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Entstigmatisierung der Substanzen und ihrer Anwender“

„Entstigmatisierung der Substanzen und ihrer Anwender“

Die Bedeutung des Substitutionsprinzips für die Behandlung eines problematischen Stimulanziengebrauchs*

+++ Entgleisender Gebrauch von Stimulanzien +++ körperliche und psychische Beeinträchtigungen +++ neue Arzneimittel mit niedrigem Risikoprofil +++

Sowohl der medizinische als auch der außermedizinische Konsum von Psychostimulanzien aller Art (Kokain, ATS und Kathinonen) stieg in den letzten Jahren kontinuierlich an. Dafür ist einerseits eine Verbreiterung des Spektrums medizinischer Indikationen (z. B. ADHS bei Erwachsenen), andererseits eine Fülle von Motivationen zum außermedizinischen Gebrauch (z. B. Selbstoptimierung, Chemsex) verantwortlich. Die Wirkmechanismen der verschiedenen stimulierenden Substanzen lassen sich miteinander vergleichen. Sie beeinflussen den Katecholaminstoffwechsel, wobei sie insbesondere den Dopaminstoffwechsel betreffen. Amphetamine greifen in vergleichbarer Weise auch in den Noradrenalinstoffwechsel ein, Kokain darüber hinaus in den Serotoninstoffwechsel. Die Effekte der Stimulanzien sind dosisabhängig. Aufgrund großer Erwartungen an den positiven Effekt der Stimulanzien und des Umstandes, dass sie ein hohes Abhängigkeitspotential aufweisen, stellt ein entgleisender Gebrauch keine Seltenheit dar. Während bei adäquater Dosierung zentraler Stimulanzien keine schädlichen Wirkungen zu erwarten sind, treten bei hoher und überhöhter Dosierung regelmäßig sowohl körperliche als auch schwere psychische Beeinträchtigungen auf. Die körperlichen Auswirkungen betreffen das Herz-Kreislauf-System, den Appetit und den Schlaf-wach-Rhythmus. Als Formen psychischer Beeinträchtigung werden häufig eine paranoide Verstimmung und sogar psychotische Manifestationen beobachtet, was zur Stigmatisierung der Substanzen führen kann. Man erachtet sie als besonders gefährliche Drogen. Derzeit gilt dies vor allem für Methamphetamin, früher sind andere Amphetaminderivate verteufelt worden (z. B. Phenmetrazin, als es als Appetitzügler unter dem Namen Preludin vermarktet wurde).

Adäquate Behandlungskonzepte

Der zunehmende Konsum dieser Stoffe und die damit verbundenen medizinischen, psychologischen, sozialen und kriminologischen Probleme haben das Augenmerk darauf gerichtet, adäquate Behandlungskonzepte zu entwickeln. Weil das Konzept der arzneimittelgestützten Behandlung bei anderen Substanzkonsumstörungen Priorität hat, wird es auch in der Therapie des problematischen Stimulanziengebrauchs verfolgt. Dabei können Strategien zur Anwendung kommen, die verschiedenen Zielvorstellungen folgen: • Einsatz von (Opioid-)Antagonisten, • Entwöhnung mithilfe von alternativen Substanzen (z. B. Bupropion oder

Modafinil), • kurzfristige Agonisten-Substitution zur Überbrückung, • temporäre Agonisten-Substitution, • Langzeitsubstitution mit Agonisten, • Kombination von Pharmakotherapie und psychosozialer Intervention.

Schwierige Umsetzung

Die Umsetzung der therapeutischen Vorstellungen wird durch das Stigma erschwert, mit welchem die Substanzen und ihre Konsumenten behaftet sind. Langzeitsubstitution, wie etwa die Diamorphingestützte Substitution, erscheint auf jeden Fall schwieriger als die vergleichbare Zielvorstellung bei der Opioidsubstitution, da die Anpassung an individuelle Vorstellungen und Wünsche der Patienten kaum möglich ist. Dies betrifft vor allem die Dosierung, denn hochdosierte Substitution wie auch injizierende Anwendung müssen vermieden und die Anforderungen an die Patienten

den Behandlungsprinzipien angepasst werden. Auswege bei komplizierten Fallkonstellationen, etwa bei der Heroinsubstitution, sind in Bezug auf die substituierende Abgabe von Stimulanzien obsolet, weil auch unter günstigen und kontrollierten Rahmenbedingungen die hochdosierte Einnahme von Stimulanzien zu den bekannten pathophysiologischen und psychopathologischen Erscheinungen führen kann/muss. Auf diese Problematik wurde in einem Dokument verwiesen, das die WHO gemeinsam mit der UNODC 2021 herausgegeben hat. Seit mehreren Jahren wird allerdings an der Entwicklung und Produktion innovativer Arzneimittel mit niedrigem Risikoprofil gearbeitet. Als neue agonistisch wirksame Substanzen kommen derzeit sowohl Prodrugs (Lisdexamphetamin und Phendimetrazin) als auch Testsubstanzen (z. B. RTI-336 und PAL-287) zum Einsatz.

Internationale Therapiestudie

Eine Expertengruppe der UNODC entwarf 2020 ein Projekt für eine internationale Forschungskollaboration. Empfohlen wurde die Implementierung eines ambulanten Behandlungsvorhabens, in dem über eine Laufzeit von sechs Monaten Personen mit schwerer CSUD eine Therapie erhalten sollten. Patienten, die unter Kokain- oder Amphetaminkonsumstörungen leiden, sind an getrennten Standorten zu behandeln. Das experimentelle Behandlungsangebot umfasst die kontrollierte Verabreichung eines verschreibungspflichtigen Psychostimulans in Kombination mit einer psychosozialen Intervention. In pharmakotherapeutischer Hinsicht sollte Patienten mit Kokainkonsumstörung ein Präparat mit verzögerter Wirkstofffreisetzung aus gemischten Amphetaminsalzen und Patienten mit Amphetaminkonsumstörung Methylphenidat mit verzögerter Wirkstofffreisetzung verabreicht werden. Diese differenzierte Abgabe fußt auf Therapievorschlägen, die bereits seit mehreren Jahren experimentell erarbeitet und in Überblicksarbeiten empfohlen wurden (Stoops und Rush, 2013). Als primäres Ziel der besagten internationalen Therapiestudie wurde die anhaltende Abstinenz von illegalen Stimulanzien definiert.

Autor: Ao. Univ.-Prof. Doz. Dr. Alfred Springer

Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, 1010 Wien

Ausblick

Die Behandlung von Personen, die unter einem CSUD leiden, ist zu einer wichtigen Herausforderung geworden. Dass sie künftig in größerem Umfang durchgeführt und breiter gefächerten Zielvorstellungen folgen kann, hängt davon ab, ob neue Stimulanzien-Agonisten entwickelt werden, die ein günstiges Wirkungsprofil bei geringem Abhängigkeitsrisiko aufweisen. Von einem brauchbaren Stimulanzien-Substitut ist zu fordern, dass es an Dopamin-, Serotonin- und Noradrenalin-Transporter bindet und Selektivität für den DAT im Vergleich zum 5-HTT und NET aufweist, die Wirkung langsam einsetzt, es in geringem Ausmaß sensibilisiert, eine lange Wirkungsdauer aufweist und oral verfügbar ist. Die Kombination von pharmakologischer Behandlung und psychosozialer Intervention wird unverzichtbar bleiben. Eine breitere Anwendung mit gefächertem therapeutischem Angebot, analog zur Opioidsubstitution, bedarf allerdings auch geänderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, insbesondere einer weitgehenden Entstigmatisierung der Substanzen und ihrer Anwender.

„Die Kombination von pharmakologischer Behandlung und psychosozialer Intervention wird unverzichtbar bleiben.“

* Der Autor war Vortragender beim Substitutions-Forum – Plattform für Drogen-Therapie (Online), 8.-9. Mai 2021.

Literatur: Stoops, WW und Rush, CR, 2013: Agonist replacement for stimulant dependence: a review of clinical research. Curr Pharm Des. 2013;19(40):7026-35. doi: 10.2 174/138161281940131209142843. WHO/UNODC (Hg.), 2021, International standards for the treatment of drug use disorders. UNODC, 2020, Treatment of stimulant use disorders: current practices and promising perspectives.

30./31. Jahrestagung der MKÖ

Linz

Seminarhaus Auf der Gugl

15. – 16. Oktober 2021

Der verNetzte Beckenboden

> Netz ist nicht gleich Netz – welches ist wann gefragt? > Round Table Talk 1 & 2 > Genitale Verschönerung, genitale Verstümmelung > Netze am Darm > Narben und Bindegewebe – ein inneres Netzwerk > MKÖ – ein interdisziplinäres Netzwerk

1990 – 2020 VERANSTALTER Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich – MKÖ www.kontinenzgesellschaft.at

TAGUNGSPRÄSIDIUM Katharina Meller, PT Krankenhaus Göttlicher Heiland, Wien

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