chilli cultur.zeit

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RENNAISSANCE 3.0

»ALGO-R(H)I(Y)THMS 2023«

ZKM | Zentrum für Kunst und Medien

25.3.2023 – 7.1.2024

KULTUR

GROSSE STARS AUF

FREIBURGS BÜHNEN

LITERATUR

KRIMIPREIS-STORYS ÜBER LOST PLACES

MUSIK

ZMF-PREIS FÜR GEIGER

MANUEL DRUMINSKI

13.
HEFT NR. 3/23
JAHRGANG

Das Beobachten der Beobachter

Das Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) hat bei der Abschiedsausstellung

„Renaissance 3.0 ein Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert“ für seinen kürzlich verstorbenen langjährigen künstlerisch-wissenschaftlichen Leiter Peter Weibel einen fulminanten Start hingelegt. Und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Es ist nicht nur eine Exposition, es ist auch ein veritables Forschungsprojekt, das einen Bogen von der arabischen (9.–12. Jahrhundert) über die italienische (15.–17.) bis hin zur Medienkunst des 21. Jahrhunderts schlägt. Immer ging und geht es um das kreative Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft. Ein zentrales Element der Renaissance 3.0 bildet das interaktive Wissensfeld, in dem Besucherinnen Begriffe im Raum physisch ansteuern und sich dann – von ChatGPT – erläutern lassen können. Das Wissensfeld ist als eine experi-

mentelle Kollaboration zwischen Mensch und Maschine konzipiert, bei der menschliches und maschinelles Lernen performativ in Aktion zueinander treten.

Die Ausstellung mit 35 Positionen zeigt nicht nur Werke zum Betrachten – etwa den ersten portablen Computer aus 1970 oder Grundlagenbücher der Kybernetik –, sie fordert die Besucher vielmehr zum Anfassen, zum Ertasten, zum Sich-in-der-Kunst-Bewegen, zum Experimentieren auf. Der renommierte Kunsttheoretiker Bazon Brock lieferte zum Auftakt eine intelligent kurzweilige, zuweilen auch professoral zerstreute Rede und ein spannendes Theorem: Das Neue in der Kunst entstehe nicht etwa durch das neue Kunstwerk. Es entstehe durch das Betrachten des Betrachters dieses Kunstwerks. Manchem drängte sich dabei die Heisenbergsche Unschärferelation auf, nur spiegelverkehrt: Es ist nicht der Beobachter, der das zu Beobachtende durch seine Beobachtung verändert. Es ist der Beobachtende des Beobachtenden, der sich dadurch verändert.

Das Theorem materialisiert sich in einem Klangraum (Künstler: Thomás Saraceno), in dem ein Spinnennetz

hängt. Zupft man an einem Faden, ertönen Klänge. Zupfen mehrere an den Fäden, spinnen sie zusammen ein Klangnetz. Vor dem Eingang ins weiße Kuppelzelt – es hört auf den Namen Algo-r(h)i(y)thms – beobachten Besucher die experimentellen Musiker dabei, wie sie sich in dieser Klangwelt verhalten: Der eine zupft zart, die andere spielt eher Bass; der eine legt sich auf den Boden, die andere verrenkt sich, um sich im Raum zu bewegen, ohne das Netz zu berühren.

Die Chaostheorie ist ein geläufiger Begriff in der Wissenschaft. Barrierefreier formuliert: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, ändert sich in Wuppertal das Wetter. Im Klangraum führt dieses Chaos von je für sich Handelnden zu gemeinsamen Sequenzen – und ganz nebenbei versteht man auch plastisch, wie die Spinne es mitkriegt, wenn sich am anderen Ende etwas im Netz verfängt. Das ist Kommunikation und – im Wortsinn – Vernetzung. Genau das also, was den Menschen im 21. Jahrhundert mehr beschäftigt als in allen Jahrhunderten davor. Eine nicht nur sehenswerte Ausstellung, eine begreifenswerte.

RENAISSANCE 3.0 IM ZKM: INTERAKTIVE WISSENSFELDER Interaktive Installationen: Das Spinnennetz der Klänge von Tomás Saraceno und der Electrotextile Prehispanic Computer von Constanza Piña Pardo von Lars Bargmann
Fotos: © ZKM Karlsruhe, Fotos: Felix Grünschloß 40 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2023 KULTUR

Open Air oder im Zelt

GEBALLTES STARAUFGEBOT IN FREIBURG

ZELT-MUSIK-FESTIVAL

(jp). Zum 39. Mal präsentiert das Zelt-Musik-Festival große Namen, altbekannte Gäste und Newcomer. Den Auftakt machen die deutschsprachige Popband Jan Josef Liefers & Radio Doria sowie die Magier Siegfried & Joy mit ihren Shows am 12. Juli. Das Line-up ist bunt, die Künstler national als auch international unterwegs. So gibt sich die Independent-Singer-Songwriterin Joss Stone die Ehre – und feiert nicht nur 20-jähriges Bühnenjubiläum, sondern auch eine große Bandbreite ihrer Songs. Mit Katie Melua spielt eine weitere Britin im Zirkuszelt. Die Musikerin, die durch Hits wie „The Closest Thing to Crazy“ bekannt geworden ist, gibt sich als moderne Geschichtenerzählerin der britischen Popmusik. Mit Mayberg hält auch ein Newcomer Einzug auf dem Festival am Mundenhof. Als höchster Neueinsteiger in den deutschen Singlecharts 2022 ist er im modernen Indie-Genre daheim und leiht mit seinen gut beobachteten Texten der heutigen Jugend seine Stimme. Ein letzter „besonderer Act“ steht noch aus – wer es ist, wird im Juni bekannt gegeben.

MÜNSTER PLATZKONZERTE 2023

(jp). Fünf Tage Live-Musik auf dem Münsterplatz, fünf verschiedene Musikrichtungen: Das hat sich das Bündnis Freiburg Live für dieses Jahr vorgenommen, um das Angebot an Kunst und Kultur in der Innenstadt zu erweitern. Neben Klassikaufführungen der Albert Konzerte und dem Freiburger Barockorchester beehrt Peter Maffay mit seiner Band die Freiburger. Auch „Sea You“-Veranstalter Bela Gurath hat sich nicht lumpen lassen: Er bringt mit dem britischen Techno-DJ Carl Cox und dem Worakls Orchestra einen sonst eher ungewohnten Sound auf den Münsterplatz. Auf die letzte Konzertankündigung wird hingegen noch gewartet. Ein nationaler oder internationaler Star soll es sein. Wer das ist? Das ist die Frage. Bis Ende April oder Anfang Mai müssen sich die Fans noch gedulden, erst dann lässt Vaddi die Bombe platzen. Aber so viel hat die chilliRedaktion schon herausgefunden: Sting und Coldplay werden es nicht.

JASON DERULO & APACHE 207

(jp). So einen großen Starauflauf in kürzester Zeit gab es im Breisgau schon lange nicht mehr: Während sich in den vergangenen Jahren „Die Toten Hosen“ und Herbert Grönemeyer die Klinke in die Hand gaben, darf sich Freiburg im August an zwei aufeinanderfolgenden Tagen auf gleich zwei Topstars freuen. Den Auftakt macht Jason Derulo, der 2009 mit seinem ersten Hit „Whatcha Say“ direkt auf Platz eins der amerikanischen Singlecharts kletterte. Mit seinen neuesten Songs im Gepäck und einer neuen Show spielt er in Freiburg sein einziges Konzert in Südbaden. Eingetütet wurde der Gig im Februar durch Vaddi-Geschäftsführer Marc Oßwald auf der International Live Music Conference in London. Einen weiteren Topact präsentiert der Konzertveranstalter nur einen Tag später mit Apache 207. Seit seinem Hit „Roller“ ist der gebürtige Mannheimer aus den Charts nicht mehr wegzudenken. Auch seine Show ist alles andere als gewöhnlich. So werden auch mal schnell ein Ruderboot und ein überdimensionales Telefon auf der Bühne zweckentfremdet. Sein neuester Coup: das Duett „Komet“ mit dem Rocker Udo Lindenberg.

APRIL 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 41
12. – 30. Juli 2023 Mundenhof, Freiburg Jason Derulo: 11. 8., 20 Uhr Apache 207: 12. 8., 20 Uhr Messegelände Freiburg 14. – 18. Juni Münsterplatz, Freiburg Fotos: © Apache207, Martin Depict, Klaus Polkowski, iStock.com/bbsferrari , 8213erika

Die Gewerkschafterin

Frankreich 2022

Regie: Jean-Paul Salomé

Mit: : Isabelle Huppert, Yvan

Attal, Grégory Gadebois, Pierre Deladonchamps, Marina Foïs u. a.

Verleih: Weltkino

Laufzeit: 122 Minuten

Start: 27. April 2023

Bizarrer Verdacht

ISABELLE HUPPERT IST HAUPTDARSTELLERIN IM VERSCHWÖRUNGSTHRILLER UM DIE SYNDIKALISTIN

MAUREEN KEARNEY

An einem Dezembertag im Jahr 2012 findet Maureen Kearnys Haushälterin ihre Chefin in einem Kellerraum ihres Hauses in einem Vorort von Paris. Die Irin, die seit Mitte der 1980er-Jahre mit ihrem französischen Ehemann in Frankreich lebt, wurde offenbar Opfer eines gewaltsamen sexuellen Übergriffs. Sie ist gefesselt und schwer traumatisiert, kann sich nur höchst bruchstückhaft an den Überfall erinnern. Von dem oder den Tätern fehlt jede Spur – bis auf ein großes A, das sie in die Haut ihres Bauches geritzt haben.

Ob dieses irgendwie bedrohlich wirkende A für Areva steht? So lautet der Name des Industriekonzerns, bei dem Kearny, die während ihrer ersten Jahre in Frankreich als Englischlehrerein arbeitete, schon seit Langem als gewerkschaftlich organisierte Personalrätin tätig ist. Als einer der Atomgiganten des Landes ist das Unternehmen vor allem auf dem Gebiet der Einrichtung nukleartechnischer Anlagen aktiv.

Einige Monate zuvor hatte die engagierte Frau durch einen Whistleblower von einem geheimen Deal zwischen einem großen chinesischen Energieversorger und dem Staatskonzern Electricité de France (EDF) erfahren. Da auch Areva

diesem weltweit zweitgrößten Stromerzeuger zugeordnet ist, hegte sie bald darauf die Befürchtung, dass in ihrer Firma Tausende von Jobs wegfallen könnten. Und das wollte die hauptamtliche Gewerkschafterin, die sich immer für die Belange ihrer Kollegen – und insbesondere der viel zu wenig geförderten Kolleginnen – eingesetzt hatte, um jeden Preis verhindern.

Maureen findet heraus, dass der neue Geschäftsführer Luc Oursel, dem sie ohnehin nie über den Weg traute, bereits sehr konkrete Pläne schmiedet, wie künftig beim Bau von Atomkraftwerken mit China zu kooperieren ist. Und dass dabei sensible nukleare Technologien nach China transferiert würden. Da wird sie aktiv: Zur Rettung von 50.000 Arbeitsplätzen in Frankreich droht sie, selbst zur Whistleblowerin zu werden und die als Staatsgeheimnis gehüteten dubiosen Geschäfte öffentlich zu machen.

Kurz darauf ereignet sich der brutale Überfall. Der möglicherweise kein Zufall ist: Die Aufdeckung der klandestinen Machenschaften hätte die Atomindustrie erschüttert und einflussreiche Entscheidungsträger gefährdet. Und dann bringen die Ermittler plötzlich neue Indizien auf den Tisch, nach denen Kearny unglaubwürdig sei und den Vorfall selbst inszeniert habe. Eine Schmutzkampagne beginnt, sie wird vom Opfer zur Verdächtigen.

von Erika Weisser
42 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2023 KINO
Fotos: © Weltkino

DIE KAIROVERSCHWÖRUNG

Schweden 2022

Regie: Tarik Saleh

Mit: Tawfeek Barhom, Fares Fares u.a

Verleih: X-Verleih

Laufzeit: 120 Minuten

Start: 6. April 2023

Gefährlicher Strudel

(ewei). Für Adam, Sohn eines einfachen ägyptischen Fischers, wird ein lang gehegter Traum wahr: Er erhält ein Stipendium, um an der renommierten al-Azhar-Universität in Kairo zu studieren. Hoffnungsvoll beginnt er seine neue berufliche Laufbahn. Doch kurz nach Adams Ankunft stirbt plötzlich der Groß-Imam und Rektor der Universität. Es beginnt ein erbittert geführter politischer Kampf um die Nachfolge, in dem sich Kandidaten aus verschiedenen, ja gegnerischen islamischen Glaubensrichtungen in Stellung bringen. Adam ist verwirrt, weiß nicht, wen er unterstützen soll, wird aber bald vom ziemlich undurchsichtigen Regierungsbeauftragten Ibrahim angesprochen. Es gelingt ihm, den unerfahrenen Fischersohn als Informanten für den ägyptischen Geheimdienst zu rekrutieren. Und so gerät der Junge in einen gefährlichen Strudel aus Korruption, Macht und staatlicher Lenkung, in die Verflechtung von Religion und Politik. Spannender Polit-Thriller, für den wir 2 x 2 Kinokarten auf chilli-freiburg.de verlosen.

DAS LEHRERZIMMER

Österreich 2022

Regie: Adrian Goiginger

Mit: Simon Morzé, Karl Markovics u.a.

Verleih: Alamode

Laufzeit: 118 Minuten

Start: 13. April 2023

Friedliche Freundschaft

(ewei). Mitte der 1920er-Jahre gibt der bitter arme Bergbauer Streitberger seinen Sohn Franz in die Obhut eines Großbauern. Wobei Knechtschaft das passendere Wort für diese „Obhut“ ist: Für karge Mahlzeiten und Unterkunft in einer erbärmlichen Kammer muss Franz, der fast noch ein Kind ist, von früh morgens bis tief in die Nacht schwere Arbeit leisten. Und da er praktisch ohne Ansprache und soziale Kontakte leben muss, wird er zum Einzelgänger.

Das ändert sich auch nicht, als seine Knechtschaft mit der Volljährigkeit endet. Zumal er sich gleich in die nächste begibt: Da er dem Vater nicht verzeihen und nicht nach Hause zurückkehren kann, geht er, der „nichts gelernt“ hat, zur Armee. Nach der nazi-deutschen Einverleibung Österreichs wird er Motorradkurier bei der Wehrmacht. Auf einer seiner Fahrten trifft er auf einen verletzten Fuchs, freundet sich mit ihm an und nimmt ihn zu sich. Und findet seinen inneren Frieden. Inmitten von Krieg und Feindseligkeit der Kameraden.

Deutschland 2022

Regie: İlker Çatak

Mit: Leonie Benesch, Rafael Stachowiak u.a.

Verleih: Alamode

Laufzeit: 98 Minuten

Start: 4. Mai 2023

Spiegel der Gesellschaft

(ewei). Carla Nowak ist eine ziemlich engagierte Sport- und Mathematiklehrerin, als sie ihre erste Stelle an einem Gymnasium antritt. Im neuen Kollegium fällt sie durch ihren unbeirrbaren Idealismus auf – und wird von älteren Kollegen zuweilen auch belächelt.

Irgendwann kommt es in ihrer Klasse zu einer Reihe von Diebstählen; dabei wird ausgerechnet Ali dringend verdächtigt. Die Lehrer versuchen, ihn zu überführen, doch Carla, die über deren Vorgehen entsetzt ist, beschließt, der Sache eigenständig auf den Grund zu gehen. Und bald fällt ihr Verdacht auf eine ganz andere Person. Die Situation eskaliert; bei ihrem Versuch, zwischen empörten Eltern, rechthaberischen Kollegen und angriffslustigen Schülern zu vermitteln, wird Carla schonungslos mit den Strukturen des Systems Schule konfrontiert. Je verzweifelter sie sich bemüht, alles richtig zu machen, desto mehr verhärten sich die Fronten, an denen sie zu zerbrechen droht. Mikrokosmos Schule als Spiegel der Gesellschaft.

DER FUCHS
Foto: © X-Verleih Foto: © Alamode
KINO
Foto: © Alamode

„So gut wie Lindsey“

Jahrelang lebte er in Freiburg. Zuletzt in Kuwait. Jetzt in Salzburg. Sogar für den Papst hat Manuel Druminski schon Geige gespielt. Im Sommer bekommt der 39-Jährige den ZMF-Preis 2023. Festival-Gründer Alexander Heisler findet ihn so gut wie einen Weltstar.

Weit reisen, um weit zu kommen. So könnte man Manuel Druminskis Leben in einen Satz fassen. Der gebürtige Chilene ist in München groß geworden und aktuell mal wieder dabei, seinen Platz neu zu finden: Seit Dezember ist er 1. Konzertmeister beim Mozarteumorchester Salzburg. Dahin hatte es ihn aus Kuwait verschlagen. Dort lehrte er Geige an der Hauptstadt-Universität des Emirats.

„Ich hatte persönliches Interesse am Mittleren Osten“, erzählt Druminski beim Telefoninterview aus Salzburg. Zwei Jahre wollte er bleiben, verbunden mit Reisen nach Jordanien, Syrien oder Ägypten. Doch Corona funkte dazwischen – aus zwei wurden drei Jahre. Zwei Adoptivhunde begleiteten ihn – auch beim Proben. „Ich habe sie in Kuwait adoptiert, sie wären sonst nicht mehr

im Leben, eine heftige Story“, erinnert sich Druminski.

Der Wunsch war groß, von Kuwait wieder in den deutschsprachigen Raum zu kommen. In Salzburg klappte es, auch wenn er sich am Morgen nur mäßig motiviert zum Vorspielen schleppte. „Es ist schon etwas anders da“, erzählt Druminski. An die Mentalität müsse er sich gewöhnen. Doch die Energie und Aufbruchsstimmung im Orchester gefallen ihm.

Druminski ist ein klassischer Geiger, der Gratwanderungen liebt. Schon früh probierte er sich mit HipHop-Crossover-Projekten wie „Einshoch6“ aus. Heute ist er Teil von „Free Vivaldi“, spielt Geige zu Beats und Breakdance. Außerdem arbeitet er mit dem Schauspieler Sebastian Koch zu Tolstois Werken zusammen. „Ich will noch viel mehr machen“, sagt er.

Auch in Chile, Nigeria und Kolumbien hatte Druminski Engagements. Und für den Papst konnte er in Rom spielen. Anlass war sein Einsatz zum Thema Missbrauch, da er selbst auf einem katholischen Internat war. Das Gespräch bei einem Tee mit Franziskus hat ihn beeindruckt: „Das war Enkel-Großvater-Feeling – erstaunlich, wie menschlich er war.“

In Freiburg lebte der Grenzgänger

von 2009 bis 2016. Die Stelle als Konzertmeister beim Philharmonischen Orchester war eine prägende und sein erster Job: „Ich bin wahnsinnig gerne in Freiburg, die kleinen Gassen, das Flair ...“ Unvergessen bleibt sein Rettungseinsatz, als Stargeigerin Lindsey Sterling 2015 beim ZMF absagte. Innerhalb von zwei Stunden sprang er ein – ZMF-Gründer Alexander Heisler schwärmt noch heute: „Er war garantiert so gut wie Lindsey.“ Und das ohne Vorbereitung.

Druminski brillierte mit einer elektronischen Geige – ohne Gage. Heisler wird ihn nun, acht Jahre später, mit dem ZMF-Nachwuchspreis auszeichnen. Alle Kriterien seien erfüllt. Druminski nennt er eigenständig und bodenständig. „Ein toller Geiger.“

Für Druminski geht die Reise weiter. Wo er am liebsten hin möchte?

„Ehrlich, ich weiß es nicht“, lautet die Antwort. Entscheidend sei, nicht nur einfach seinen Dienst zu machen, sondern die Vielfalt zu bewahren. Höhen und Tiefen hat er viele erlebt. „Manchmal dachte ich: Das war’s.“ Doch dann sei wieder eine Tür aufgegangen. So wie die nach Salzburg.

GEIGER MANUEL DRUMINSKI BEKOMMT ZMF-PREIS von Till Neumann
Mit Papst Franziskus einen Tee getrunken
Grenzgänger: Manuel Druminski spielt klassische Geige und ist im HipHop zu Hause.
44 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2023 MUSIK
Foto: © Sebastian Gomez Espinosa

Zwischen Gitarren und Büchern

FREIBURGER VON LAMBS & WOLVES VERÖFFENTLICHEN NEUES ALBUM

Lange haben sie gewartet. Nun können die Musiker von Lambs & Wolves ihre Platte in Händen halten. Auf „The Devil in the Orchard“ hat die in Freiburg gegründete Band ihren FolkSound erweitert und musikalische Experimente gewagt. Das kam auch bei der gut gefüllten Release-Show im Jazzhaus an.

Julian Tröndle wirkt zufrieden – nur nicht mit dem Namen seiner Band.

„Mit etwas kognitivem Aufwand wären wir auf etwas Besseres als Lambs & Wolves gekommen“, findet er. Mit 16 Jahren gründete Tröndle eine Kombo unter dem tierischen Namen. Und hat sich ein kleines Netzwerk aufgebaut. „Als sich die Gruppe später in Freiburg neu gründete, haben wir den Namen mitgenommen“, blickt der Pianist und Sänger zurück.

Heute würde der 30-Jährige, der inzwischen nach Esslingen gezogen ist, das anders handhaben. Zumal er die alten Songs von der Plattform Bandcamp genommen hat. „Sie haben nichts mehr mit uns zu tun“, sagt er. Das Englisch sei auf den frühen Nummern nicht das Beste gewesen, stilistisch habe Tröndle versucht, wie Bon Iver zu klingen.

Das 2021 erschienene Album „Not a Party at all“ war ein Neustart. Darauf präsentierte Tröndle mit Gitarrist Stefan Bercher und Multiinstrumentalist Louis Groß melancholischen Folk, der die Hörer·innen in den Bann zieht. Damit haben Lambs & Wolves – inzwischen mit Jamie Craig an den Drums – auf „The Devil in the Orchard“ nicht gebrochen. Im Gegensatz zum eingängigen Debüt lugt die Kombo aber immer wieder über den musikalischen Tellerrand.

Bei der Plattentaufe im Jazzhaus wirken Band und Gastmusker·innen selbst überrascht, wie voll es im Kellergewölbe geworden ist. „Ihr seid viele“, sagt Tröndle sichtlich erfreut. Ein Großteil der Gäste hört die neuen Songs zum ersten Mal. Das tut der Stimmung keinen Abbruch – zumal es auf „The Devil in the Orchard“ viel zu entdecken gibt. Zu Highlights werden dennoch zwei schon bekannte Nummern. Neben dem atmosphärischen Titeltrack ist das vor allem die Single „Ghost's Fingers“: Groß entlockt der E-Gitarre experimentelle Klänge, die sich weit vom Folk wegbewegen.

Combs – als Rausschmeißer servieren die Lämmer und Wölfe ein Cover seines Songs „Belong to Heaven“. Neben der Musik sind Tröndle und Groß eifrige Leser. „Literatur fließt stark in unsere Songs ein“, sagt Tröndle. Die Liebe fürs Literarische ist schon in den ersten Sekunden des neuen Albums zu hören. Der Prolog besteht aus einem Gedicht, das später noch einmal aufgegriffen wird. Der Song „Taming the Shrew“ dagegen ist ein Fingerzeig auf Shakespeares Drama „The Taming of the Shrew“

Atmosphärische Songs und experimentelle Klänge

(„Der Widerspenstigen Zähmung“). Doch ist der Song keine Inhaltswiedergabe der Komödie. Wie alle Songs von Lambs & Wolves bietet die Nummer mit Zeilen wie „I had my arms full of candy and medicine“ Spielraum für Interpretationen. „Mir gefällt es, wenn Texte offen sind und assoziativ scheinen“, sagt Tröndle.

Inspiration ziehen Lambs & Wolves vor allem von US-amerikanischen Musikern. Als ihren liebsten Songwriter nennt Tröndle auf der Bühne Cass Mc-

Die in Freiburg und Augsburg aufgenommene LP ist seit Herbst fertig. Doch Termine in Vinyl-Presswerken sind rar, drei bis vier Monate musste die Band warten. Ein Nebeneffekt für Tröndle: „Wir haben schon wieder neues Material geschrieben.“

von Pascal Lienhard Amerikanischer Folk aus Freiburg: Lambs & Wolves überzeugen live und auf Platte.
MUSIK
Fotos: © pl, Erdan Genc
APRIL 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 45

Schubert goes Country

3 FRAGEN AN DAVID WILLIAM HUGHES

Wie hätte es geklungen, wenn die Beatles klassische Musik interpretiert hätten? Das beantwortet der Freiburger Musik-Doktorand David William Hughes auf dem Album „Come Again“. Mit chilli-Volontär Pascal Lienhard hat der 33-Jährige über seine ausgefallene Idee gesprochen.

Wie sind Sie darauf gekommen, Alte Musik komplett neu zu interpretieren?

In meiner Forschung an der Musikhochschule Freiburg beschäftige ich mich mit dem Retro-Begriff. Ich habe mir überlegt, wie Bands der frühen Pop- und Rockmusik mit Alter Musik umgegangen wären. Daraus ist die Schallplatte „Come Again“ entstanden. Finanzielle Unterstützung habe ich vom Landesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst bekommen. Digital sind die Songs auf Bandcamp zu hören.

Wie klingt das Album?

Ich habe für die Aufnahmen Equipment aus den 1950er- und 1960er-Jahren verwendet. Die Songs habe ich mit befreundeten Musikern im Home-Studio aufgenommen. Das bekannteste Stück ist „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Franz Schubert. Da habe ich mich an einem Country-Sound orientiert. Das passt gut zur Thematik.

Was macht Alte Musik für Sie besonders?

Ich finde es cool, wie modern die Stücke thematisch wirken. Da finde ich häufig Dinge, die ich eher von Popmusik erwarte. Das ist wirklich spannend.

Wunsch vs. Realität

(pl). Poppige Gitarrenmusik mit Ohrwurmpotenzial: Damit hat sich die Simonswälder Band Über Ich seit 2021 einen Namen gemacht. Nachzuhören ist der eingängige Sound des Trios auf der aktuellen Single „El Dorado“. Damit erfinden die Jungs das musikalische Rad zwar nicht neu, dürften aber dennoch viele Hörer·innen ansprechen.

Die Nummer startet elektronisch, bevor die Gitarre einsetzt und Sänger und Bassist Stoi die Schere zwischen Träumerei und Realität besingt. Da bleibt das Abenteuer mal wieder Fantasie, die „Banalität verdrängt die mögliche Magie“, sEl Dorado wird nicht entdeckt. Doch nach einem melodiösen Gitarrensolo werden in der Bridge trotz allem die Segel in Richtung legendäres Goldreich gesetzt. Der Refrain der Nummer geht gut ins Ohr, ist aber kein so penetranter Ohrwurm wie die Debüt-Single „Welthit“ von 2021.

Der Sound von Über Ich erinnert phasenweise an eine softere Version der deutschsprachigen Songs der Donots. Wer seinen Punk lieber mit Ecken und Kanten hat, wird sich für Über Ich wahrscheinlich nicht begeistern können. Wer dagegen auf Gitarrenmusik mit viel Pop-Appeal steht, für den oder die könnte „El Dorado“ aus Simonswald zum Dauerbrenner werden.

Vielschichtiger Punk

(pl). „Bitte 3x Pommes“: Das klingt nach Freibad, Stadion, Malle. Auf dem zweiten Album der Freiburger Band Schalko werden aber keine Sommerhits, Fußballhymnen oder gar Schlager serviert. Auf dem Programm steht ungehobelte Gitarrenmusik.

„Eigenbedarf“ liefert gesellschaftskritischen Punk – und obendrauf einen einprägsamen Basslauf. Mit einer Kette von Begriffen wie „Abstiegsangst, Eigenbedarf, Altersarmut, Steuerfreibetrag“ werden aktuelle Themen angeschnitten. In eine ähnliche Kerbe schlägt „FR_HC“. Zeilen wie „Wozu denken, du bist so viel schlauer als ich“ thematisieren Algorithmen und den digitalisierten Alltag.

Der Einfluss von Bands wie Turbostaat ist kaum zu überhören. Wie die norddeutsche Genregröße ist auch das Breisgauer Trio weit davon entfernt, Drei-Akkorde-Punk zu spielen. Auf „Risse“ sorgt ein Break nach anderthalb Minuten für einen kompletten Kurswechsel. Eine melodisch-melancholische Gitarre und ein doppeldeutiger Text verleihen „Leichen im Keller“ eine bedrückende Atmosphäre. „Im Lärm“ kommt fast hymnisch daher. Wer auf vielschichtigen Punk steht, macht mit „Bitte 3x Pommes“ nichts falsch.

MUSIK ÜBER ICH EL DORADO (SINGLE) Pop-Punk
Foto: © Racha Kirakosian
P
desMon a st 46 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2023
SCHALKO BITTE 3X POMMES Punk / Post-Punk
latte

Schokolode und Soul

(tln). Eine der erfolgreichsten Bands Freiburgs meldet sich mit ihrem dritten Studioalbum zurück: Die Powerfunker von Fatcat haben zwölf Tracks auf „More Sugar“ gepackt. Nach Champagne Rush (2016) und Good. zip (2020) gibt’s jetzt also Zucker auf die Ohren.

Auf acht Musiker ist die Band gewachsen. Und da werden dicke Bretter gebohrt: Im Februar ist mit „2 Sexy“ die erste Single erschienen. Quietschende Gitarre, funky Horns und ein bestens aufgelegter Frontmann Kenny Joyner sorgen für Stimmung. Das ist wie gewohnt tanzbar und macht Laune.

Doch das Album zeigt auch neue Seiten: „More Than A Night“ überrascht mit Effektspielereien, Autotune trifft auf gepitchte Stimmen und soulige Passagen. Brillant ist auch „Payphone“. Auf einem rotzigen Klatschbeat geht’s da um Münztelefone, einen grimmig durch die City cruisenden Kerl und ausgefallene Systeme. Droht Freiburg ein Blackout? Unabhängig davon groovt das bärenstark.

„More Sugar“ liefert Funk, Disco und Soul. Das ist top produziert und bietet neben Rapausflügen viele Farben und Facetten. Die Band pflastert weiter ihren Weg als mitreißender Liveact, der mit solchen Releases auch Radios erobern dürfte. Nur eine Frage bleibt offen: Wann droppen Fatcat mal einen richtig politischen Track?

Flammender Vorbote

(tln). Das Freiburger Electro-PopDuo Willman arbeitet fleißig an neuen Songs. Im Frühjahr soll die All-FlintaEP erscheinen. Einen Vorgeschmack bieten die Musiker jetzt mit der Single „Brenn“. „Alles hat ein Ende, vielleicht nicht mal schlimm“, rappt Frontfrau Julia Lauber. „Ohne ein Ende wären wir nicht hier, wo wir gerade stehen.“

Es geht um einen Neuanfang – und der soll’s in sich haben: Im breit orchestrierten Chorus steigen die Flammen hoch. Mitsingtauglich ist das komponiert. Und es kommt mit Wucht um die Ecke. Der Wechsel aus einem minimalistischen Beat für die Strophen kontert den druckvollen Refrain gekonnt. Die Vocals wünscht man sich im Chorus etwas lauter.

Willman haben sich 2021 gegründet. Seitdem machen sie mit regelmäßigem Output von sich reden. Ihr Debütalbum „100 m2“ aus dem Gründungsjahr bietet mit Liebe zum Detail produzierten Sound zwischen Rap, Pop und Elektro. Lauber scheut sich nicht vor schweren Themen: Es geht um Alkoholabhängigkeit, Genderfragen und das Klima. Mit All Flinta dürfte ebenso kein Songwriting à la Herzschmerz und gebrochene Liebe zu erwarten sein. Willman – ein spannender Newcomer aus Freiburg. Als Referenzen nennen sie Mine, Großstadtgeflüster oder die Antilopengang. Ein bisschen frecher dürften die Texte aber noch werden.

... zum Panzer

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Der Panzer, egal ob Leopard, Gepard oder Marder, erfreut sich in diesen Zeiten wieder größter Beliebtheit und ist schwer angesagt. Ein Mensch namens Gerhard Müller hat sich dazu hinreißen lassen, ein Lied aufzunehmen, welches im Titel das Wort Panzer trägt. Zwei Dinge sind dabei bemerkenswert. Gerhard Müller kann so gut singen wie Günther Oettinger Englisch spricht. Und bei dem Panzer handelt es sich nicht um schweres Kriegsgerät, sondern um einen das menschliche Herz umgebenden Panzer.

Ein Textauszug: „Ich glaub ich hab’ den Panzer gesprengt, den Panzer zu deinem Herzen, es fühlt sich so an als seien von dir alle Hemmungen genommen, was hindert dich noch es mit mir zu tun …“

Die Musik dazu ist entsprechend und kann es fast mit jedem Kriegsverbrechen aufnehmen. „Olé olé, heut fahren wir an den Bodensee im Cabriolet“ ist ein weiteres Machwerk von Gerhard Müller. Aber dazu ein anderes Mal mehr, für heute reicht’s. Nein, halt, einen Ausflugstipp hätten wir noch. Besuchen Sie das Deutsche Panzer-Museum in Munster, ein Spaß für die ganze Familie.

Gut gepanzert grüßt Ihre Geschmackspolizei

Ralf Welteroth

KOLUMNE
FATCAT MORE SUGAR (LP) Power Funk
WILLMAN BRENN (SINGLE) Electro-Pop

Wo die Angst lauert

DIE GESCHICHTEN FÜR DEN 5. FREIBURGER KRIMIPREIS RANKEN SICH UM VERLASSENE ORTE

Vor einem knappen Jahr war an dieser Stelle zu lesen, dass Anne Grießer „schon ziemlich gespannt auf den 25. Juni wartet“: auf den Einsendeschluss für die Beiträge zum Wettbewerb um den Freiburger Krimipreis, den der gleichnamige Verein alle drei Jahre auslobt. Inzwischen stehen die drei Gewinner·innen fest; am 22. April werden sie zur feierlichen Preisverleihung in der Villa Ganter in Freiburg erwartet.

„Vergessene Orte“ in Bildern (r.): Lost Places in und um Freiburg

von Jasmin Seidel

Verlag: Gmeiner, 2023

192 Seiten, Broschur

Preis: 26 Euro

Sie müssen von weiter her anreisen: Anja Puhane, die sich mit „Die Band“ den ersten Platz erschrieb, aus Mönchengladbach, Daniel Walter, dessen „Kein Schwarzwaldmädel, keine Operette“ auf Rang zwei landete, aus Stuttgart. Und Beatrix Erhardt, die mit „Kernzone“ Drittplatzierte wurde, lebt in Schwäbisch Hall.

Grießer, Vereinsvorsitzende und selbst Kriminalgeschichtenerfinderin, freut sich sehr darüber: Die rege Teilnahme überwiegend auswärtiger Autor·innen zeige, „dass wir inzwischen weit über Freiburg hinaus wirken“. Dieses Mal gingen mehr als 50 Kurzkrimis ein – so viele wie nie. Möglicherweise, räumt sie ein, habe das auch mit der Wahl des Themas zu tun: Es ging um „Lost Places“ – und sie kann sich „gut vorstellen“, dass allein dieser oft mit düsteren oder rätselhaften Assoziationen belegte Begriff die „morbid-kriminelle Fantasie“ der Teilnehmer·innen angeregt hat. Und auch, dass der aus Renate Klöppel, Verena Saller und Werner Weimar-Mazur zusammengesetzten Jury die Auswahl der Gewinner „schon sehr schwerfiel“.

Waldlust bei Freudenstadt als Schauplatz für einen rasanten Stairway to Heaven. Und Beatrix Erhardt lässt ihren ziemlich dystopischen Historienkrimi am sagenumrankten Petermännle-Stein im Tonbachtal spielen.

Dass Lost Places derzeit hoch im Kurs sind, zeigen nicht zuletzt die Fotobände der Denzlingerin Judith Seidel; der jüngste ist gerade erschienen. Er präsentiert verlassene Orte in Freiburg und Umgebung –und bietet mit dem Mösleschacht des früheren Bergwerks am Schönberg, dem Interieur des ehemaligen Kaufhaus Krauss in Emmendingen, einer komplett eingerichteten Edelsteinschleiferei und einer alten Schmiede ideale Tatorte für fantasierte Verbrechen.

Schwarzwald morbid von Anne Grießer (Hrsg.)

Verlag: Gmeiner, 2023

264 Seiten, Paperback

Preis: 16 Euro

Die prämierten Texte sind ebenfalls nicht in Freiburg zu lokalisieren: Alle drei Storys ereignen sich im Nordschwarzwald. Anja Kuhane verlegt ihr angstmachendes mörderisches Geschehen in ein Badhaus in Bad Liebenzell, das lange als Band-Probenraum diente. Daniel Walter wählt das spukberüchtigte Nebengebäude des Grandhotels

Wie in der gleichfalls druckfrischen Krimipreis-Anthologie „Schwarzwald morbid“ nachzulesen ist, fanden die Autor·innen aber auch im Schlossbergbunker oder in der Andreas-Kapelle unter dem Münsterplatz geeignete Schauplätze. Insgesamt 14 spannende Storys sind im Buch versammelt – selbstverständlich auch die drei, die nun in der Ganter-Villa prämiert werden. Im Belle-Époque-Saal, der mit seinen weinroten Damastvorhängen, den erlesenen Stofftapeten und den schweren Kristalllüstern selbst wie ein Lost Place wirkt – allerdings ein bestens erhaltener.

von Erika Weisser
48 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2023 LITERATUR

MAMAN

von Sylvie Schenk

Verlag:

Hanser, 2023 174 Seiten, gebunden

Preis: 22 Euro

Deckname im Totenschein

(ewei). „Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte“, beschreibt Sylvie Schenk ihre Mutter Renée. Mit knapp 80 Jahren sucht sie nach Spuren ihres Lebens – und fragt sich immer noch, ob sie lieber eine andere Mutter gehabt hätte. Eine, die heiter und kommunikativ war, die „wusste, wo es langging“.

Das wusste Renée nicht. Sie wusste nicht einmal, wo sie herkam. Vielleicht kannte sie auch ihren Geburtsnamen nicht, den die Tochter in den Archiven von Lyon recherchierte. In jenen Registern mit den Neugeborenen, die als elternlos galten: Bei Renées Geburt Ende 1916 verstarb ihre 45-jährige Mutter Cécile, der Vater war unbekannt.

Beinahe poetisch rekonstruiert Schenk das freudlose Dasein von Renée, die in einer Bauernfamilie ausgebeutet, misshandelt und missbraucht wurde – und emotional so verstummte, dass ihre späteren liebevollen Adoptiveltern sie nicht mehr zum Sprechen bringen konnten. Mit viel Empathie bringt sie auch Licht in die dunklen Lebenswege von Cécile und deren gleichfalls alleinstehender Mutter, die als schlecht bezahlte Seidenarbeiterinnen einem Nebenerwerb nachgehen mussten. In ihren Totenscheinen ist „menagère“ als Beruf angegeben: „der Deckname von Berufslosen, Dienstmädchen, Straßenmädchen“.

von Ute Bales Verlag:

Rhein-Mosel, 2023 202 Seiten, gebunden

Preis: 22,80 Euro

In der fremden Haut

(ewei). Helga Kaiser ist elf, als sie Ende der 1970er-Jahre zur Erholungskur auf die Insel Föhr verschickt wird. Sie leidet seit Langem an einem juckenden Hautausschlag, der aber auch an der heilenden Nordseeluft nicht besser wird. Im Verschickungsheim ist sie zudem dem strengen Regiment der Aufseherinnen ausgesetzt, zu deren Erziehungsmethoden Esszwang und Demütigung gehören.

Mit Narben auf der Haut und auf der Seele kehrt sie nach langen Wochen nach Hause zurück, wo niemand eine Ursache für ihre Beschwerden findet. Oder finden will. Denn möglicherweise hätte ihr Vater Hans eine Erklärung. Doch er schweigt. Er schweigt auch, als 1985 der Stern ein Kriegsverbrechen aufdeckt, das sich 40 Jahre zuvor am Rheinufer bei Nierstein ereignete. In dem er der Haupttäter war. Seit Helga das weiß, fühlt sie sich „wie in Säure getaucht“, hofft vergeblich auf ein Wort des Vaters.

Hier verknüpft die Freiburger Autorin Ute Bales Fiktion und Realität: Hans Kaiser gab es wirklich; als 18-jähriger glühender Nazianhänger erschoss er sechs Zivilisten, die in den letzten Kriegsstunden auf die bereits befreite andere Seite des Rheins fliehen wollten. Helga, das Täterkind, das durch das Verschweigen zum Opfer wird, ist hingegen historisch nicht verbürgt.

DIE UNGLEICHZEITIGEN

von Philipp Brotz Verlag:

8 Grad Freiburg, 2023 320 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Kein Zurückzugsort

(ewei). Nach 13 Jahren im fernen Berlin kehrt Hagen zurück in sein Dorf im Schwarzwald. Zurück in das Haus, in dem er bis zum Abi lebte – bis der herrische Vater ihn zwang, sein Studium fern von daheim zu absolvieren. Das angebliche Muttersöhnchen sollte selbstständig mit der rauen Realität zurechtkommen, sollte für die Zukunft abgehärtet werden.

Das ist gründlich misslungen: Hagen ist ewiger Student geblieben, hat nichts zu Ende gebracht, war an seinem letzten Berliner Tag genauso fremd in der Stadt wie an seinem ersten, hätte ohne heimliche Geldüberweisungen mütterlicherseits seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

Doch nun sind die Eltern tödlich verunglückt, Hagen erbt das Haus, das Ersparte und ein Auto. Ein sorgloses soziales Leben winkt – doch niemand nimmt von ihm Notiz, niemand erkennt ihn. Er versucht, sich in Elternhaus und Vergangenheit zurückzukuscheln. Vergeblich: Sein Kindheitswäldchen direkt neben dem Haus soll gerodet werden, für eine Flüchtlingsunterkunft. Das will er mit teils skurrilen Mitteln unbedingt verhindern und trifft sich sogar mit einem ultrarechten Typen aus dem Nachbarort. Doch es gibt unverhofft eine bessere Lösung.

Lesung mit dem Freiburger Autor: Do., 4. Mai, 19.30 Uhr, Stadtbibliothek

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