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Kognitive Einbußen ernst nehmen

Eine frühe Diagnosestellung ist für die bestmögliche Behandlung von Menschen mit dementieller Erkrankung wesentlich

+++ „Memory-Kliniken arbeiten fächerübergreifend +++ Hausärzte als Schnittstelle für eine zeitnahe Zuweisung +++ Voraussetzungen für eine valide und aussagekräftige Demenzdiagnostik +++

Die derzeitige Prävalenz von dementiellen Erkrankungen liegt weltweit bei über 50 Mio. Betroffenen. Bis 2050 ist mit einem Anstieg auf 131,5 Mio. Menschen, welche an einer AlzheimerDemenz als häufigster Demenzform erkrankt sind, zu rechnen.1 In Österreich werden bis zum Jahr 2050 etwa 200.000 Menschen betroffen sein. Laut dem österreichischen Demenzbericht des Bundesministeriums für Gesundheit von 2014 ist in Tirol – in Zusammenhang mit dem zunehmenden Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre – ebenfalls mit einem Anstieg der Betroffenen von derzeit 11.000 auf etwa 24.000 im Jahr 2050 zu rechnen. Hochrechnungen zufolge wird sich auch die Versorgungssituation dieser schnell wachsenden Population von Menschen mit Demenz in den nächsten 30 Jahren dramatisch ändern. Während derzeit in Österreich etwa 60 Erwerbsfähige (15-65-Jährige) auf einen Patienten mit Demenz kommen, werden es bis 2050 vorrausichtlich lediglich 17 Erwerbsfähige pro Patient sein (Demenzbericht Österreich 2014). 2

Fächerübergreifende Zusammenarbeit

Beispiel Tirol: Derzeit stehen in unserem Bundesland nur drei spezialisierte ambulante Einrichtungen für die Abklärung von Gedächtnisstörungen einschließlich dementieller Erkrankungen mit ausführlicher Diagnostik und therapeutischer Begleitung zur Verfügung. Zwei davon sind Teil der Universitäts-

Autorin: Priv-.Doz.in Dr.in Michaela Defrancesco, MMSc, PhD

Univ.-Klinik für Psychiatrie I, Medizinische Universität Innsbruck „Eine sinnvolle pharmakologische und nicht pharmakologische Behandlung ist in jedem Demenzstadium möglich.“

klinik Innsbruck. Entsprechend der Überschneidung von Diagnosen, Symptomen und therapeutischen Schwerpunkten wird die eine psychiatrisch, die andere neurologisch geleitet. Diese fächerübergreifend häufig als „Memory-Kliniken“ bezeichneten ambulanten Einrichtungen übernehmen in Tirol und in vergleichbaren Strukturen weltweit die multiprofessionelle medizinische, psychologische und sozialarbeiterische – wie auch psychoedukative Betreuung und Behandlung von Menschen mit Gedächtnisstörungen. Außerdem spielen Memory-Kliniken zunehmend und entsprechend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine bedeutende Rolle im Bereich der Prävention wie auch der Entstigmatisierung dementieller Erkrankungen. Dennoch ist für eine große Anzahl von Patienten der Hausarzt die erste Anlaufstelle bei subjektiv wahrgenommenen kognitiven Defiziten. Er stellt somit eine Schnittstelle für eine zeitnahe Zuweisung zu einer weiterführenden spezifischen Demenzdiagnostik dar.

Demenzformen und stadien

Grundsätzlich kann zwischen primär neurodegenerativen Demenzformen (z. B. Demenz vom Alzheimer-Typ, Demenz bei Morbus Parkinson, frontotemporale lobäre Degeneration) und sekundären Demenzformen im Rahmen von anderen Erkrankungen (z. B. nach Schlaganfall, Mangelerkrankungen) unterschieden werden. Die Demenz vom Alzheimer-Typ ist mit ca. 65 % die häufigste und auch die am besten erforschte Form. Mittlerweile gilt als gut etabliert, dass die Alzheimer-Demenz das Endstadium der Alzheimer-Erkrankung bildet. Das etwa 15–20 Jahre lange präklinische Stadium der Alzheimer-Erkrankung ist durch eine stetige Zunahme von neuropathologischen Veränderungen (insbesondere ß-Amyloid-42 und Phospho-Tau-Protein) bei noch fehlenden wesentlichen klinischen Symptomen gekennzeichnet. Rezente Studien gehen davon aus, dass eine optimale Kontrolle aller beeinflussbaren Risikofaktoren in diesem präklinischen Stadium etwa ein Drittel aller Alzheimer-Demenzen und anderer neurodegenerativer Demenzformen vermeiden könnte.3 Zu den wichtigsten präventiven Maßnahmen zählen neben ausgewogener Ernährung und einem körperlich, sozial und kognitiv aktiven Lebensstil auch die Kontrolle von kardio- und zerebrovaskulären Risikofaktoren und die Vermeidung von Noxen wie Alkohol und Nikotin. Zu einer stadiengerechten Therapie dementieller Erkrankungen gehören somit neben einer pharmakologischen antidementiven Therapie im Demenzstadium auch primär- und sekundärpräventive Maßnahmen. Insbesondere bei der Reduktion und Behandlung von kardio- und zerebrovaskulären Risikofaktoren und bei der Psychoedukation bezüglich einer gesunden Lebensweise haben wiederum die Hausärzte eine zentrale Rolle. Anhand der Alzheimer-Erkrankung als häufigster dementieller Erkrankung wird der Verlauf betreffend kognitive Defizite, Einschränkungen in Alltagsfunktionen und Pflegebedarf in der Abbildung dargestellt.

X Abbildung: Verlauf der AlzheimerErkrankung

Kognition

Intakt MCI

Defizit bei …

MMSE

Pflegestufe Betreuungs und Pflegebedarf komplexen instrumentellen Alltagsfunktionen alltäglichen instrumentellen Alltagsfunktionen basalen instrumentellen Alltagsfunktionen und komplexen Grundfunktionen basalen Grundfunktionen

Neuem erlernen  (z. B. neues Handy) Organisation von z. B. Urlauben komplexen Entscheidungen 28–30 26–27

– Keiner

10–15 Jahre Präklinisches Stadium ~ 3 JAHRE Mild Cognitive Impairment

Leichtgradige Demenz Mittelgradige Demenz Schwergradige Demenz

Geräte bedienen Haushalt, Kochen, Waschen

finanziellen und medizinischen Belangen aktiver Gestaltung des Alltags 20–25 Lesen, Telefonieren, Schreiben Alltagsbewältigung – leicht beeinträchtigt 10–19 Anziehen, Körperhygiene

Essen, Schlucken, Sprechen Alltagsbewältigung – schwer beeinträchtigt 0–9

PS 1

Keiner bis stündliche Betreuung

0–15 Jahre Demenzstadium PS 2–3

Regelmäßige Betreuung und Pflege PS 3+

Engmaschige bis ganztägige Pflege

Zeit

Hausärztliche Zuweisung zur Demenzdiagnostik

Trotz begrenzter pharmakologischer Therapiemöglichkeiten ist eine ehebaldige Diagnose von allen Demenzformen wesentlich. Meist schildern Patienten als Erstsymptome z. B. gegenüber Angehörigen oder dem Hausarzt nur unspezifische Symptome wie eine leichte Ablenkbarkeit, eine harmlose Vergesslichkeit oder affektive Symptome wie Lustlosigkeit oder Reizbarkeit. Auch die Äußerung von zunehmender Sorge, an einer Demenz zu erkranken, kann ein Hinweis für eine beginnende Demenz sein. Grundsätzlich kann eine Demenzabklärung in jedem Erkrankungsstadium erfolgen. Auch die Diagnose eines Mild Cognitive Impairment und insbesondere des sogenannten „MCI due to Alzheimer´s disease“4 kann zu einer frühzeitigen Einleitung von sekundär präventiven Maßnahmen wie der Behandlung von Risikofaktoren, der Psychoedukation bezüglich sogenannter „Lifestyle“-Faktoren und der Planung von regelmäßigen Verlaufskontrollen genutzt werden. Notwendig und dringend indiziert ist eine Zuweisung zur Demenzabklärung bei deutlich progredienten kognitiven Defiziten, welche das Alltagsleben des Patienten beeinträchtigen. Auch sollte bei geriatrischen Patienten mit neu aufgetretenen affektiven oder psychotischen Symptomen (z. B. depressive Stimmung, Reizbarkeit, paranoid-wahnhafte Symptome) ohne anamnestisch erhebbare kognitive Defizite an eine dementielle Erkrankung gedacht werden. Insbesondere im Frühstadium können Patienten wenig Krankheitseinsicht (Anosognosie) und eine gute Fassade zeigen.

Demenzabklärung: Voraussetzungen, Kontraindikationen und Limitationen

Für eine valide und aussagekräftige Demenzdiagnostik müssen einige Voraussetzungen gegeben sein und limitierende Faktoren sowie Kontraindikationen beachtet werden (siehe Tabelle). Es wird empfohlen, bei Bedenken bezüglich einer möglichen Demenzabklärung vor der Zuweisung mit der jeweiligen Spezialambulanz Kontakt aufzunehmen. Auch können bei einer Ablehnung der Demenzabklärung vonseiten des Patienten Vorgespräche ohne diagnostische Maßnahmen eine weitere ausführliche Demenzabklärung ermöglichen. Tipp: Auf der Homepage der Tirol Kliniken (demenz.tirol-kliniken.at) sowie der Koordinationsstelle Demenz (demenz-tirol.at) finden niedergelassene Ärzte nützliche Informationen zu den Spezialambulanzen für Demenzdiagnostik sowie Informationsmaterial für Patienten und Angehörige bezüglich dementieller Erkrankungen und Betreuungsangebote.

Fazit

Zusammenfassend sind die Identifikation von demenztypischen Symptomen und eine frühe Diagnosestellung von dementiellen Erkrankungen für die bestmögliche Behandlung von betroffenen Patienten wesentlich. Trotz fehlender Möglichkeit einer kurativen Demenztherapie ist eine sinnvolle pharmakologische und nichtpharmakologische Behandlung in jedem Demenzstadium möglich. <

Quellen: 1 Alzheimer’s Association. 2019 Alzheimer’s Facts and

Figures. Chicago, IL: Alzheimer’s Association, 2019. 2 Höfler, Sabine; Bengough, Theresa; Winkler, Petra;

Griebler, Robert (Hg.) (2015): Österreichischer Demenzbericht 2014. Bundesministerium für Gesundheit und Sozialministerium, Wien. 3 Livingston G, Huntley J, Sommerlad A, et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the

Lancet Commission. Lancet. 2020;396(10248):413-446. doi:10.1016/S0140-6736(20)30367-6. 4 Albert MS, DeKosky ST, Dickson D, Dubois B, Feldman

HH, Fox NC, Gamst A, Holtzman DM, Jagust WJ,

Petersen RC, Snyder PJ, Carrillo MC, Thies B, Phelps

CH The diagnosis of mild cognitive impairment due to Alzheimer’s disease: recommendations from the

National Institute on Aging-Alzheimer’s Association workgroups on diagnostic guidelines for Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement. 2011 May; 7(3):270-9.

X Tabelle: Wichtige Hinweise und Voraussetzungen bei einer Zuweisung zur Abklärung von Gedächtnisstörungen

in einer Spezialambulanz/Gedächtnissprechstunde

Voraussetzungen und Limitationen für eine Erstuntersuchung einschließlich neuropsychodiagnostischer Untersuchung Relative und absolute Kontraindikationen für eine ausführliche neuropsychodiagnostische Untersuchung zur Demenzdiagnostik

Voraussetzungen:

„ Bereitschaft des Patienten zur Abklärung gegeben „ Zumutbarkeit einer 60–90 Min. langen Untersuchung gegeben (Arztgespräch und Neuropsychodiagnostik) „ Bei Bedarf Hör- und Sehhilfe für verbale und visuelle Anweisungen vorhanden „ Begleitperson bei Menschen mit bereits erfassbaren Defiziten in puncto Auffassung und Gedächtnisleistung

Relativ:

„ Mittelgradige depressive Symptomatik „ Aktuelle, die Kognition beeinträchtigende Pharmakotherapie „ Geringe Deutschkenntnisse (Lesen und Verstehen komplexer Texte auf Deutsch nicht möglich) – Hinweis: Bei anderer Muttersprache als

Deutsch oder nicht ausreichenden Deutschkenntnissen ist die Begleitung eines Dolmetschers erforderlich

Limitierende Faktoren:

„ Bekannte Intelligenzminderung/geistige Retardierung „ Analphabetismus „ Weniger als drei Monate zurückliegende schwere somatische oder psychiatrische Erkrankung „ Höhergradige Seh- und/oder Hörminderung

Absolut:

„ Schwergradige depressive Symptomatik „ Verdacht auf Delir oder Prädelir „ Akute Entzugssymptomatik „ Akute Intoxikation und/oder erheblicher chronischer Substanzmissbrauch „ Akute psychotische Störung „ Akute somatische Erkrankung „ Akute Suizidalität

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