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Therapeutische Maßnahmen sind Prothesen überlegen
Ganzheitliches Behandlungskonzept bei kongenitalen Fehlbildungen der oberen Extremität und Hand
Die Diagnose einer kongenitalen Deformität der oberen Extremität stellt – trotz allen medizinischen Fortschritts, der Möglichkeit zur Früherkennung und vielfältiger Behandlungsoptionen – in unserer zunehmend auf Perfektion ausgerichteten Gesellschaft eine Katastrophe dar. Das betrifft insbesondere Eltern ohne medizinische Vorbildung. Daher ist es wichtig, sowohl das Kind als auch die Eltern von Anfang an zu begleiten, ihnen auf diese Weise Ängste zu nehmen und bei ihnen durch detaillierte und ehrliche Aufklärung realistische Erwartungen zu wecken. In den meisten Fällen ist es den Betroffenen möglich, trotz ausgeprägter Fehlbildungen ein „normales“ und vor allem selbstbestimmtes Leben zu führen. Neben der spezifischen Behandlung der Deformität selbst muss die psychologische Situation des Kindes und der Eltern berücksichtigt werden. Ein guter psychologischer Umgang beginnt schon damit, von einer „Besonderheit“ statt von einer „Fehlbildung“ zu sprechen.
GASTAUTOREN-TEAM:
© Graz Kliniken
Univ.-Doz. Dr. Werner Girsch
Klinische Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, Med Uni Graz
Dr. Christian Smolle
Klinische Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, Med Uni Graz
Inzidenz differenziert betrachten
In Industrienationen liegt die Inzidenz angeborener Deformitäten der oberen und unteren Extremität bei etwa 1,5 bis drei Fällen pro 1.000 Geburten. Dabei ist zu beachten, dass „einfachere“ Deformitäten wie Syn- oder Polydaktylien um ein Vielfaches häufiger vorkommen als komplexe Deformitäten wie Peromelien, Radius- oder Ulnahypoplasien. Wie in anderen Ländern existieren auch in Österreich keine validen Daten zur genauen Inzidenz, nachdem in der statistischen Dokumentation zwischen den unterschiedlichen Entitäten und ihren Ausprägungsformen nicht unterschieden wird.
Wie die embryonale Entwicklung von sämtlichen Organsystemen läuft auch jene der Extremitäten genreguliert ab. Dieser äußerst komplexe Vorgang ist mittlerweile im Detail erforscht. So weiß man z. B., dass Syndaktylien im Ausbleiben des programmierten Zelltods wurzeln und dass ein genbedingter verfrühter Wachstumsstopp zum Fehlen oder zu Hypoplasien von Strukturen in der Längsachse führt. Die Fehlbildungen treten meist unilateral, selten bilateral auf und sind gelegentlich syndromassoziiert. Auffallend ist, dass kongenitale Fehlbildungen an den Extremitäten äußerst selten mit mentaler Retardierung vergesellschaftet sind und eine völlig normale geistige Entwicklung erwartet
werden kann. Ein klarer Strich muss zwischen der „genbedingten“ Entstehung und der Erblichkeit gezogen werden: Naturgemäß entstehen alle Deformitäten durch eine Fehlregulation von Genen – Erblinien werden jedoch nur überaus selten und wenn, dann bei Syn- oder Polydaktylien beobachtet. Somit geben pränatale genetische Untersuchungen bis dato, wenn überhaupt, wenig Aufschluss darüber, ob eine kongenitale Fehlbildung vorliegt.
Klassifizierungsmöglichkeiten
Je nach Ursache und Ausprägung stellen Deformitäten der oberen Extremität eine relativ große und äußerst heterogene Entität dar. Die Klassifikation nach Swanson wurde in den 1960er-Jahren entwickelt und hat bis heute ihre Gültigkeit (Tabelle S. 32). Jedoch erlaubt sie lediglich eine grobe Einteilung der unterschiedlichen Fehlbildungen und berücksichtigt nicht die unterschiedlichen Ausprägungsformen innerhalb der jeweiligen Fehlbildungsgruppe, weswegen für fast alle Fehlbildungsarten eigene Klassifikationen zwecks besserer Einteilung ausgearbeitet wurden. Um sämtliche Klassifikationssysteme wieder unter einen Hut zu bringen, wurde unlängst die OMT(Oberg-Manske-Tonkin)-Klassifikation entwickelt, die sich zurzeit noch in Evaluation befindet.
Rolle der Eltern
Mit zunehmendem Wohlstand und der immer mehr in Anspruch genommenen Planung von Schwangerschaften hat sich auch die Erwartungshaltung gegenüber dem entstehenden Kind verändert. Die Diagnose einer Deformität bei einem „geplanten“ Kind stellt für werdende Eltern anfangs eigentlich immer eine Katastrophe dar. Zudem werden Deformitäten an den Extremitäten durch die moderne, hochqualitative Bildgebung im Rahmen der intrauterinen Diagnostik meist zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, sodass sich für viele werdende Mütter bereits an dieser Stelle die Frage stellt, ob die Schwangerschaft fortgesetzt oder abgebrochen werden soll. Die Diagnose einer Handfehlbildung ist vor allem für medizinisch nicht vorgebildete Eltern schwer einzuordnen. Zwar bietet das Internet die Möglichkeit, sich selbstständig zu informieren, es trägt aber in vielen Fällen zur Verunsicherung bei, weil der Nichtkundige die exakte Diagnose meist nicht zu stellen vermag und darüber hinaus viele abrufbare Inhalte nicht validiert sind.
Eltern im Gespräch abholen
An diesem Punkt gilt es daher, die Eltern so rasch wie möglich im persönlichen Gespräch abzuholen und ihnen durch empathische, detaillierte und ehrliche Information über die Art der Deformität, über etwaige nötige Behandlungen und deren Erfolgsaussichten oder auch über erwartbare Beeinträchtigungen einen Ausblick auf das Erwachsenenalter und damit eine Grundlage für ihre Entscheidung zu bieten. Oftmals liegen unrealistische Erwartungen vor, die angesprochen und korrigiert werden müssen. Hingegen sollten realistische Erwartungen geweckt werden. Die De-
formität nicht als „Missbildung“ oder „Fehlbildung“ , sondern vielmehr in einem positiven Licht als „Besonderheit“ zu thematisieren, befähigt viele Eltern, eine funktionelle und kosmetische Imperfektion überhaupt erst gedanklich zu erfassen. Gleichzeitig zeichnet diese Herangehensweise ein positives Bild, das in weiterer Folge die Übertragung positiver Gedanken und Gefühle auf das Kind ermöglicht. Das häufig vorhandene Schuldgefühl der Mutter, für die Deformität persönlich verantwortlich zu sein, muss adressiert werden, um eine psychologische Begleitung einleiten zu können. Nach der Geburt gilt es, das Selbstbewusstsein der Eltern so zu stärken, dass sie mit dem auf Perfektion ausgerichteten und oft gedankenlos agierenden Umfeld umzugehen wissen. Hier wird klar: Die Eltern benötigen eine beständige und umfassende Betreuung. Durch starken Zuspruch, ehrliche Information und kontinuierlichen Kontakt wird eine Vertrauensbasis geschaffen, die es den Eltern ermöglicht, die Behandlungsvorschläge anzunehmen.
zVg

Abbildung 1: Beispiel einer beidseitigen Handfehlbildung bei einer weiblichen Person und einer Korrektur im Kleinkindalter. a) Röntgenbefund und klinischer Ausgangsbefund; b) Klinischer Befund nach der Korrekturoperation im Alter von acht Monaten.
Das Kind mit der Deformität
Die Hand dient als komplexes, sensibles Greiforgan nicht nur der Ausübung handwerklicher Tätigkeiten und der Nahrungsaufnahme, sondern ist als Kommunikationsinstrument auch in hohem Maße ästhetisch besetzt. Schon Säuglinge beginnen, Objekte zu fassen bzw. gezielt nach ihnen zu greifen. Spezifische Greiffunktionen, beispielsweise der Spitz-, Schlüssel- oder Kraftgriff, entwickeln sich erst etwa ab dem zweiten Lebensjahr, sobald das entsprechende zerebrale Steuerzentrum dafür >
ausgebildet ist. Für Kinder ist eine Deformität der Hand zunächst vollkommen irrelevant: Jegliches vorhandene sensible Greiforgan wird im Alltag eingesetzt und damit alle gewünschten Tätigkeiten ausgeübt, eben auf jene Art und Weise, welche die vorhandene Extremität zulässt. Ein Kind würde sich niemals über seinen Zustand beklagen, zumal es das Leben mit einer normalen, voll ausgebildeten Hand nicht kennt. Das in diesem Kontext oft geäußerte „They do astonishingly well … “ ist allerdings mit Vorbehalt zu sehen: Einerseits kommen Kinder mit Deformitäten tatsächlich im Alltag sehr gut zurecht, andererseits lassen sich keinerlei Tendenzen feststellen, dass sich eine Deformität mit den Jahren „auswächst“ . Vielmehr aggraviert das Wachstum der gesunden und das Zurückbleiben der falsch angelegten Strukturen den Zustand mitunter über die Jahre zusehends, was eine frühzeitige spezifische Behandlung erfordert.
Keine zusätzlichen Maßnahmen vonnöten
Wie bereits erwähnt, treten Deformitäten der oberen Extremität meist unilateral, selten bilateral und nur gelegentlich im Zusammenhang mit Syndromen auf. In den meisten Fällen ist eine völlig normale geistige Entwicklung zu erwarten, weswegen derartige Deformitäten keinesfalls als „Behinderungen“ erachtet werden dürfen. Denn: Von spezifischen chirurgischen oder physi-
kalischen Behandlungen der Deformität abgesehen, sind in aller Regel keine weiteren medizinischen Maßnahmen erforderlich. Das sollte auch bei der Erziehung bzw. Betreuung berücksichtigt werden: Wie jedes andere Kind dürfen die Betroffenen ihre Grenzen austesten und kennen lernen. Die Eltern sollten das Kind genau beobachten, um eventuelle Neigungen zu fördern und a priori keine Aktivität aufgrund der Deformität zu verbieten. Betreuungspersonen sollten sich allerdings dessen bewusst sein, dass gewisse – vor allem sportliche – Aktivitäten dem Kind unter Umständen nicht möglich sind.
„Neben der chirurgischen Korrektur sind Schienenversorgung, Mobilisation und funktionelles Training im Rahmen einer physio- und ergotherapeutischen Nachbehandlung unabdingbar.“
SWANSON-KLASSIFIKATION
Formationsfehler Transversal Endständig Phalangeal, karpal, metakarpal, Unterarm, Oberarm
Longitudinal Interkalar Symbrachydaktylie, Phokomelie
Radiale (präaxiale) oder ulnare (postaxiale) Klumphand, Spalthand
Differenzierungsfehler
Syndaktylie, radioulnare Synostosen, Kamptodaktylie, Klinodaktylie
Duplikation
Überwachstum
Hypoplasie
Schnürring-Komplex
Generalisierte Skelettanomalien
Polydaktylie, triphalangealer Daumen
Makrodaktylie
Daumenhypoplasie, Madelung-Deformität
Apert-Syndrom, Poland-Syndrom, Arthrogrypose
Selbstbewusstsein stärken
Das „Anderssein“ nehmen Kinder üblicherweise ab dem Kindergartenalter, mit dem Beginn der intensiveren sozialen Interaktion mit Gleichaltrigen, wahr. Diesen Umstand sollten Eltern und Betreuer proaktiv thematisieren, eventuell mittels psychologischer Unterstützung, um die Situation sowohl für das Kind als auch für andere Kinder aus der Gruppe zu klären, das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken („Besonderheit“ , nicht „Fehlbildung“!) und Mobbing vorzubeugen. In der Pubertät kann die Deformität für die Betroffenen aus ähnlichen Gründen erneut zum psychischen Problem werden. Danach sind diese jungen Erwachsenen üblicherweise sowohl psychisch als auch physisch gut an ihre Deformität adaptiert und gut in der Gesellschaft integriert. Abbildung 2 illustriert das zu berücksichtigende Umfeld von Kindern mit einer kongenitalen Deformität.
Zeitgerechte Korrektur
Ziel der Korrektur kongenitaler Deformitäten an der oberen Extremität ist es, dem Kind ein sensibles und im Alltag voll funktionstüchtiges Greiforgan zur Verfügung zu stellen. Der ästhetische Aspekt darf nicht außer Acht gelassen werden, wobei es nach wie vor nicht möglich ist, in jedem Fall eine „normale“ Hand zu rekonstruieren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Hand etwa ab dem zweiten Geburtstag einen fixen Bestandteil des Körperschemas ausmacht und das motorische Steuerzentrum im Gehirn ab diesem Zeitpunkt so weit entwickelt ist, dass es auch komplexere Bewegungsabläufe zulässt, sollte die Korrektur der Deformität idealerweise vor dem erwähnten Zeitpunkt erfolgen. Wegen des Narkoserisikos werden die Eingriffe frühestens ab dem sechsten Lebensmonat vorgenommen, mit dem Ziel, dem Kind ab dem Ende des zweiten Lebensjahres das definitive Greiforgan zur Verfügung zu stellen, um eine optimale Integration der Handfunktion
in das Körperschema zu gewährleisten. Sollten Eingriffe zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ist dafür unbedingt das Einverständnis des Kindes erforderlich. Die Entfernung eines akzessorischen Fingers kann für ein Kind im Vorschulalter ohne entsprechende Vorinformation eine regelrechte Katastrophe darstellen. Deformitäten, die sich erst im Zuge des Wachstums zeigen, sollten so früh wie möglich korrigiert werden, um Folgeschäden zu vermeiden. Die Verschiebung eines Eingriffs auf einen Zeitpunkt nach dem Abschluss des Wachstums ist nur in seltenen Fällen sinnvoll.
Fachübergreifende Versorgung essenziell
Die Art der Korrektur hängt selbstverständlich von der Art der Deformität ab und bedient sich im Grunde aller bekannten Techniken der modernen plastischen Chirurgie, Kinderchirurgie und Kinderorthopädie. Die operativen Techniken reichen von simplen Resektionen, kleineren Hautlappenplastiken und Hauttransplantationen bei Trennungen von Syndaktylien oder Korrekturen von Polydaktylien über Zeigefinger-Pollizisationen, mikrochirurgische Zehentransfers, den Ersatz fehlender Finger bis hin zu Osteotomien und dem Einsatz von Distraktoren oder Ringfixateuren sowie zur Osteo- und Weichteildistraktion. Die Verfeinerung der operativen Techniken in den letzten Jahren hat viele operative Verfahren an den Händen von Kleinkindern überhaupt erst möglich gemacht (Abbildung 1, S. 31). Für die Behandlung bestimmter komplexer Deformitäten wurden außerdem Standardalgorithmen etabliert. Zusätzlich zur operativen Korrektur – und nicht zuletzt auch zur Erhaltung der maximalen Funktionalität – sind Schienenversorgung, Mobilisation und funktionelles Training im Rahmen einer physio- und ergotherapeutischen Nachbehandlung unabdingbar.
Helfende Tools und Prothesen
In manchen Fällen wird es nicht möglich sein, den Kindern ein adäquates Greiforgan zur Verfügung zu stellen. In solchen Situationen ist es erforderlich, die Kinder mit entsprechenden Hilfsmitteln auszustatten, sodass sie ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben führen können. Hilfsmittel umfassen einfache Tools wie Becherhalterungen oder Griffverstärker, aber auch spezielle Lenker bei Fahrrädern oder speziell geformte Griffe für Werkzeuge des täglichen Bedarfs. In Bezug auf Deformitäten haben Prothesen eine Sonderstellung. Sogenannte Schmuckprothesen, die in erster Linie fehlende Gliedmaßen(-Anteile) ersetzen sollen, sind asensibel, folglich im Alltag eher im Weg und werden daher kaum getragen. Dementsprechend soll eine prothetische Versorgung nur dann vorgeschlagen werden, wenn sich daraus ein funktioneller Nutzen im Alltag für den Betroffenen ergibt, und niemals aus rein ästhetischer Indikation. Bei bilateralem, aber auch unilateralem Fehlen von Gliedmaßen wie bei Peromelie können Prothesen sinnvoll sein und vor allem durch die Erweiterung des Aktionsradius zu wichtigen Hilfswerkzeugen im Alltag werden. Myoelektrische Prothesen sind ebenfalls asensibel und sollten den Kindern im Bedarfsfall als zusätzliche Hilfestellung angeboten werden, jedoch ohne Verpflichtung, diese zu tragen. Insgesamt sind gerade bei Kindern die simpleren, robusten Modelle den komplexeren und weniger widerstandsfähigen Hightech-Prothesen vorzuziehen.
Gynäkologe
Kinderarzt
Handchirurg
Physiotherapeut/ Ergotherapeut
Psychologe Eltern
Kind
Freunde
Verwandte
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Fazit
Die Behandlung von Deformitäten der oberen Extremität ist so komplex und vielseitig wie die Deformitäten selbst und erfordert ein ganzheitliches Behandlungskonzept unter kontinuierlicher Einbeziehung der Eltern. Die Korrektur der Deformitäten bedient sich des gesamten Spektrums plastisch chirurgischer, kinderchirurgischer und kinderorthopädischer Verfahren. Dabei spielen prothetische Versorgungen eher eine untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass bei den Kindern meist eine völlig normale geistige Entwicklung zu erwarten ist, können Betroffene dank guter Behandlungsmöglichkeiten de facto fast immer ein selbstständiges und weitgehend „normales“ Leben führen. Nachdem für die Behandlung ein interdisziplinäres Vorgehen unter Einbeziehung sämtlicher genannter Spezialdisziplinen notwendig ist, profitieren die Patienten von der Betreuung an einem entsprechenden Zentrum, z. B. am Universitätsklinikum Graz. <
Abbildung 2: Kind mit kongenitaler Deformität und Eltern im sozialen Gefüge.