Armin Guerino: „Es gibt keinen Blick nach vorne, der nicht auch ein Blick zurück und in sich selbst ist.“ Die Drau, wie niemand sie kennt, obwohl sie so ist: Seitlich gewinkelt und vervielfacht mit Hilfe von zehn verspiegelten Stellwänden. Foto: Armin Guerino
Abgesehen davon, dass es die Welt nicht gibt Am 8. Mai beginnt in St. Jakob das „ontologische“ Festival „horizontal 20“.
Die Lust am Wissen ist in Kärnten heimisch. Vom Klagenfurter Unternehmer, der sich auf einen Briefwechsel mit Immanuel Kant einließ, bis zum großen Praxeologen Peter Heintel, der die Alpen-AdriaUniversität zu einer Hauptadresse der Interventionsforschung machte. Nur logisch, dass im Jahr 100 der modernen Landes-Identität ein „ontologisches“ Kulturfestival dazukommt. D. h. eine Veranstaltungsreihe, bei der ein Bild, das an der Wand hängt, vielleicht ein Liegestuhl ist. Es geht laut Untertitel um das Entdecken neuer Perspektiven. Denn, wie es ParadeDenker Markus Gabriel ausdrücken würde: „Erst, wenn man absieht davon, dass es die Welt an sich gar nicht gibt, können unsere sonstigen Wahrnehmungen allenfalls als richtig behauptet werden.“ Aber der Reihe nach. 2017 gründete der heimische Architekt Reinhard Hohenwarter mit einigen weiteren philosophisch Interessierten den Verein „Schule der Wahrnehmung“. Schon über den Begriff „Wahrnehmung“ lässt sich grübeln, hinzu kam in diesem Fall die Absicht, einen für Architekten reizvollen Neuansatz des Raumdenkens einzubeziehen: Galt der Raum lange als eine Art leerer Container der Wirklichkeit, so wuchsen ab 1960 speziell in Frankreich Zweifel an der Definierbarkeit einer solchen Hülle. Sind die Räume, die unsere Sinne notieren, nicht durchwegs durch ihre Inhalte charakterisiert bzw. sozial spezifisch geprägt?
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DIE BRÜCKE Nr. 17 | Brückengeneration 5
Es kann in einem Garten von kaum 50 mal 100 Metern ein Weg angelegt sein, für dessen barfüßige Bewältigung man 45 Minuten braucht. Ein nachdenklicher Ort, den Johann Köllich in acht Spiralen in Kirschentheuer angelegt hat. Rechts der rotblühende Buchweizen der slowenischsprachigen, links der weißblühende der deutschsprachigen Regionen. Auf den Grasflächen dazwischen, damit man am 28. August wie durch Musik geht, Wolfgang Puschnig und das Koehne Quartett. Das ist einer der sieben Programmpunkte, die der Verein „Schule der Wahrnehmung“ zum Veranstaltungsschwerpunkt CARINTHIja 2020 erfolgreich eingereicht hat. Der Blick der Kunst. Die Kunst bildet – von der Wahrnehmung aus gedacht – eine Schicht der Landschaft, wie die Landschaft eine Schicht der Kunst bildet. Was war die Schicht null? Mit Veranschaulichungen zu solchen Fragen beginnt das Festival am 8. Mai im weltentrückten Kirchlein St. Gertrud bei Sankt Jakob im Rosental. Malerische Sinnes-Irritationen im Wald. Bei den erhaltenen gotischen Lineamenten kann man, Jahrhundertschichten weiter, an eine Anekdote um den kürzlich 91-jährig verstorbenen Wernberger Architekten Felix Orsini-Rosenberg denken: Von einem Behördenvertreter nach Detailplänen gefragt, soll er gesagt haben: „Da müssen Sie den Putz abschlagen!“
Das Festival läuft hin und her, der Drau entlang durchs Rosental. Karl Brandstätter will mit dem Schauspieler Friedrich Truppe Abschiedsriten von Beerdigung und Verbrennung anhand von Holzidolen versinnlichen (20. Juni). Höhepunkte verheißen auch zwei Abende, an denen die beiden Landessprachen ganz ineinander münden: Ein Poetry-Slam u. a. mit Carmen Kassekert (3. Juli) und die Präsentation von Fabjan Hafners bei Suhrkamp erscheinenden „Ersten und letzten Gedichten“ als von seiner Witwe und seinem Bruder konzipiertes LeseEvent in Suetschach (2. August). Und, um wenigstens noch ein Ereignis zu nennen: Ab 17. Juli (19 Uhr) spiegelt Armin Guerino bei der Pumpstation Ferlacher Stausee in 20 Spiegeln die spiegelglatte Drau. Julian Feritsch und Julia Hohenwarter bereiten zu allen Terminen kulinarische Kreationen, die optisch, geschmacklich und geruchsmäßig den Veranstaltungsorten entsprechen: Es wäre ja ein Irrtum, zu glauben, dass Sinnesmenschen nicht philosophisch sind. www.carinthija2020.at ● Michael Cerha * 1953 in Vorarlberg, lebt seit 2010 in Damtschach, Autor, Dramaturg und Kulturjournalist. Kärntner Kulturkorrespondent der Tageszeitung „Der Standard“.
festival.auftakt Matthias Peyker, Phillip Hohenwarter: „layer null“ | 8. Mai, 19:30 Uhr, Kirche St. Gertrud zu Srajach, Sankt Jakob i. R. www.carinthija2020.at