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DIE NATUR ALS LEHRER

MIT INSPIRATION AUS DER NATUR ZURÜCK ZUR NATUR

In der bisherigen Zivilisationsgeschichte war der Fortschritt fast immer von einer Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur begleitet. Die Bionik bzw. bioinspirierte Wissenschaft zeigt, dass das nicht zwangsläufig so sein muss. Der studierte Zoologe und Bioniker Thorsten Schwerte von der Universität Innsbruck zeigt auf, was bioinspirierte Technologie leisten kann, und plädiert dafür, die ethische Dimension immer mitzudenken.

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TEXT: MARIAN KRÖLL

Dass der Mensch aus den Vorgängen, die er in der Natur beobachtet, lernen kann, ist zunächst einmal nichts Neues. Der Universalgelehrte Leonardo da Vinci versuchte, den Flug des Vogels mittels einer Maschine nachzuahmen. Um tatsächlich abzuheben, war der Mensch allerdings zu schwach, seine Körpermasse im Verhältnis zu seiner Muskelkraft viel zu groß. Auch vor und nach da Vinci nahm der Mensch Anleihen bei der Natur. Die Bionik – ein Kofferwort aus Biologie und Technik – beschäftigt sich mit der Übertragung natürlicher Phänomene auf die Technik. Manchmal wird sie auch als Biomimetik, Biomimikry oder Biomimese bezeichnet. Für den technologischen Fortschritt muss man nicht immer das Rad neu erfinden. Interessanterweise gibt es gerade für das Rad kaum Vorbilder in der Natur und es hat die menschliche Fortbewegung geprägt und verändert wie nichts anderes.

Die heutige Bionik sollte allerdings nicht als bloßes Abkupfern von der Natur verstanden werden, sondern eher als durch die Natur angeregtes Neuerfinden. Dementsprechend spricht Thorsten Schwerte, Universitätsprofessor für Zoologie an der Universität Innsbruck und Bionik-Experte, in diesem Zusammenhang lieber von Bioinspiration oder bioinspirierter Technik. Die Natur macht’s vor, der Mensch gewinnt zunehmend die Fähigkeit, natürliche Dinge – modifiziert, teils neu kombiniert und verbessert – nachzuahmen und in allerlei praktische Anwendungen zu überführen. Das birgt nicht zuletzt neue, dringend benötigte Chancen für die Umwelt.

RAPIDE ENTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN

„Mittlerweile sind viele Produktionsverfahren verfügbar, vor allem in Bezug auf Rapid Prototyping, aber auch in der Optik, die viel Neues ermöglichen“, weiß Schwerte und nennt als konkretes Anwendungsbeispiel den 3D-Druck von Nanostrukturen. „Das ermöglicht heutzutage Prototypen, die extrem nahe am natürlichen Vorbild sind.“ Davon verspricht man sich vor allem im Bereich der sogenannten smarten Oberflächen sehr viel, obgleich man von der Marktreife noch ein Stück weit entfernt ist. Die Bioinspiration ist die interdisziplinäre Klammer, die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, meist in den Naturwissenschaften angesiedelt, miteinander verbindet. „Alles in der Natur unterwirft sich den Gesetzen der Physik und den Regeln der Chemie. Deshalb ist das, was in der Natur funktioniert, zwangsläufig auch in artifiziellen Systemen eine sehr gute Lösung“, argumentiert Schwerte und folgert: „Bioinspiration bringt uns näher an die Natur heran.“ Sie ist, könnte man ergänzen, eine Hinwendung zum Ursprünglichen, zum Natürlichen.

Es ist in unserem genetischen Erbe angelegt, dass wir als Menschen der Natur – oder besser gesagt unserer Umwelt – einen hohen intrinsischen Wert beimessen. Das „Lesen“ der natürlichen Umgebung und ihre Erfahrung mit allen Sinnen war lange Zeit und vor allem zu Beginn der Menschheitsgeschichte absolut überlebensnotwendig. „Dazu gehörte es, natürliche Muster zu erkennen. Das hat beispielsweise zur Erfindung der Landwirtschaft geführt“, sagt Schwerte. Und über die Bedeutung der Sesshaftwerdung des Menschen für dessen Zivilisation brauchen wohl keine weiteren Worte verloren werden. Evolutionsbiologisch haben sich immer jene Menschen durchgesetzt, denen jederzeit genügend Energie in Form von Nahrung zur Verfügung stand. „Die Energie steht immer im Zentrum. Sehr viele bioinspirierte Prozesse zeichnen sich durch einen hohen Grad an Effizienz aus“, erklärt Schwerte.

„Bioinspiration heißt nicht, einfach etwas zu kopieren. Man muss sich zuerst über die Funktion im Klaren sein und über die Randbedingungen.“

THORSTEN SCHWERTE

WIE MACHT ES DIE NATUR?

„Durch die von ihm geschaffenen Systeme hat sich der Mensch von der Natur emanzipiert. Er hat Naturgefahren zu beherrschen gelernt, ist ein Kosmopolit geworden. Heute stehen wir allerdings an der Stelle, dass wir sagen müssen, geht der Trend so weiter, wird es zukünftig Regionen auf der Erde geben, in denen der Mensch nicht mehr leben kann.“ Und tatsächlich herrscht an Menetekeln wie verheerenden Flutkatast-

Die Bionik – ein Kofferwort aus Biologie und Technik – beschäftigt sich mit der Übertragung natürlicher Phänomene auf die Technik. Sie sollte allerdings nicht als bloßes Abkupfern von der Natur verstanden werden, sondern eher als durch die Natur angeregtes Neuerfinden.

rophen in den vergangenen Jahren kein Mangel. „Dabei kann man in die Natur schauen, wie diese das Phänomen Klima gelöst hat“, regt Schwerte an. Es ist kein Geheimnis, dass die belebte Natur erst durch die hocheffiziente Nutzung von Sonnenenergie zu dem geworden ist, was wir heute kennen. „Das ist die Photosynthese der Pflanzen und es gibt sogar einige Tiere, die Photosynthese betreiben können. Mittlerweile nähern wir uns bei den künstlichen Photovoltaiksystemen dem Wirkungsgrad der Natur an“, sagt der Forscher, der am Institut für Zoologie in Innsbruck mit seinen Kollegen verschiedenen bioinspirierten Fragen nachgeht. Eine davon lautet „Wie klebt die Natur?“. Dabei geht es um die sogenannte Bioadhäsion. Die federführend von Peter Ladurner am Institut durchgeführte Forschung bringt vielversprechende Resultate. „Bioinspiration heißt nicht, einfach etwas zu kopieren. Man muss sich zuerst über die Funktion im Klaren sein und über die Randbedingungen“, sagt Thorsten Schwerte in Bezug auf die Arbeit an smarten Oberflächenstrukturen. Was im Wasser gut funktioniere, wie etwa ein der Haihaut nachempfundenes Material, könne an der Luft beispielsweise weitgehend wirkungslos sein. In einem vom FFG geförderten Projekt, dem sogenannten Innovationscampus, wollen Schwerte und seine Kollegen unter dem Motto „Bionik für Designer“ Wissen aus der Grundlagenforschung in die Wirtschaft und insbesondere die Industrie transferieren. Ein ehernes Naturgesetz muss besonders vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen in der Gestalt von Green Tech stärkeren Widerhall in der Wirtschaft finden: Das Prinzip, dass „Dinge nicht ewig halten, sondern immer hundertprozentig recycliert werden“, formuliert Schwerte und verweist in diesem Zusammenhang auf das Cradle-to-Cradle-Prinzip, einen vielversprechenden Ansatz hin zu einer durchgängigen und konsequenten Kreislaufwirtschaft. „Grüne Technologien sind eine Spielwiese der Bioinspiration“, sagt Schwerte und nennt exemplarisch das Thema Biopolymere, aus denen biologisch abbaubare Werkstoffe gemacht werden können.

Bislang sei es in der Technik überwiegend so gewesen, dass Einzelkomponenten optimiert würden und kaum das System als Ganzes, hält Schwerte fest. Der Wissenschaftler favorisiert demgegenüber Design Thinking, einen Ansatz, der Lösungen finden will, die sowohl aus Anwender- bzw. Nutzersicht überzeugen als auch markt- und produktorientiert sind. „Design Thinking wird in vielen anderen Bereichen eingesetzt, nur lautet unsere Prämisse eben, dass die Lösung bioinspiriert sein soll“, sagt der Bioniker.

WAHRNEHMUNGSFRAGEN

„Verdammt komplex“ sei sie, die Kybernetik in der Natur, meint Schwerte. Die Bionik ist schon aufgrund ihrer Forschungsinhalte dazu prädestiniert, sensibel mit der Natur und den unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seiner Natur umzugehen. Als Beispiel nennt Schwerte den Umgang mit Licht, das für den Biorhythmus des Menschen maßgeblich ist. Und für jenen der Tiere. Exemplarisch festgemacht werden kann das an den Leuchtdioden, die anfänglich vor allem kaltweißes Licht mit hohem Blauanteil emittiert haben, das nachts tagaktive Insekten magisch anzog. Mittlerweile setzt man wieder verstärkt auf warmweiße LEDs, die dem Licht der Glühbirnen wieder näherkommen.

Das Verständnis dafür, wie das Wahrnehmungssystem von Lebewesen funktioniert, ist eine wichtige Grundlage für die Entwicklung bioinspirierter Anwendungen und zugleich eine ethische Herausforderung, wie Schwerte erläutert: „Das ist vor allem dann der Fall, wenn man auf dieser Basis gewisse Dinge auslöst, um sich einen Vorteil zu verschaffen.“ Es ist durchaus vorstellbar, dass es Unternehmen gibt, die der Manipulation ihres Zielpublikums nicht prinzipiell abgeneigt sein dürften. Profit wiegt eben in der Wirtschaft nicht selten schwerer als ethische Unbedenklichkeit.

Thorsten Schwerte forscht aber nicht nur theoretisch in der Bionik, sondern hat bereits ein Patent namens „MoskitoNavigEX“ angemeldet. Das Gerät, das sich im Prototypstadium befindet, macht sich die Mani-

pulation der Wahrnehmung von Moskitos zunutze, ohne diese zu töten. Dagegen ist also aus ethischer Sicht nichts einzuwenden. „Wir projizieren bewusst sich bewegende Lichtmuster in einen dunklen Raum und arbeiten dabei mit Lichtfarben, die den Menschen nicht stören. Die Tiere versuchen, diese Bewegungsmuster mit einem Gegenflug zu kompensieren. Damit lenken wir die Moskitos davon ab, Menschen anzufliegen“, führt Schwerte aus, der mit seinem Team daran arbeitet, das Gerät zur Marktreife zu bringen. Der globale Markt ist riesengroß und umfasst zumindest alle Menschen, die schon einmal von einer Stechmücke angezapft wurden. „Durch Reverse Engineering können wir heute viele optische Effekte gezielt berechnen, um damit den gewünschten Effekt auszulösen“, sagt Schwerte über den Status quo in der Forschung.

Die Bionik streift dann und wann selbst an schwierigen, jahrtausendealten philosophischen Fragen über Leben und Tod an. „Setzt man einen Fischembryo in eine sauerstofffreie Umgebung, hören sämtliche Prozesse auf, die Zellteilung bleibt stehen, das Herz ebenso, das Blut zirkuliert nicht mehr, die Atmung setzt aus. Diesen Zustand kann man über 24 Stunden und teils sogar länger aufrechterhalten. Gibt man dann vorsichtig wieder Sauerstoff hinzu, ist das Tier reanimiert. Wie man den Zustand nennen soll, in dem sich der Embryo vorübergehend befindet, ist eine philosophische Frage“, führt Schwerte aus, um schließlich zu einer provisorischen Zustandsbeschreibung zu kommen: „Der Embryo ist vorübergehend deanimiert.“ Ob ähnliche Zustände, inspiriert von der Tierwelt, zukünftig auch beim Menschen eintreten werden, ist primär eine Frage des medizinischen Fortschritts. Vieles, was bis vor kurzem noch dem Genre der Science Fiction zugeschlagen wurde, wird bald Wirklichkeit werden, manches steht unmittelbar vor der Marktreife, von anderem existieren bereits erste Prototypen.

Es stehen, so viel scheint gewiss, zivilisatorische Umbrüche an. Dabei ist es wichtig, die ethischen Implikationen des technologischen Fortschritts bereits in der Entwicklungsphase mitzudenken, wofür auch Thorsten Schwerte ausdrücklich plädiert. Der Mensch ändert vermittels Technologie nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst, vor allem durch die Methoden der modernen Medizin und der Genetik. Ethisch drängt sich in diesem Zusammenhang vor allem die uralte Frage auf, ob der Mensch all das auch tun soll, was er theoretisch tun kann.

„Empathie gegenüber der Natur müssen wir uns kollektiv erst wieder bewusst machen.“

THORSTEN SCHWERTE

VERSCHIEDENE REALITÄTEN

Nicht zufällig fällt im Gespräch mit dem Wissenschaftler auch der Name „Meta“, der neue Name von Mark Zuckerbergs Tech-Konzern Facebook. Der Multimilliardär schraubt emsig an einem Metaverse, einer mittel Virtual-Reality-Brille erlebbaren virtuellen Realität, die der echten zumindest Konkurrenz machen, wenn sie nicht sogar teilweise ersetzen soll. Der Name entstammt Neal Stephensons SciFi-Roman Snow Crash. Dessen Protagonisten fliehen immer wieder aus der trostlosen Realität in das Metaverse, eine Mischung aus Internet und Online-Rollenspiel, durch das sie sich mit Avataren bewegen. Die gezielte Beeinflussung der Menschen in ihrer Rolle als Konsumenten durch psychooptische Tricks und Kniffe sind in einem Metaverse, wie es dem Facebook-Gründer wohl vorschwebt, aus heutiger Sicht nicht auszuschließen.

Doch gibt es nicht nur eine Virtual Reality, sondern auch eine Mischung aus physischer und virtueller Welt, eine sogenannte Mixed Reality. Es handelt sich dabei definitionsgemäß um eine Mischung aus einer rein virtuellen Erweiterung der echten Welt und einer vollständig virtuell erzeugten. Diese Mixed Reality ist im Gegensatz zur Virtuellen Realität weniger energieintensiv, erweitert aber die Natur beträchtlich. Mit Locandy gibt es schon einen FFG-geförderten Mixed-Reality-Player made in Tirol. In der aktuellen Forschung geht man sogar davon aus, dass Mixed Reality sich besser zur Informationsvermittlung eignen könnte als selbst perfekt umgesetzte Virtuelle Realität. „Nur weil eine Illusion perfekt ist, muss das nicht heißen, dass sie zur Vermittlung von Information geeignet ist“, sagt Schwerte.

IN DER NATUR GEHT NICHTS VERLOREN

Effizienz gehört zu den Grundprinzipien der Bionik, die bemüht ist, das Maximum aus möglichst geringem Ressourcen- bzw. Energieeinsatz herauszuholen. Nichts anderes geschieht in der Natur. In der Natur geht nichts verloren, alles wird wiederverwertet. Ein solcher Zugang stünde einer Menschheit, die die Erde seit vielen Jahrzehnten chronisch übernutzt, gut an. „Empathie gegenüber der Natur müssen wir uns kollektiv aber erst wieder bewusst machen“, meint der Wissenschaftler. Es scheint plausibel, dass diese Empathie sukzessive verloren gegangen ist, weil der Mensch der Erde seinen Stempel aufgedrückt und sich dabei von der Natur entfremdet hat und mit der fossilen Energie, die es scheinbar im Überfluss zu geben schien, bis heute relativ verschwenderisch umgeht.

Die Klage über den bevorstehenden Untergang des Abendlandes ist freilich so alt wie dieses selbst. Es deutet aber tatsächlich einiges darauf hin, dass die Erdbeziehung des Menschen schon in naher Zukunft grundlegend neu verhandelt werden muss. Die Bionik bzw. Bioinspiration kann dabei behilflich sein, auf Grundlage der Natur zu selbiger zurückzufinden.

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