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Das Beobachten der Beobachter

Das Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) hat bei der Abschiedsausstellung

„Renaissance 3.0 ein Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert“ für seinen kürzlich verstorbenen langjährigen künstlerisch-wissenschaftlichen Leiter Peter Weibel einen fulminanten Start hingelegt. Und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

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Es ist nicht nur eine Exposition, es ist auch ein veritables Forschungsprojekt, das einen Bogen von der arabischen (9.–12. Jahrhundert) über die italienische (15.–17.) bis hin zur Medienkunst des 21. Jahrhunderts schlägt. Immer ging und geht es um das kreative Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft. Ein zentrales Element der Renaissance 3.0 bildet das interaktive Wissensfeld, in dem Besucherinnen Begriffe im Raum physisch ansteuern und sich dann – von ChatGPT – erläutern lassen können. Das Wissensfeld ist als eine experi- mentelle Kollaboration zwischen Mensch und Maschine konzipiert, bei der menschliches und maschinelles Lernen performativ in Aktion zueinander treten.

Die Ausstellung mit 35 Positionen zeigt nicht nur Werke zum Betrachten – etwa den ersten portablen Computer aus 1970 oder Grundlagenbücher der Kybernetik –, sie fordert die Besucher vielmehr zum Anfassen, zum Ertasten, zum Sich-in-der-Kunst-Bewegen, zum Experimentieren auf. Der renommierte Kunsttheoretiker Bazon Brock lieferte zum Auftakt eine intelligent kurzweilige, zuweilen auch professoral zerstreute Rede und ein spannendes Theorem: Das Neue in der Kunst entstehe nicht etwa durch das neue Kunstwerk. Es entstehe durch das Betrachten des Betrachters dieses Kunstwerks. Manchem drängte sich dabei die Heisenbergsche Unschärferelation auf, nur spiegelverkehrt: Es ist nicht der Beobachter, der das zu Beobachtende durch seine Beobachtung verändert. Es ist der Beobachtende des Beobachtenden, der sich dadurch verändert.

Das Theorem materialisiert sich in einem Klangraum (Künstler: Thomás Saraceno), in dem ein Spinnennetz hängt. Zupft man an einem Faden, ertönen Klänge. Zupfen mehrere an den Fäden, spinnen sie zusammen ein Klangnetz. Vor dem Eingang ins weiße Kuppelzelt – es hört auf den Namen Algo-r(h)i(y)thms – beobachten Besucher die experimentellen Musiker dabei, wie sie sich in dieser Klangwelt verhalten: Der eine zupft zart, die andere spielt eher Bass; der eine legt sich auf den Boden, die andere verrenkt sich, um sich im Raum zu bewegen, ohne das Netz zu berühren.

Die Chaostheorie ist ein geläufiger Begriff in der Wissenschaft. Barrierefreier formuliert: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, ändert sich in Wuppertal das Wetter. Im Klangraum führt dieses Chaos von je für sich Handelnden zu gemeinsamen Sequenzen – und ganz nebenbei versteht man auch plastisch, wie die Spinne es mitkriegt, wenn sich am anderen Ende etwas im Netz verfängt. Das ist Kommunikation und – im Wortsinn – Vernetzung. Genau das also, was den Menschen im 21. Jahrhundert mehr beschäftigt als in allen Jahrhunderten davor. Eine nicht nur sehenswerte Ausstellung, eine begreifenswerte.

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