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«Abgesagt? Angesagt!» als heilsame Herausforderung für den Glauben

«Abgesagt? Angesagt!»

als heilsame Herausforderung für den Glauben

Im Jahr 2020 sind viele gemeinsame Feiern in den Kirchen, besonders die höchsten Feste unseres Jahreskreises, weitgehend abgesagt oder massiv reduziert worden. Umso wichtiger ist es, sich zu fragen, was uns trotzdem persönlich tragen kann und darum angesagt bleiben muss. Auf der Suche nach solchen Ressourcen entdecken wir – mitten in allen Beschränkungen, die unsere gegenwärtigen Lebensbedingungen kennzeichnen – vielleicht sogar überraschend positive Seiten und eine unerwartet neue Nähe zur christlichen Glaubensbotschaft.

Wie ein Refrain hat uns das Leitmotiv «Abgesagt? Angesagt!» durch die lange Zeit der Pandemie begleitet. Erst mussten wir – als spürbarste Massnahme für uns als Glaubensgemeinschaft – ab Mitte März bis kurz vor Pfingsten damit leben lernen, dass überhaupt kein öffentlicher Gottesdienst in unseren Kirchen stattfinden durfte – auch keine Karwoche, kein Osterfest, keine Erstkommunion, keine Firmung, keine Taufen und Hochzeiten. Eine zuvor unvorstellbare Katastrophe! Einfach alles «abgesagt». Später sind unsere liturgischen Versammlungen zumindest stark limitiert worden. Doch auch das ganze Pfarreileben mit all seinen Aktivitäten, die normalerweise unterschiedliche Menschen zusammenführen, steht seither unter dem grossen Vorzeichen «abgesagt» oder wird allenfalls ins Digitale verschoben.

Tiefes Empfinden der Zusammengehörigkeit

In dieser lähmenden Situation ist die trotzige, sehr ernsthafte Frage berechtigt und menschlich dringend nötig: Was lassen wir uns nicht nehmen – selbst angesichts der an sich vernünftigen Weisung, viel Liebgewonnenes abzusagen? Was bleibt auch zu diesen aussergewöhnlichen Bedingungen unbedingt «angesagt»? Hier drei grundlegend positive Impulse dazu: Wir sollten erstens unter allen Umständen ein tiefes Empfinden der Zusammengehörigkeit lebendig erhalten. Dazu ist derzeit eine gewisse kreative Fantasie angesagt, da die gewohnten Treffen und Zusammenkünfte in der üblichen Form «abgesagt» sind. Wie bringen wir das Verbunden-Sein trotzdem zum Ausdruck? Bekanntlich hat Telefonieren einen hohen Stellenwert gewonnen, alle Online-Medien natürlich ebenfalls – aber auch ganz klassisch: Briefe schreiben, sich originelle Zeichen senden, sich kleine persönliche Geschenke oder andere sympathische Überraschungen ausdenken. Der spezifisch christliche Impuls dazu ermuntert uns zusätzlich, möglichst Menschen nicht aus unserem Beziehungsnetz fallen zu lassen, die «draussen» sind, die nicht sowieso zu unseren Kreisen der gegenseitigen Kontaktaufnahme gehören. Biblisch gesagt: Wir sollen darauf achten, auch die «Zöllner und Sünder» einzubeziehen. Vielleicht erweitern wir in diesem Sinn bewusst unser persönliches Telefonverzeichnis.

Quellen der Freude

Jede und jeder von uns kennt zweitens trotz den gegenwärtig geltenden Restriktionen persönliche Quellen der Freude – oder entdeckt sie umso mehr! Klar: Manche Wege, uns Glück und Freude zu erschliessen, sind derzeit abgesagt. Nun können wir uns «defizitorientiert» darauf fixieren, was aktuell unerreichbar geworden ist, zum Beispiel ein passionierter Kinofan kann momentan diesem Hobby nicht frönen. Auch wer gern reist, ist seit Monaten in seinem Drang eingeschränkt. Deswegen braucht man nicht unbedingt unglücklich zu sein. Es tut uns allen gut, auf das zu schauen und bewusst das wahrzunehmen, was innerhalb der coronabedingten Begrenzungen an Handlungsspielraum «angesagt» ist, und diesen zu nutzen. «Ressourcenorientiert» heisst solches Vorgehen. Was tut uns jetzt – vielleicht gerade «trotzdem» – gut?

Wir haben im Advent in der Kirche St. Peter und Paul die Frage «Was zaubert uns ein Lächeln ins Gesicht?» auf einem Plakat gestellt, und zwar über einer leer stehenden Krippe, in der ein Spiegel angebracht war und Smileys zum Beschriften bereitlagen. Ein paar Dutzend Antworten sind eingegangen. Vielleicht regen uns diese Ideen bei der Suche nach Quellen der Freude an:

» »Was zaubert uns ein Lächeln ins Gesicht?

 Begegnung mit einem lieben Menschen.  Es Witzli in der Zeitung.  Ein spielendes Kind, ein verliebtes Paar – beides finde ich wunderbar.  Zwei alte Menschen, die Hand in Hand unterwegs sind.  Grossen Frust gehabt, bei Jesaja gelesen, dass mich Gott an meiner rechten Hand nimmt und mir hilft –tatsächlich durfte ich das noch heute erfahren.  Ein Tier im Wald.  Musik – Sonne auf dem Gesicht.  Die Freundlichkeit der Nachbarn.  Jeden Morgen, wenn ich noch halb verschlafen in den

Spiegel schaue, lächle ich mir zu zum Beginn des Tages; ich will dankbar sein für das, was ich habe – es gibt so viele Menschen, denen es viel schlechter geht.  Frieden.  Wenn mein Mann und meine Kinder frech und fröhlich sind.  Das Meer.  Wenn ich spiele.  Wenn ich singe.  Wenn ich ein Geschenk bekomme.  Wenn ich in die Kirche gehe.  Netflix und Pizza.  Gutes Essen mit Freunden.  Pilze sammeln.  Das mache ich: Ich lächle alle an, was die Menschen schätzen. «In den Ketten tanzen lernen» lautete das Leitwort eines Treffens, das vor Jahren stattfand. Genau darum geht es auch heutzutage! Etwas davon klingt an, wenn Angehörige eines schwer kranken Verwandten erzählen, dass dessen Lebensqualität auf ein absolutes Minimum gesunken war, er aber doch noch gern und ausgiebig Mozart hörte – zum Glück wenigstens dies! Wer der Verheissung des Evangeliums folgt, wird sogar darauf vertrauen, dass wir es auch wagen dürfen, traurig zu sein, wenn es echten Grund dazu gibt. Vielleicht erfahren wir so heilsam, dass Weinen in Lachen, Trauer in Freude gewandelt werden kann.

Ein offenes, weites Herz

Bewahren wir uns drittens ein offenes, weites Herz, das grenzenlos mitfühlen kann. Physische Nähe ist ja gerade abgesagt und räumliche Distanz angesagt. Aber wir haben in uns ein Vermögen, das solche Trennungen überwinden kann: die Empathie, die ein Gespür auch für entfernte Schicksale entwickelt und so aller Abgeschlossenheit –dem inneren Lockdown – wehrt. Gegen den weitverbreiteten Trend zur Globalisierung der Gleichgültigkeit können wir Menschen uns ohne Schranken und Barrieren berühren und bewegen lassen. Diese Gabe der universalen Geschwisterlichkeit ist mehr denn je angesichts von weltweitem Unrecht und Elend Not-wendend. Erzählt uns nicht Jesus das ermutigende Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einen verletzten Fremden am Strassenrand sieht, «Mitleid» mit ihm hat und Nächsten-liebend handelt? Medial sind wir zu einem globalen «Dorf» geworden – die ganze Welt geht uns an. Wer sich echt betreffen lässt, wird in wachsendem Mass mitempfindender Teil der einen Menschheitsfamilie, wie sie vom Schöpfungsgeheimnis her gewollt und angesagt ist.

Die Pandemie hat uns alle auf eine Art ärmer gemacht. Wir erfahren nun ständig, dass wir nicht mehr einfach «Herr» über unser eigenes Leben sind, wie wir das in gesunden Tagen als selbstverständlich angenommen haben. Unser Dasein empfinden wir häufig beängstigend als unberechenbar. Unserem normalerweise selbstbestimmten Handeln sind neu massiv Grenzen gesetzt. Wir sind in einem bislang ganz ungewohnten Mass Abhängige und Angewiesene geworden. Doch entspricht dieses veränderte Lebensgefühl zu Corona-Zeiten nicht realistischer der wahren «Condition humaine», und wird durch die anhaltende Krisensituation nicht manche Selbsttäuschung von vermeintlich grenzenloser Autonomie und Verfügbarkeit unserem Schicksal gegenüber zu Recht als Illusion entlarvt?

Vielleicht führt uns die gegenwärtige Notlage in die Richtung auf ein echteres und solidarischeres Mensch-Sein hin. «Abgesagt» wäre dann also der nur selbstbezogene, rücksichtslose Ego-Typ und «angesagt» der Mit-Mensch, der seine Verletzbarkeit als Weg zu geschwisterlicher Gemeinschaft und tiefer Verbundenheit erlebt. Möglicherweise hören wir so die Stimme Jesu mit neuen Ohren, wenn er uns ermutigt: «Selig, ihr Armen!»

Hugo Gehring, Pfarrer Pfarrei St. Peter und Paul

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