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Und sie bewegen sich doch!
Patienten in ein körperlich aktives Leben begleiten
Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Schachner, MSc, Herzchirurg und Gesundheitswissenschafter der Univ.-Klinik für Herzchirurgie, Med Uni Innsbruck, spricht im Interview mit dem HAUSARZT über die Auswirkungen von Bewegung auf den Körper – insbesondere auf das kardiovaskuläre System.
HAUSARZT: Der Untertitel Ihres neuen Buches, Das bewegte Herz, lautet „Bewegung statt Medikamente“. Können medikamentöse Therapien durch ausreichend Bewegung tatsächlich vermieden werden? Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Schachner, MSc:
Mir ist wichtig zu betonen, dass es sich nicht um ein „Anti-MedikamenteBuch“ handelt. Ziel ist, sich das Thema Bewegung ins Bewusstsein zu rufen und sich zu vergegenwärtigen, dass die gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung in allen Altersgruppen durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten – teilweise auf sehr eindrückliche Art und Weise – belegt wurde. „Bewegung statt Medikamente“ heißt, dass sich durch Bewegung medikamentöse Behandlungen reduzieren oder sogar verhindern lassen. Bei vielen Erkrankungen stellt die Bewegung ohnehin keine alleinige, sondern eine zusätzliche Therapie dar. Wir haben häufig das Problem, dass ein Patient sehr viele Medikamente benötigt, was im Management herausfordert – sowohl den Hausarzt als auch den Betroffenen. Hinzu kommt, dass Menschen, die sich kaum bewegen, besonders schwer medikamentös einzustellen sind.
Experte zum Thema: Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Schachner, MSc
Herzchirurg und Gesundheitswissenschafter, Univ.Klinik für Herzchirurgie, Med Uni Innsbruck „Wenn man regelmäßig mehr als acht bis zehn Stunden am Tag sitzt, sind das Herzinfarktrisiko und die Sterblichkeit erhöht.“
In Ihrem Werk beschäftigen Sie sich auch mit der Frage „Sind wir Sportmuffel?“ Wie viel Wahrheit steckt in der Hypothese, dass wir zu bequem geworden sind?
Bedauerlicherweise ist es schon so, dass wir uns tendenziell zu wenig bewegen – ein Problem, welches in ganz Europa und teils weltweit besteht. Hervor geht dies aus regionalen, nationalen, europäischen, US-amerikanischen sowie chinesischen Umfrageberichten. Sie geben auch Aufschluss über eine wesentliche Ursache für den Bewegungsmangel: Die Aktivität im Alltag hat abgenommen. Am Beispiel „Einkaufengehen“ lässt sich das gut illustrieren: Mein Großvater ist in seiner Kindheit noch vom Bergdorf hinunter ins Tal zum Markt gegangen und wieder zurückmarschiert. Das ist keine Sporteinheit gewesen, wie wir sie heute beispielsweise in einem Verein absolvieren, sondern einfach ein Weg zur Alltagsverrichtung. Während es in meinen Kindheitstagen teilweise noch verpönt gewesen ist, mit dem Auto einkaufen zu fahren, sehen wir das heutzutage als normal an – inzwischen lassen wir uns Lebensmittel sogar vermehrt nach Hause liefern. Diese abhandengekommene Bewegung muss man dann wieder ausgleichen.
Was erachten Sie als ersten Schritt, um seinen inneren Schweinehund zu überwinden und in Bewegung zu kommen?
Der Schweinehund wird leider immer stärker, je weniger wir tun – und umgekehrt. Für Menschen, die sich bisher kaum körperlich betätigt hatten, haben Mag.a Claudia Angerer und ich im Buch „Drei Schritte in ein bewegungsaktives Leben“ beschrieben. Zuallererst gilt: Das dauerhafte Sitzen unterbrechen. Wir wissen heute: Wenn man regelmäßig mehr als acht bis zehn Stunden am Tag sitzt, sind das Herzinfarktrisiko und die Sterblichkeit erhöht. Bewegungspausen sollten unbedingt gemacht werden – das kann auch einfach bedeuten, aufzustehen und ein wenig in der Wohnung herumzugehen oder Haushaltsarbeit zu erledigen. Ganz wichtig ist, die Bewegung wieder bewusst in den Alltag einzubauen. Beispielsweise indem man regelmäßig Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegt. Insbesondere in der Stadt ist man häufig sogar schneller am Ziel als mit dem Auto. Für den Anfang sollte man leichte Bewegungsaktivitäten wählen. Damit der Patient ein Gefühl dafür bekommt, welche Tätigkeiten in die entsprechende Kategorie fallen, und Ideen sammeln kann, haben wir aus verschiedenen Studien Beispiele tabellarisch angeführt (Auszug siehe Tabelle, S. 26). U. a. ist das Schrittezählen gerade für den Beginn oder für übergewichtige Menschen eine sehr gute Möglichkeit. Während es bei der leichten Bewegungsaktivität, beispielsweise auf dem Level des Spazierens, noch möglich wäre, ein Lied anzustimmen, kommt man bei der moderaten Bewegungsaktivität schon leicht außer Atem und das Herz schlägt schneller. Sie wird in „Schritt zwei in ein bewegungsaktives Leben“ integriert und über mehrere Wochen gesteigert. Erreicht man in Summe 150 Minuten pro Woche auf dieser Aktivitätsstufe, kann eine neue Sportart in der hohen Bewegungsaktivität begonnen werden.
Worauf ist zu achten, bevor eine neue Sportart begonnen wird?
In vielen Fällen ist es ratsam, eine Gesundenuntersuchung zu veranlassen – insbesondere bevor mit der hohen Bewegungsaktivität begonnen wird. Das gilt vor allem für ältere Menschen oder Personen, die zwischen 40 und 50 Jahre alt sind und sich bisher sportlich nicht betätigt haben. Bei Übergewicht empfiehlt es sich ebenfalls, den Patienten zur Vorsorgeuntersuchung einzuladen, denn hier wollen wir auch in Richtung eines Metabolischen Syndroms evaluieren. Ein vorangegangener Gesundheitscheck bietet eine Unterstützung, sodass die sportliche Aktivität geordneter und begleitet begonnen werden kann.
Welche Motivatoren können herangezogen werden, damit die Bewegungsaktivität nicht nur begonnen, sondern auch beibehalten wird?
Man kann sich die Motivatoren wie Zahnräder vorstellen, die ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Wir haben zunächst das Umfeld, beispielsweise die Verfügbarkeit von >
Infrastruktur wie Radwegen, Naturräumen, Parks etc. Das zweite Zahnrad umfasst persönliche Ressourcen: Gesundheitszustand, Alter, Beruf usw., auch die persönliche Motivation und Demotivation (z. B.: „Ich habe keine Zeit …“, „Ich bin zu müde …“). Den dritten Bereich – das Bewegungswissen – kann der behandelnde Arzt wesentlich beeinflussen: Warum ist es von Vorteil, sich zu bewegen? Wie viel ist gut? Welche Art von Bewegung passt für mich? Darf ich auch mit meiner Krankheit in Bewegung kommen? Leider ist das formale Bildungsniveau immer noch eine Determinante von Gesundheit. Aber indem man Wissenslücken schließt, kann man viel bewirken. Gerade Hausärzte sind Multiplikatoren in Bezug auf Gesundheitswissen.
Welche Rolle spielt die Zielsetzung in diesem Kontext?
Ich nehme zusehends Abstand von absoluten Zielen, denn genau daran scheitern viele. Wichtig ist, die eigenen Schritte, die eigenen Fortschritte im Blick zu haben. Jede Bewegung ist besser als keine! So sind die WHO-Richtlinien zwar gute Allround-Ziele, aber die Hälfte der Bevölkerung macht einfach weniger. Und genau diese Menschen muss man abholen. Ich kann ihnen nicht sagen: „Das müsst ihr – und sonst gar nichts!“ – die Folge wäre nur Enttäuschung und Demotivation. Gesetzt werden sollten kleine bzw. Zwischenziele, die gut realisierbar sind.

Was kann Menschen, die 50–60 Jahre alt sind und sich bisher nicht körperlich betätigt haben, ans Herz gelegt werden?
Es gibt große Kohortenstudien, die belegen: Auch wenn man erst mit 50 oder 60 Jahren mit der Bewegung beginnt – der Herz-Kreislauf-Gesundheit wird damit Gutes getan! Außerdem kommen Frauen – sowie Männer – in diesem Alter typischerweise in die Wechseljahre. Es wäre wichtig, dass der Arzt den Patienten zu der besagten Zeit zwei Dinge kommuniziert. Erstens: Bewegung mildert die Symptome des Wechsels, insbesondere der positive Effekt auf das subjektive Wohlbefinden ist in mehreren Studien klar gemessen worden. Zweitens: Spätestens jetzt ist die Zeit gekommen, der Osteoporose mittels Bewegung vorzubeugen.
Was ändert sich im Bewegungsprogramm, wenn eine Person ins hohe Alter kommt?
Andere Aspekte der Bewegung geraten hier in den Vordergrund. Beispielsweise wird das Gleichgewicht und Körpergefühl trainiert, was für die Sturzprophylaxe wesentlich ist. Im hohen Alter geht es nicht mehr um die große Ausdauerkraft, sondern darum, die BeweglichX HAUSARZTBuchtipp
Das bewegte Herz
Von Thomas Schachner und Claudia Angerer Goldegg-Verlag GmbH Berlin, Wien 2021, ISBN 978-3-99060-214-0.
keit zu erhalten und die Stellkraft mit gezielten Kräftigungsübungen zu verbessern. Ein Beispiel für eine Sportart, die in jedem Alter begonnen werden kann, ist Tai-Chi. Eine weitere großartige Möglichkeit, die Beweglichkeit und sportliche Aktivität bis ins hohe Alter zu erhalten, bietet beispielsweise das Seniorenturnen in Gruppen. Das ist ein entscheidender Punkt, für welchen gerade Hausärzte einen Beitrag leisten können. Sie kennen ihre Patienten und die regionalen Gegebenheiten gut und wissen vielleicht über solche konkreten Angebote Bescheid.
Das Gespräch führte Anna Schuster, BSc.
X Tabelle: Beispiele für Tätigkeiten in drei Aktivitätsstufen
Leichte Bewegungsaktivität
langsames Spazierengehen Tai-Chi Darts spielen Besuch einer Kulturveranstaltung, z. B. einer
Ausstellung leichte Dehnübungen im Sitzen mit kleinen Kindern spielen zum Telefonieren aufstehen ein Instrument im Sitzen spielen leichte Hausarbeit wie etwas kochen, den
Tisch decken und abräumen, Wäsche bügeln bzw. aufhängen, Pflanzen gießen Billard spielen Gehen mit 5–7 km/h oder 100 Schritten/
Minute Wandern einen Kinderwagen oder Rollstuhl schieben Gartenarbeit Basketball – Körbe werfen Radfahren in der Ebene mit 8–15 km/h aktives Spielen mit kleinen Kindern langsames Stiegensteigen Tanzen Hausarbeiten wie Boden wischen, Fenster putzen, Bettwäsche wechseln Badminton Laufen/Joggen zügiges Schwimmen im See oder Meer diverse Kampfsportarten Hampelmann-Springen Liegestütze, Klimmzüge die meisten Wettkampf-Sportarten, etwa
Fußball, Basketball, Hockey etc. Seilspringen Tennis – Einzel Aquajogging intensives Tanzen Bergsteigen Bergwandern ab 4,5 km/h mit mind. 6 %
Steigung
Moderate Bewegungsaktivität Hohe Bewegungsaktivität
Anmerkung: Grundsätzlich können die Aktivitäten mit unterschiedlicher Anstrengung durchgeführt werden. Die Daten in dieser Tabelle stammen aus verschiedenen Studien und repräsentieren eine durchschnittliche Ausübung. Außerdem hängt der Grad der Anstrengung vom individuellen Trainingszustand ab.