Behörden Spiegel November 2021

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Aktuelles Öffentlicher Dienst

Behörden Spiegel / November 2021

Zeit, zu handeln!

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n diesem Ergebnis der jüngsten Bürgerbefragung, die der DBB jährlich repräsentativ erheben lässt, manifestiert sich eine Entwicklung, die wir bereits seit Jahren beobachten und die sich nun, da Politik und Verwaltung insbesondere mit der CoronaPandemie und den zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert und streckenweise auch überfordert sind, Bahn bricht: Die Menschen verlieren ihren Glauben daran, dass ihr Staat, den sie ideell und materiell tragen, für ihr Wohlergehen Sorge trägt. Die Menschen verlieren ihren Respekt gegenüber diesem Staat, der sie immer öfter enttäuscht – nicht nur in Krisenzeiten, sondern vor allem im laufenden Betrieb: Wenn Betreuung und Bildung leiden, wenn Sicherheit und Infrastruktur in manchen Gegenden einfach nicht mehr gegeben sind. Wenn ein Termin erst in einem halben Jahr in Sicht ist, wenn im digitalen Zeitalter noch immer reichlich Papier, aber ansonsten eher wenig bewegt wird.

Rache der schwarzen Null Solche negativen Erfahrungen mit Staatshandeln machen etwas mit den Menschen: Sie wenden sich ab vom Staat. Vom Gemeinwesen. Der Rest? Die anderen? “Egal. Ich bin dem Staat schließlich auch egal”, ist zu hören. Und immer mehr Menschen platzen regelrecht vor Enttäuschung und Wut, völlig enthemmt, weil

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ie Frage, ob er im Dienst schon Opfer von Gewalttaten geworden ist, hätte der Polizist Behnam Teimouri-Hashtgerdi bis vor Kurzem wohl verneint. Auch er wurde schon mit Stühlen beworfen und mit einem Stuhl geschlagen. Angesichts dessen, was vielen seiner Kolleginnen und Kollegen im Dienst widerfährt, war diese Erfahrung es in seinen Augen jedoch zunächst nicht wert, erwähnt zu werden. Sein Verständnis von Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte hat Teimouri-Hashtgerdi mittlerweile überdacht, jeder Schlag, jedes Bespucken sei ein Angriff und nicht zu tolerieren, betonte er beim Ideencampus “Extrem menschlich” der DBB-Jugend.

Nur ein funktionierender Staat sichert sozialen Frieden und Wohlstand (BS/Ulrich Silberbach) Deutschland steuert auf eine grundsätzliche Vertrauenskrise zwischen Staat und Bevölkerung zu. Wenn innerhalb eines Jahres die Zahl derer, die auf die Handlungsfähigkeit des Staates vertrauen, von 56 auf 45 Prozent sinkt, ist das ein mehr als besorgniserregender Trend. bewerb würden die öffentlichen Dienstleistungen schon irgendwie Ulrich Silberbach ist Bundesvorsitzender des DBB Beoptimieren. Heuamtenbunds und Tarifunion. te, nach mehr als drei Dekaden Foto: BS/Marco Urban neoliberaler Attacken auf den Staat, wissen wir: Der Qualität von Gesundheit, sie nur noch sich sehen. Sie at- Sicherheit, Bildung, Infrastruktackieren die Repräsentantin- tur und Kultur haben Privatisienen und Repräsentanten des rung und Wettbewerb überhaupt Staats – verbal und physisch. nicht gutgetan. Jeder Mensch Die gewaltsamen Übergriffe auf in Deutschland sollte sich eiBeschäftigte des Öffentlichen gentlich darauf verlassen könDienstes, auf Einsatzkräfte eben- nen, dass der Öffentliche Dienst so wie Kolleginnen und Kollegen überall gleich gut da ist. Dem in Behörden und Verwaltungen, ist aber nicht mehr so und aus haben ein nie gekanntes Ausmaß diesem Missstand ergibt sich erreicht. Ebenso die Zahl derer, ein klarer Handlungsauftrag die sich ganz bewusst aus dem an die Politik: Es braucht ein staatlichen und gesellschaftli- Sofortprogramm für einen funkchen Konsens verabschieden – tionierenden Staat. Für einen als Reichsbürger, Querdenker, Staat, der wieder wahrhaftig und Extremisten. greifbar an der Seite seiner BürKommt all das von ungefähr? gerinnen und Bürger steht. Für Mitnichten. Wir erleben sozu- einen Staat, der seinen Beschäfsagen die Rache der schwarzen tigten ein Arbeitsumfeld bietet, Null. Spätestens seit den 90er das sie handlungsfähig macht Jahren hielt sich hartnäckig der – angefangen bei praxistaugGlaube, Privatisierung und Wett- lichen Rechtsgrundlagen über

eine aufgabengerechte Personal- und Sachmittelausstattung bis hin zu moderner, agiler und digitaler Verwaltungsgestaltung.

Reformen auf allen Ebenen nötig Die neue Bundesregierung muss die Reformbemühungen auf allen Ebenen des Staatswesens vorantreiben. Es geht grundsätzlich um bessere Organisation, Digitalisierung und Rechtsetzung. Einen großen Wurf braucht unser Land nach einer ganzen Epoche des Theoretisierens bei einer konkreten Lösung für bürokratische Auswüchse. Der DBB ist ganz klar “Team Entbürokratisierung”, denn das Problem betrifft Bürgerinnen und Bürger und die Beschäftigten in den Behörden und Verwaltungen gleichermaßen – auch die Mitarbeitenden leiden unter Regulierungsdruck und legislativen Schnellschüssen. Das Thema gestaltet sich in der Realität jedoch deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Gesetze und Regeln, strikt organisierte Verfahren sind unbestritten lästig für alle Beteiligten.

Auf der anderen Seite Christian Weißgerber hat ebenfalls Erfahrung mit Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten gemacht. Jedoch aus anderer Perspektive. Als Neonazi hat er Beamtinnen und Beamte angegriffen, mittlerweile ist er aus der Szene ausgestiegen und leistet Aufklärungsarbeit. Doch was bewegt einen jungen Menschen dazu, sich zu radikalisieren? Familiäre Probleme, eine schwierige

Sie stellen aber andererseits sicher, dass staatliches Handeln berechenbar und planbar ist, dass es Rechtsansprüche gibt, die für alle gleich und einklagbar sind. Deregulierung bedeutet dann dementsprechend auch mehr Ungewissheit über den Verfahrensausgang. Die Frage ist also, wie viel Ungewissheit und damit auch Ungleichheit unsere Gesellschaft aushalten kann, aushalten will? Bürgerfreiheit und Bürokratie sind, so verstanden, keine eindeutigen Gegensätze – es handelt sich, wie in der Medizin, um die Frage der Dosis, die das Medikament vom Gift unterscheidet. Das muss verhandelt und beraten werden. Und wer könnte hierzu mehr beisteuern als die “Leute vom Fach”?

Anhörungsrecht für Spitzenverbände Die wahren Bildungsexperten sind die Lehrenden, die täglich erleben, wie Bildungspolitik bei den Lernenden ankommt. Eine Kollegin oder ein Kollege aus der Finanzverwaltung erkennt, ob eine das Fachgebiet betreffende Änderung der Gesetzgebung Sinn

Erkennen, verstehen und bekämpfen Rechtsextremismus und Gewalt gegen die Polizei (BS/Ann Kathrin Herweg) Sie werden beschimpft, geschlagen, vielleicht sogar angefahren – Angriffe auf Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte und andere Diener des Staates sind vielfältig, oft brutal und längst keine Einzelfälle mehr. Gewalt und Extremismus werden zum immer größeren Problem in Deutschland. Um dagegen vorzugehen, muss die Politik solche Übergriffe verstehen und gezielt darauf reagieren. erfuhr Weißgerber Akzeptanz, trat als Musiker und Redner auf und konnte dort etwas erreichen. Man könne leicht Karriere machen in der rechten Szene, erklärt er.

Kein heldenhafter Ausstieg

Die Polizei als Zielscheibe Die Polizei und ihre Arbeit müssen anerkannt, wertgeschätzt und verteidigt werden, so der Polizist. Es dürfe nicht sein, dass die Beamtinnen und Beamten Meinungen und Interessen als “Prügelknaben” entgegennehmen müssten. Teimouri-Hashtgerdi ist seit nunmehr sieben Jahren bei der Berliner Polizei tätig und beschreibt sich als Polizist selbst als “Zielscheibe”. Das müsse nicht unbedingt schlecht sein, findet er. Als “Berufszielscheibe” könnten Polizistinnen und Polizisten Vorbild für junge Menschen sein, die ebenfalls eine solche Karriere anstrebten. Doch es gebe auch Schattenseiten.Die imaginäre Zielscheibe, die die Beamtinnen und Beamten dabei darstellten, werde größer. So werde z. B. auch Unzufriedenheit mit der Politik immer wieder an den Polizistinnen und Polizisten ausgelassen. Nichtsdestotrotz ist er gerne Polizist. Doch er fordert, solche Angriffe zu ermitteln, zu verfolgen und dagegen vorzugehen.

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Familiäre Probleme, eine schwierige Kindheit und schlechte Bildung – für viele Menschen klingt das nach dem idealen Nährboden für rechtes Gedankengut und die Hinwendung zum Nationalsozialismus. Doch sind dies tatsächlich Gründe, aus denen sich ein junger Mensch entschließt, Neonazi zu werden? Foto: BS/andranik123, stock.adobe.com

Kindheit und schlechte Bildung werden hier häufig als Gründe diskutiert, Weißgerber sieht das anders. Seine Mutter floh in den Westen, als er gerade mal ein Jahr alt war, mit Vater und Schwester blieb er im Osten. In seiner schwierigen Kindheit sieht er keinen Grund für sein frühes Interesse am Rechtsextremismus: “Ich würde nie meine Kindheit als Ausrede dafür benutzen.” Umgekehrt würden auch Kinder wohlhabender Eltern zu Nazis, gibt er zu bedenken, nicht die Herkunft sei also entscheidend für die politischen Ansichten. Auch fehlende Bildung sieht er nicht als Grund dafür, Neonazi zu werden. Im Gegenteil: “Radikalisierungsprozesse sind Bildungsprozesse” betont er. Neben Hintergrundwissen, für das er sich immer sehr interessiert habe, sei z. B. auch der Eintritt in die rechte Szene mit Lernpro-

zessen verbunden, denn man müsse sich zunächst einige Softskills aneignen. Er selbst stammt nicht aus einem bildungsfernen Umfeld, sondern besuchte das Gymnasium und dort sogar die von den Lehrern so genannte “Elite-Klasse”.

Faszination Nationalsozialismus Warum werden (junge) Menschen dann zu Neonazis? Aufgewachsen in der kulturträchtigen Stadt Eisenach hat Weißgerber bereits in seiner Kindheit und Jugend immer wieder Berührungspunkte mit der deutschen Kultur gehabt. Diese Kultur auszuleben und sich damit zu identifizieren, löste bei ihm schon früh eine Faszination aus, genau wie der historische Nationalsozialismus. Markenkleidung konnte er sich nicht leisten, doch das “deutsch sein” bedeutete für ihn einer Gruppe anzugehören – und

damit Identifikation. Während seiner Kindheit und Jugend war Weißgerber sowohl in der Familie als auch in der Schule immer wieder mit Alltagsrassismus und Verschwörungserzählungen konfrontiert. Hinzu kamen Enttäuschungen und die Ansicht, dass Politik sich nicht für die Jugend interessiere und nicht aufrichtig sei. Für ihr ergab sich daraus das Gefühl, handeln zu müssen und sich für seine Lebensweise und deren Erhalt einzusetzen, bei Bedarf auch mal mit Gewalt, um Menschen in ihre Schranken zu weisen. In der neunten Klasse suchte Weißgerber aktiv Kontakt in die Nazi-Szene. Er bemerkte, dass seine Mitmenschen nun auf ihn reagierten. Die Schulflure leerten sich, wenn er sie betrat, denn die Mitschülerinnen und Mitschüler hatten Angst, was er jedoch als ein Zeichen von Respekt interpretierte. In der Neonazi-Szene

Die demokratische Gesellschaft habe überzeugten Neonazis nichts zu bieten. Das Sozialgefüge in der rechten Szene funktioniere besser als soziale Auffangsysteme, erläutert Weißgerber. Für Neonazis ergebe sich daher oft kein Grund, wieder auszusteigen. Wenn es doch zum Ausstieg komme, so höre man oft von “Heldengeschichten”. Ausstiegsgeschichten würden in den Medien häufig zusammengeschmolzen auf die wichtigsten Momente. In der Realität gebe es solche großen Erlebnisse aber meist nicht. Der Ausstieg funktioniere nicht von heute auf morgen, berichtet er aus eigener Erfahrung. Nach einigen Repressionen und immer mehr Enttäuschungsmomenten wie Grabenkämpfen, aber auch durch die Veränderung seiner materiellen Verhältnisse und die erste eigene Wohnung, zog er sich aus der Szene zurück. Er habe erst anfangen müssen, alles zu hinterfragen: sein Denken, Sprechen, Fühlen, Leben und Lieben. Auch wenn sich die Einstellung verändere, Ressentiments veränderten sich nicht so schnell, betont er. Reue könne im Nachhinein nichts ungeschehen machen. Doch Weißgerber ist wichtig, nun in den Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten gegen den Rechtsextremismus vorzugehen und Aufklärungsarbeit zu leisten.

Das System verändern Für ihn ist klar, man kann Neonazis erst dann beim Ausstieg aus der Szene helfen, wenn sie dies selbst wollen. Vorher habe man keine Möglichkeit, sie zum Ausstieg zu bewegen. Stattdessen sei es viel effektiver, die Schule

macht oder eben nicht. Ebenso können dies die Expertinnen und Experten vom Zoll, von der Polizei oder aus dem Bauamt. Daher wäre es ein gewinnbringender Schritt, diesen Sachverstand endlich institutionell in den legislativen Prozess einzubeziehen. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags kennt ein Anhörungsgebot für die kommunalen Spitzenverbände – warum nicht auch für die Spitzenverbände des Öffentlichen Dienstes, in denen sich die Verwaltungsspezialisten organisieren? Gleiches gilt im Übrigen auch für die digitale Transformation der Verwaltung: Usability und Nutzerfreundlichkeit sind in aller Munde – warum bloß spricht kaum jemand mit den Millionen Nutzerinnen und Nutzern im Öffentlichen Dienst und fragt sie, welche digitalen Anwendungen sie brauchen, um gut Staat machen zu können? Warum wird das Know-how der jungen Beschäftigten, der Digital Natives, nicht viel effizienter eingebunden? Das sind die Schätze, die wir erkennen und heben müssen, damit wir die Modernisierung des Staats hinbekommen. Und das müssen wir, denn es geht um das Band, das dieses Land zusammenhält: das Vertrauen der Menschen in ihren Staat. Noch ist es nicht ganz verspielt, aber es ist schwer angeschlagen – Zeit zu handeln! Nur ein funktionierender Staat sichert sozialen Frieden und Wohlstand.

und das Sozialsystem zu verändern, beispielsweise durch mehr Partizipationsmöglichkeiten, Chancengleichheit und gelebte Demokratie in Schulen. So könnten die jungen Menschen schon früh lernen, dass nicht immer der eigene Wille durchgesetzt werden könne, sondern in der Gesellschaft Kompromisse eingegangen werden müssten.

Null-Toleranz-Politik Um Mitarbeitende in den verschiedensten Bereichen des Öffentlichen Dienstes vor Gewalt zu schützen, fordert die gerade neu in den Deutschen Bundestag gewählte Annika Klose (SPD), man müsse die Gesellschaft im Blick haben und Prävention ganzheitlich verstehen. Für Maximilian Schulz (linksjugend solid) ist wichtig, klare Grenzen zu ziehen und z. B. gewisse Parteien nicht zu Veranstaltungen einzuladen. Außerdem müsse Extremismus immer analysiert werden, denn man müsse unterschiedlich gegen Rechts- und linksextremismus vorgehen. Statt von Linksextrem spricht das neu gewählte Bundestagsmitglied Emilia Fester (Bündnis 90/Die Grünen) von linksradikal. Zwar räumt sie ein, es gebe auch Gewalt und Sachbeschädigung aus linken Kreisen und dies sei zu verurteilen, betont jedoch, diese dürfe nicht mit Rechtsextremismus gleichgestellt werden. Darüber, dass Rechtsextremismus die weitaus größere Gefahr darstelle als Linksextremismus, herrscht unter den jungen Vertretern der Parteien beim Ideencampus Konsens. Auch Jens Teutrine (Junge Liberale), ebenfalls in diesem Jahr in den Deutschen Bundestag gewählt, sieht deutliche Unterschiede. Wenn über Rechtsextremismus berichtet werde, dürfe nicht immer gleich die Frage nach Linksextremismus mit aufkommen. Alle diese Phänomene, genau wie religiöser Extremismus, dürften nicht vereinheitlicht und auch nicht verharmlost werden, fordert er. Sowohl Links- als auch Rechtsextremismus müssten aus der bürgerlichen Mitte bekämpft werden. Es müsse kontinuierlich gegen Extremismus vorgegangen werden, betont auch Gernot Carlos Nahrung (Junge CDA), und hier bestehe noch Luft nach oben.


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