eco.mmentar
„WAS IST JETZT SCHON WIEDER PASSIERT?“ Kanzlerrochade. Kurz ist weg, Schallenberg ist da. Wobei: Weg ist Kurz nicht, nur einen Schritt zur Seite getreten. Ob der nächste Schritt ins Out oder wieder zurück ins Zentrum der Macht führen wird, entscheidet die Justiz.
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ie titelgebende Frage darf man sich als gelernter Österreicher getrost stellen. Denn Ruhe im politischen System schaut anders aus. Nach Ibiza vor gerade einmal zwei Jahren ist jetzt schon wieder eine politische Bombe geplatzt. Was vor einigen Tagen noch undenkbar schien, ist Realität: Sebastian Kurz ist, wenn schon nicht zurück-, dann immerhin zur Seite getreten. Ein Blick auf die vergangenen turbulenten Tage rechtfertigt, sich die Frage in mehrfacher Hinsicht zu stellen: Was ist denn jetzt schon wieder passiert in der ÖVP? Da gibt es nicht mehr allzu viel zu sagen. Wer die bekannt gewordenen Chatverläufe verfolgt hat, dachte wohl, im falschen Film gelandet zu sein. Wie es mit Kurz mittelfristig weitergehen wird, liegt nun in der Hand der Justiz. Auch wenn der Side-Step von Kurz nicht bei allen gut ankommt – eine weitere Übergangsregierung wäre keine prickelnde Option gewesen. Die hätte zwar brav verwalten und eine monatelange Wahlkampfphase für eine Neuwahl einläuten können, aber die akuten Herausforderungen erfordern rasche und mutige politische Entscheidungen. Was ist denn jetzt schon wieder passiert bei der Opposition? Schön war es nicht, mitanzusehen, was passiert, wenn die Opposition Blut leckt. Man wurde das Gefühl nicht los, dass es weniger um Österreich als um den eigenen Zugang zur Macht ging. Das führte so weit, dass SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner Bereitschaft zeigte, sich mit dem Gottseibeiuns der Sozialdemokraten, Herbert Kickl, ins Bett zu legen, um die Viererkoalition aus SPÖ, Grünen, Neos und eben den Blauen zu realisieren. Vergessen war die harte Kante gegen Rechts – dem blauen Frontman wurde der rote Teppich zur Regierungsmacht ausgerollt. Wer vor dem „System Kurz“ warnt, sollte auch beim „System Kickl“ nicht auf beiden Augen blind sein. Zur Viererkoalition ist es zwar nicht gekommen – aber Herbert Kickl wird auf seinen Aufstieg
V O N K L A U S S C H E B E S TA
„auf Augenhöhe“ eine Flasche Champagner köpfen. Was ist denn jetzt schon wieder passiert beim Bundespräsidenten? Von ihm kommt das Zitat im Titel. Im vollen Wortlaut sagte Alexander Van der Bellen: „Sie fragen sich in diesen Stunden vielleicht: Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“ So flapsig und dennoch genau auf den Punkt kann das wahrscheinlich nur er formulieren. Bei aller Dramatik und Dynamik ist es immer der Bundespräsident, der mit seiner besonnenen Art das Gackern im Hühnerstall zu beruhigen weiß. Zuerst Ibiza, dann die Übergangsregierung, jetzt schon wieder eine Staatskrise – das Amt des Bundespräsidenten mag vor Van der Bellen eine ruhige Kugel gewesen sein, für diese Amtsperiode gilt das definitiv nicht. Wie auch immer sich die neu ausgewuchteten Machtverhältnisse bewähren werden, eines ist klar: Der Zeitpunkt ist heikel. Das Staatsschiff Österreich passiert gerade rauschende Stromschnellen und es wäre von Vorteil, wenn die Brücke besetzt ist. Das betrifft beispielsweise Corona – bei mageren 60 Prozent Impfquote ist jede Woche eine dramatische Steigerung denkbar; das betrifft die Klimakrise – die mittlerweile von einer akademischen zu einer alltäglichen Bedrohung geworden ist; das betrifft natürlich auch Wirtschaft und Arbeitsplätze – Inflation, Fachkräftemangel und Lieferengpässe bringen hohe Unsicherheiten mit sich, auf die professionell reagiert werden muss. Das alles führt zu enormen Zentrifugalkräften: Alle gegen Kurz; Klimaaktivisten gegen die Wirtschaft; Geimpfte gegen Ungeimpfte; Wohlstandsgewinner gegen Wohlstandsverlierer; die Länder gegen die Zentrale; Nationalisten gegen die EU. Die spannungsgeladene Situation ist jedenfalls das exakte Gegenteil dessen, was Herr und Frau Österreicher über Jahrzehnte gewohnt waren: die gepflegte Langeweile der großen Koalition mit ihrem gähnenden Stillstand. Das wird und soll nicht mehr zurückkommen, aber etwas weniger Dauererregung würde uns allen guttun.