und Patienten im Spital: kein Besuch von Angehörigen, Freunden und Bekannten. Wer gar mit einer Covid-19-Ansteckung kämpfte, sah nur noch andere Menschen in Vollkörper-Schutzbekleidung. Allein blieben die Patientinnen und Patienten wie auch das Spitalpersonal mit ihren Ängsten vor dieser Krankheit und ihrer Unsicherheit im Umgang damit aber nicht: Die Spitalseelsorgenden waren für sie rund um die Uhr da. Die Spitalleitung hatte die Seelsorgenden gleich zu Beginn der Pandemie als systemrelevant eingestuft.
«Plötzlich sassen wir alle im selben Boot», erinnert sich die Seelsorgerin Veronika Jehle. Als die Corona-Stationen im KSW eingerichtet, die Schutzmassnahmen eingeführt und das Besuchsverbot ausgesprochen wurde, sei dem gesamten Spitalpersonal von der Reinigungskraft bis zur Chefärztin bewusst geworden: «Es kann jederzeit auch mich treffen.» Diese «Wiederentdeckung der eigenen Verletzlichkeit» hätten sie zu Beginn der Pandemie auch im Team der Seelsorge sorgfältig diskutieren müssen, sagt Michael Eismann, Co-Leiter der Spitalseelsorge. Sie mussten das korrekte An- und Ausziehen der Schutzbekleidung üben und besprechen, wie sie auf der Covid- Station vorgehen.
Sorgendeponie für die Angestellten
Da die Seelsorgenden über einen Pikettdienst verfügen und Erfahrungen mit Notsituationen haben, wurden sie gebeten, zusammen mit Ärzten, Psychologen und Pflegenden eine telefonische 24-Stunden-Helpline für die Spitalangestellten zu organisieren. Zu Beginn der Pandemie sei beim Personal, vor allem in den nicht medizinisch erfahrenen Bereichen wie zum Beispiel der Reinigung oder der Logistik, die Angst vor einer möglichen Ansteckung und die Unsicherheit im Umgang mit den Patienten das vorherrschende Thema gewesen.
In der zweiten «Corona-Welle», die Ende Jahr das Spital im wieder hochgefahrenen Normalbetrieb traf, war der Umgang mit der Pandemie zwar eingespielt. Doch innerhalb des Spitals mussten einige Stationen mit ihrer ganzen Infrastruktur umziehen, um Platz zu machen für Covid-Stationen. Gleichzeitig fiel eine beachtliche Zahl an Mitarbeitenden jeweils für einige Tage aus, weil sie sich in Quarantäne oder Isolation begeben mussten. Obwohl die Solidarität untereinander enorm stark gewesen sei, hätten die Spitalangestellten alle physischen und psychischen Kräfte mobilisieren müssen, um die tägliche Arbeit stemmen zu können. Gleichzeitig waren die Wahrnehmung und die Anerkennung in der Öffentlichkeit abgeflacht. «Die zweite Welle war ein Marathon fürs Spitalpersonal», sagt Michael Eismann. In der seelsorgerischen Betreuung wurden Erschöpfung und Motivation zu zentralen Themen.
Den erhöhten Gesprächsbedarf bei den Angestellten führt Eismann nicht nur auf die verunsichernde Virus-Situation im Arbeitsumfeld zurück, sondern auch darauf, dass die Mitarbeitenden nach Ende ihrer Arbeitsschicht nicht wie gewohnt im familiären oder befreundeten Umfeld, im Verein oder an kulturellen Veranstaltungen abschalten konnten. Denn ausserhalb des Arbeitsplatzes herrschte ja auch eine Ausnahmesituation: Kinder zu Hause im Fernunterricht, Angehörige, die zur Risikogruppe zählen und Restaurants, Fitnesscenter und kulturelle Einrichtungen geschlossen.
Besuchende sind eine Brücke zur Normalität
Auch bei den Patientinnen und Patienten stand Corona im Fokus, aber im Verlauf der seelsorgerischen Gespräche seien die allgemeinen Lebensthemen – die Ängste, Sehnsüchte, Beziehungen, Bedürfnisse oder die verpasst geglaubten Chancen und Gelegenheiten – wie eh und je in den Mittelpunkt gerückt, sagt Seelsorger Severin Oesch. Corona habe die Gespräche aber auch anspruchsvoller, dichter, komplexer gemacht, ergänzt Teamkollegin Rosmarie Wiesli. «Denn aus dem Bewusstwerden heraus, wie fragil das eigene Leben ist, resultieren Ängste und man stellt sich Fragen.»
Dadurch, dass in der ersten Welle gar keine und seither nur sehr eingeschränkt Besucher kommen dürfen, ergäben sich oft lange, ungestörte, intensive Gespräche mit den Patientinnen und Patienten, konstatiert Veronika Jehle. Besuchende sind wichtig für die Kranken; sie sind wie eine Brücke zur Normalität, erklärt Rosmarie Wiesli. Wenn keine Aussenstehenden mehr zugelassen werden, «bekommen unsere Gespräche mit den Patienten eine höhere Brisanz».
Den Fokus legen die Seelsorgenden in ihren Gesprächen nicht auf die Krankheit des Patienten, sondern auf umfassendere, gesamtheitlichere Themen, betont Severin Oesch. «Der Mensch ist mehr als seine Krankheit. Es gibt ein Heil fernab der medizinischen Gesundheit. Das ist uns wichtig in Erinnerung zu rufen.» Rosmarie Wiesli doppelt nach: «Es geht uns um ein erfülltes Leben, egal ob es für den Patienten fünf vor zwölf ist oder vier Uhr.» Kürzlich habe sie einen Palliativpatienten nach einem Sehnsuchtswunsch gefragt und er sagte, er wolle in ein sonniges Nachbarland verreisen. Als ihm im weiteren Gespräch bewusst geworden sei, dass ihn nicht nur die coronabedingten Grenzübertrittseinschränkungen sondern auch seine gesundheitliche Situation daran hindern könnten, habe er gesagt: «Oder ich kaufe ein Bänkli und stelle es in die Abendsonne.» Auch in der terminalen Phase gehe es ums Leben, um ein erfülltes Leben, um einen Platz an der Sonne, auch wenn es Plan B ist, erklärt die Seelsorgerin.
Mit einer neuen Trauersituation konfrontiert
«Wir werden in unserer Arbeit regelmässig auch mit Abschiednehmen vom irdischen Leben konfrontiert», sagt Michael Eismann, aber die Corona-Situation habe die Seelsorgenden in eine neue Rolle beim Trauerritual katapultiert. «Unsere Rolle ist es normalerweise, als eine Art Zeugen, als Vertreter des Glaubens die heilige Situation des Sterbens, diese Realität, auf eine andere Ebene zu heben.» Doch als die Angehörigen plötzlich nicht mehr zur Intensivstation zugelassen wurden, waren die Seelsorgenden auch stellvertretend für die Angehörigen beim sterbenden Menschen. Diese Doppelrolle habe sie zu Beginn der Pandemie, vor allem bei jüngeren Sterbenden, manchmal an die eigenen Belastungsgrenzen gebracht.
Menschen sind anpassungsfähig
Nach einem Jahr im Umgang mit dem Virus sei eine gewisse Normalität im Spital eingekehrt, sagt Severin Oesch. Die Angestellten vermittelten ein Gefühl der Zuversicht, dass sie die Krise «managen» können, und die vor einem Jahr noch gewöhnungsbedürftigen Verhaltensregeln betreffend Schutzmassnahmen haben sich bei allen eingespielt. «Ich bin positiv überrascht, wie anpassungs- und widerstandsfähig die Menschen geworden sind.»
Spitalseelsorge im KSW
«Wir sind für alle Menschen da, die leiden, egal welcher Konfession sie angehören und ob überhaupt», betont Diakon Michael Eismann. Das Team der Spitalseelsorge setzt sich aus katholischen und reformierten Theologinnen und Pfarrpersonen zusammen. Sie verstehen ihre Rolle als «barmherzige Samariter» und bieten Patientinnen, Patienten, Angehörigen und Spitalmitarbeitenden Gespräche an. «Wir bringen Zeit mit», erklärt Pfarrer Severin Oesch. Zeit, um in einem geschützten Rahmen über belastende Gedanken, Gefühle, Ängste, Sorgen oder auch Hoffnungen zu sprechen, Trost zu finden und Kraft zu schöpfen. Die Seelsorgenden führen auch Rituale aus und halten sonntags Gottesdienste ab, die per Video aufgezeichnet auf den Bildschirmen in den Krankenzimmern angeschaut werden können.
Auf Wunsch vermitteln die Seelsorgenden auch Kontakte zu anderen Glaubensgemeinschaften. Das Angebot der Spitalseelsorge ist für Aufsuchende kostenlos und kann dank Kirchensteuerbeiträgen aufrechterhalten werden. Podcasts für sinnvolles Warten
«Von der Kunst des Nichtstuns», «Der Apfel der Unsterblichkeit», «Halt dich nicht am Bootsrand fest» – So lautet eine Auswahl an Titeln von Podcasts (Höraufnahmen), die auf der Webseite der KSW-Spitalseelsorge angehört werden können. Spitalseelsorgende, Mitarbeitende des KSW und Jugendliche, die die Klinikschule besuchen, erzählen Geschichten oder berichten, was sie im Alltag erleben und was sie bewegt. Geplant waren die Podcasts, um künftig vor allem ambulanten Patientinnen und Patienten während einer Dialyse, einer Chemotherapieeinheit oder dem Ausruhen vor dem Nachhausegehen sinnvolle, in sich abgeschlossene Gedanken über dies und das mitzugeben. Wegen des coronabedingten Besuchsverbots hat das Team der Seelsorge das Projekt dann frühzeitiger realisiert.
Text: Regina Speiser | Foto: Kantonsspital Winterthur KSW