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Best Practice
Bewegungsförderung bei körperlich inaktiven Erwachsenen*
Seit 2010 gibt es in Österreich Bewegungsempfehlungen für unterschiedliche Zielgruppen. Diese stellen eine Orientierungsgrundlage dar und zeigen auf, wie durch ein angemessenes Bewegungsverhalten die Gesundheit gefördert werden kann. Erwachsenen Personen werden mindestens 150 Minuten pro Woche ausdauerorientierte Bewegung mit mittlerer Intensität oder mindestens 75 Minuten ausdauerorientierte Bewegung mit höherer Intensität angeraten, zusätzlich zu muskelkräftigenden Übungen an mindestens zwei Tagen pro Woche. Die letzten beiden österreichischen Gesundheitsbefragungen (ATHIS 2014 & 2019) ergaben jedoch, dass mehr als 75 % der Erwachsenen diesen Empfehlungen nicht nachkommen. Vor diesem Hintergrund besteht eine dringende Notwendigkeit, bewegungsfördernde Maßnahmen umzusetzen, damit dieser Problematik effektiv entgegengewirkt werden kann.
GASTAUTOR:INNEN-TEAM:
© Peter Holler
Dr.in Eva Adamer-König
Leiterin des Instituts Gesundheits- und Tourismusmanagement, Fachhochschule JOANNEUM, Bad Gleichenberg
Peter Holler, BEd, BSc, MA, MSc
Institut f. Gesundheits- und Tourismusmanagement, Fachhochschule JOANNEUM, Bad Gleichenberg
Herausforderungen in der Praxis
Maßnahmen der Bewegungsförderung können auf zwei Ebenen ergriffen werden, der Verhältnis- und der Verhaltensebene. Während Maßnahmen der Verhältnisebene eine bewegungsfördernde Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen beinhalten, zielen Maßnahmen der Verhaltensebene auf die Förderung des individuellen Bewegungsverhaltens ab. Die erfolgreiche Umsetzung hängt von vielen Faktoren ab und ist stets mit Herausforderungen verbunden. Insbesondere auf der Verhaltensebene sind Bewegungsförderinnen und -förderer bei der Konzeptionierung und Implementierung von Maßnahmen mit zwei Grundsatzfragen konfrontiert: • Durch welche Maßnahmen kann das
Bewegungsverhalten körperlich inaktiver Personen langfristig, also nachhaltig, geändert werden? • Wie gelingt es, dass körperlich inaktive
Personen solche Maßnahmen tatsächlich setzen?
Lebenslange Verhaltensänderung
Um das körperliche Bewegungsverhalten von Personen positiv und nachhaltig zu beeinflussen, müssen Interventionsansätze wesentliche evidenz- und theoriebasierte Einflussfaktoren (Determinanten) des Bewegungsverhaltens einer Person berücksichtigen sowie körperliche Bewegung als etwas Ganzheitliches auffassen. Genau hier setzt das auf internationaler Ebene weit verbreitete Konzept der „Physical Literacy“ an. Der Physical-Literacy-Ansatz geht davon aus, dass unterschiedliche personale Faktoren – u. a. Selbstwirksamkeit, Wissen, Motivation – gleichermaßen notwendig sind, damit ein körperlich aktiver Lebensstil geführt werden kann (siehe Abbildung). Physical Literacy kann dahingehend als Fähigkeit und Commitment einer Person zu einem lebenslangen körperlich aktiven Lebensstil zusammengefasst werden. Eine Förderung der Physical Literacy trägt somit nicht nur dazu bei, dass Personen körperlich aktiv/aktiver werden, sondern auch dazu, dass sie dieses Verhalten langfristig beibehalten – im besten Fall ein Leben lang.
DAS KONZEPT DER PHYSICAL LITERACY
Bewegungsverhalten
Selbstwirksamkeit Physische Kompetenz
Physical Literacy
Wissen
Sinnhaftigkeit Motivation
Die Zielgruppen erreichen
Verglichen mit der Konzeptionierung von wirksamen Maßnahmen/Interventionen zur langfristigen Steigerung der Bewegung ist die erfolgreiche Motivation von Personen zur Teilnahme meist die größere Herausforderung in der Praxis. Insbesondere körperlich inaktive Personen mit wenig Bewegungserfahrung und bestehenden chronischen Krankheiten gelten hierbei als schwer erreichbar. Der Ansatz über das Setting der Primärversorgung stellt sich in die-
sem Zusammenhang aber als sehr vielversprechend dar. Rund 82 % der Frauen und 76 % der Männer in Österreich konsultieren ihre Hausärztin, ihren Hausarzt mindestens einmal pro Jahr. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Patientinnen und Patienten auf die Expertise ihrer Hausärzte vertraut und diese – aufgrund der oft langjährigen ArztPatienten-Beziehung – als kompetente Bewegungs- sowie Gesundheitsberater bzw. -beraterinnen betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund kann eine Motivation von inaktiven Personen zur Teilnahme an bewegungsförderlichen Maßnahmen/Interventionen durch Hausärztinnen und -ärzte als sehr wirksam angesehen werden.
Das Projekt: „Primary Care und Physical Literacy“
„Primary Care und Physical Literacy” ist ein verhaltensorientiertes Bewegungsförderungsprojekt, welches auf Basis der beschriebenen Ansätze konzipiert wurde. Die Projektidee zielt darauf ab, körperlich inaktive Erwachsene im Setting der Primärversorgung („Primary Care“) zu identifizieren und zur Teilnahme an einer Intervention zur Steigerung der Physical Literacy zu ermutigen. Konkret werden Personen im Wartebereich einer Ordination gebeten, einen kurzen ScreeningFragebogen zu ihrem Bewegungsverhalten auszufüllen, welcher anschließend von der Ärztin, dem Arzt ausgewertet wird (Dauer ≈ 15 Sekunden). Körperlich inaktive und medizinisch geeignete Erwachsene werden daraufhin vom Behandler zur Teilnahme an einer 15-wöchigen Physical-Literacy-Intervention motiviert. Die Intervention findet einmal wöchentlich statt, ist für die Teilnehmenden kostenlos und wird von Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie Sportwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern geleitet. Eingebettet in ein motivierendes und spannendes Bewegungssetting, stehen die Förderung aller sechs Dimensionen der Physical Literacy (siehe Abbildung) sowie das Erlernen von alltagsrelevanten und leicht umsetzbaren Übungen und Wissensinhalten zum Thema Bewegung im Mittelpunkt der Intervention.
Roll-out und Weiterentwicklung
Das Projekt wurde im Auftrag des Steirischen Gesundheitsfonds zwischen 2016 und 2017 in zwei Modellregionen in der Steiermark pilotiert. Durch eine Prozess- und Ergebnisevaluation konnten die organisatorische Umsetzbarkeit sowie die Wirksamkeit der Intervention gezeigt werden.1 Im anschließenden Roll-out zwischen 2019 und 2020 wurde ein standardisiertes Interventionshandbuch entwickelt sowie Trainerinnen und Trainer zum Anleiten einer PhysicalLiteracy-Intervention ausgebildet, zudem der im Pilotprojekt verwendete Fragebogen zur Messung der Physical Literacy weiterentwickelt. Seit 2021 wird das Projekt nun von der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) unter dem Namen „Bewegung plus“ umgesetzt, vorerst in der Steiermark. <
* Die Gastautor:innen waren Vortragende bei den 7. Praevenire Gesundheitstagen 2022 von 18. bis 20. Mai in Seitenstetten.
Referenz: 1 Holler P et al., Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18(16), 8593.
Link: mdpi.com/1228764