5 minute read

Die Krankheit der 1.000 Gesichter

COVID-19-Empfehlungen für Patienten mit Multipler Sklerose sowie innovative Behandlungsoptionen

In Österreich leben etwa 13.000 Menschen mit Multipler Sklerose, und das mit sehr vielschichtigen Beschwerden. Abhängig davon, welcher Teil des zentralen Nervensystems bei der Autoimmunerkrankung betroffen ist, können bekanntlich auch die Symptome unterschiedlich ausfallen. So erschwert das heterogene Erscheinungsbild der „Krankheit der 1.000 Gesichter“ die Diagnose. Die COVID-19-Pandemie hat betroffene Patientinnen und Patienten vor zusätzliche Herausforderungen gestellt.

Die Spuren der Pandemie

Mittlerweile ist bekannt, dass MS kein erhöhtes Risiko mit sich bringt, einen schweren COVID-19-Verlauf zu erleiden. Eine Ausnahme stellen Betroffene mit schwerwiegender körperlicher Behinderung sowie MS-Patienten mit allgemeinen Risikofaktoren wie einem höheren Alter, Bluthochdruck, einem erhöhten Körpergewicht oder Lungen- und Herzerkrankungen dar. Aber auch im Leben von Nichtrisikopatienten mit MS hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen: „Viele Menschen mit chronischen Erkrankungen haben durch die Pandemie eine deutliche Reduktion ihrer Behandlungsqualität erfahren“ , machte a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer, Präsident der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft, im Rahmen der Online-Veranstaltung „Unser Netzwerk = deine Stärke” zum Welt-MS-Tag 2021 am 31. Mai aufmerksam. Der Austausch mit Ärzten, Therapeuten, aber auch mit anderen Betroffenen habe gefehlt. Zahlreiche MS-Patienten hätten erst später mit einer Therapie begonnen und dadurch möglicherweise Schaden genommen.

Vorausschauendes Impfmanagement

Da MS-Patienten zu den Personengruppen mit erhöhtem Risiko zählen können – aber auch aus generellen Überlegungen heraus – rät die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) im Einklang mit internationalen Gesellschaften Betroffenen zu einer SARS-CoV-2-Impfung. Die Diagnose MS stellt laut ÖGN keine Kontraindikation in Bezug auf die Immunisierung dar. Sowohl die mRNAImpfstoffe der Hersteller Biontech/ Pfizer und Moderna als auch das vektorbasierte Vakzin von Oxford/AstraZeneca seien konzeptuell Totimpfstoffe bzw. mit einem solchen vergleichbar und somit für diese Patientengruppe zu empfehlen. Allerdings könnten bei MS-Patienten Impfreaktionen zu einem sogenannten Uhthoff-Phänomen bzw. zu einem „Pseudoschub“ führen. Ein vorausschauendes Management sollte daher in Erwägung gezogen werden. So wie bei jeder anderen Impfung wird auch bei jener gegen SARSCoV-2 empfohlen, sie mindestens sechs Wochen vor Beginn einer krankheitsmodifizierenden Therapie (DMT) zu applizieren, da die Wirksamkeit der Impfung durch einzelne Immuntherapien – wie S1P-Agonisten und CD20Antikörper-Therapien – zum Teil erheblich verringert sein kann, wie Untersuchungen des Antikörperstatus bei diesen Patienten zeigten. Für die Verabreichung des Impfstoffes unter einer laufenden DMT gibt es derzeit nur begrenzte Daten und Empfehlungen der ÖGN.1

DMT und COVID-19-Verläufe

Für die Behandlung der Multiplen Sklerose gilt: Auch in Zeiten der Pandemie ist es wichtig, dass Betroffene ihre Behandlungstermine wahrnehmen. Medikamentöse Therapien können den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und Nervenschädigungen minimieren. Sie sollten daher weitergeführt oder adaptiert werden, um bessere Wirkungen zu erzielen. Aufgrund der DMT und der damit einhergehenden Immunmodulation bei der Behandlung von MS

X Aufruf

Die ÖGN bittet um Informationen zu MSPatienten mit vorliegenden oder vergangenen SARSCoV2Infektionen, um Daten generieren und entsprechende Erkenntnisse gewinnen zu können. Infos: oegn.at/covid19/ covid19undmultiplesklerosems

wurde ein möglicherweise höheres Risiko schwerer COVID-19-Verläufe vermutet. Aktuelle Studienergebnisse sprechen jedoch gegen diese Annahme. Die Auswertung der Daten von 873 Teilnehmern zeigte keinen höheren Risikofaktor bei einer immunsuppressiven Therapie auf.2 „CD20-Antikörper-Therapien können das Risiko eines schwerwiegenden Verlaufes zwar leicht erhöhen, bei S1P-Agonisten ist hingegen eine protektive Wirkung denkbar. Die übrigen Therapien scheinen keinen Einfluss zu haben“ , berichtete Prof. Leutmezer. Aufgrund der limitierten Datenlage empfiehlt die ÖGN derzeit in puncto DMT, nach dem Konzept „Never change a winning team!“ vorzugehen und bestehende Therapien fortzuführen. Bei Anzeichen einer akuten SARSCoV-2-Infektion sollte jedoch vor dem Beginn oder der erneuten Durchführung einer DMT bis zum vollständigen Abklingen der Symptome gewartet werden.

Neue Medikamente, neue Möglichkeiten

Experte zum Thema: a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer

Präsident der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft

Das Behandlungsspektrum habe sich mit der europaweiten Zulassung neuer hochwirksamer Multiple-Sklerose-Medikamente erheblich erweitert, berichtete Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Christian Enzinger, Leiter der MS-Ambulanz und Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie in Graz, bereits anlässlich des WeltMultiple-Sklerose-Tages. Alle Verlaufsformen der MS seien nun grundlegend medikamentös behandelbar. „Die Möglichkeiten haben sich insbesondere bei Therapie-Optionen für aktiven Verläufen er- ZNS-Erkrankungen von A – Z heblich verbessert, mit neuen Darreichungsformen – zum Beispiel in Tablettenform oder als subkutane Spritzen“ , so Prof. Enzinger. Beispielsweise erhielten schon letztes Jahr mit Siponimod und Ozanimod zwei neue www.accord-healthcare.at S1P-Modulatoren eine EU-ZulasAT-01499 Acc_Anzeige ZNS_Ø200_21.indd 2sung. Sphingosin-1-Phosphat(S1P-)- 20.04.21 16:16

Rezeptor-Modulatoren verhindern, dass aktivierte T-Lymphozyten aus den Lymphknoten austreten und später in das ZNS einwandern. Dadurch werden MS-typische Entzündungs- und Schädigungsprozesse reduziert. Im Vergleich zum bereits etablierten Wirkstoff Fingolimod zeichnen sich die neuen Substanzen durch eine erhöhte Rezeptorspezifität (Subtyp 1 und 5) und ein günstigeres pharmakokinetisches Profil aus. Ozanimod kann zur Behandlung von Erwachsenen mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS) eingesetzt werden. Patienten mit sekundär progressiver Multipler Sklerose (SPMS) profitieren von einer Therapie mit Siponimod – einer Weiterentwicklung von Fingolimod. Zu den Wirkstoffen aus der Gruppe der S1P-Modulatoren gehört seit kurzem auch Ponesimod3 . Dieser Modulator wurde im Mai 2021 von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose (RMS – darunter fallen RRMS und SPMS mit überlagerten Schüben) zugelassen. Als eine Besonderheit des oral einzunehmenden Wirkstoffes gilt, dass sein Einfluss auf das Immunsystem schnell reversibel ist. Das bietet Flexibilität im Behandlungsmanagement – beispielsweise bei bevorstehenden Impfungen, schweren Infektionen, aber auch bei der Familienplanung. Neue therapeutische Möglichkeiten eröffnet außerdem Ofatumumab. Dabei handelt es sich um den ersten Anti-CD20-Antikörper zur Behandlung von aktivierter RRMS bei Erwachsenen, welchen sich die Betroffenen selbst subkutan verabreichen können.4 Ofatumumab wurde im März dieses Jahres in Europa zugelassen. Hoffnung für die Zukunft gibt ein BTK-Inhibitor (Bruton-Tyrosinkinase). Im Gegensatz zu bisherigen BTKInhibitoren schafft es der neue Wirkstoff Tolebrutinib (SAR442168), die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und in das Zentralnervensystem vorzudringen. Somit wird direkt im Gehirn auf die Ursachen der Schädigung eingewirkt. Derzeit wird der Wirkstoff in klinischen Studien getestet. In puncto Diagnose und Prognoseabschätzung gibt es ebenfalls Neuigkeiten: Unter der Beteiligung österreichischer Experten wurden 2021 neue europäische und nordamerikanische Konsensus-Empfehlungen für den Einsatz der MRT bei MS veröffentlicht. Darauf machte die ÖGN anlässlich des „World Brain Day 2021“ am 22. Juli 2021 aufmerksam.

Mag.a Ines Riegler, BA

Quellen: 1 Österreichische Gesellschaft für Neurologie: oegn.at/covid19/ covid19undmultiplesklerosems (abgerufen am 21.6.21). 2 Möhn N et al., 2020; 9(12): 4067. Journal of Clinical Medicine. 3 PM von DMSGBundesverband und KKNMS, 26.05.2021. 4 Welsch B, EUZulassung für Ofatumumab bei Multipler Sklerose, Gelbe Liste, 27.04.2021.

This article is from: