2020 08 Asphalt

Page 1

2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

08 20 AUF REISEN AUSTRALIEN

ZYPERN

ENGLAND

Die Koalaretter von der Känguru-Insel.

Geteiltes Land – geteiltes Leid: Ranias Versöhnung.

Vom Straßenkind zur ranghöchsten Feuerwehrfrau.


7

Ranias Versöhnung

Zypern, Griechen im Süden, Türken im Norden, dazwischen die UNO. Archäologen sorgen mit Ausgrabungen für Annäherung. Und haben auch ganz privates Interesse.

4

Notizblock International

6

Reisetipp Edinburgh

11

Reisetipp Bratislava

12

Arm am Ende Amerika ist in der Krise. Die Babyboomer erreichen das Rentenalter, aber ihre finanzielle Zukunft sieht düster aus.

15

Reisetipp Ljubljana

20

Reisetipp Göteborg

21 Das muss mal gesagt werden 27

Reisetipp Neapel

28 Zoo-Rätsel/Impressum

Als Buschfeuer im vergangenen Winter weite Teile Australiens verwüsteten, wurde auch Kangaroo Island hart getroffen. Viele Tiere starben. Unterwegs mit den Helfern der Humane Society International.

Reisetipp Basel

30

Venedigs Besetzer Immer mehr Touristen und weniger Bewohner: Venedig wird zur Geisterstadt. Gegen steigende Mieten und Zwangsräumungen kämpfen die AktivistInnen von der ASC.

34

Reisetipp Trondheim

35 Buchtipps 36 Kulturtipps 38 Silbenrätsel 39 Brodowys Momentaufnahme

Foto: fcscafeine/iStock.com

16 Grumpy aus der Asche

29

Das Asphalt-Prinzip

22 Von außen nach oben

Sie stahl Essen und schlief auf der Stra­ ße. Mit Entschlossenheit – und mit Hilfe von The Big Issue – änderte Sabrina Cohen-Hatton ihr Leben. Ein Porträt – und eine Straßenzeitungs-Erfolgsgeschichte.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


Asphalt geht im August auf Reisen. Kommen Sie doch einfach mit. Zum Beispiel nach Australien, wo Kelly Donithan versucht, die der jüngsten Flammenhölle entkommenen Koalas vor dem Hungertod zu retten. Oder in die USA, wo die Generation der Babyboomer oft ohne Alterssicherung dasteht. Oder nach Zypern, wo die Archäologin Rania Michaelis mit der Suche nach vermissten Bürgerkriegsopfern die Teilung ihres Landes zu überwinden sucht. Ganz besonders ans Herz lege ich Ihnen die Geschichte vom ehemaligen Straßenkind Sabrina. Wir haben für Sie in dieser Reise-Asphalt Geschichten aus aller Welt zusammengetragen. Geschichten von unseren Freunden rund um den Globus, ausschließlich von Straßenzeitungen wie Asphalt. Denn Straßenzeitungen sind eine weltumspannende Bewegung mit Tausenden Verkäuferinnen und Verkäufern. Im Grunde sind wir eine große Familie. Geeint von der Idee der Hilfe zur Selbsthilfe, gemeinsam überzeugt davon, dass das Drüberreden – auf der Straße und im Heft – der erste Schritt zur Stabilisierung und Überwindung von Wohnungslosigkeit ist. Und die VerkäuferInnen reden mit. Wir haben einige von ihnen gebeten für Sie, liebe Leserinnen und Leser, über ihre Städte zu erzählen, ein paar Tipps für eine kleine Städtereise zu übermitteln. Sie finden sie verteilt im Heft. Also sollten Sie noch nichts vorhaben, fahren Sie doch demnächst mal nach Trondheim oder Neapel, nach Edinburgh oder Ljubljana.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute Reise, ob beim Lesen oder Fahren.

Volker Macke · Redaktionsleiter

ASPHALT 08/20

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

2 3


NOTIZBLOCK INTERNATIONAL

Finnlands Erfolg

Mindestens 500.000 obdachlos

Helsinki. Finnland ist das einzige Land in der EU, in dem die Obdachlosigkeit zurückgeht. Vor gut zehn Jahren hatte das Land einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Straßenobdachlosigkeit beschlossen, setzt seitdem auf das Konzept Housing First. Das heißt: Eine Mietwohnung für jeden, bedingungslos, aber mit ganz gewöhnlichen Rechten und Pflichten. Zeltdörfer und Hüttensiedlungen in Wäldern sind seitdem selten. Bau und Betreuung der speziellen Wohnungen hat Helsinki in die Hand von NGOs gelegt. Von den rund 7.000 einst Obdachlosen in dem kleinen Land sind heute noch knapp 2.000 auf der Straße. MAC

Washington DC. In den USA leben aktuell mehr als eine halbe Million Menschen obdachlos. Allein in New York knapp 100.000. Das ist das Ergebnis der jüngsten Stichtagserhebung des US-Ministeriums für Wohnungswesen (HUD). Gut ein Drittel der Obdachlosen waren so genannte rough sleeper, also dauerhaft auf ›Platte‹. Die gemeinnützige National Coalition for the Homeless weist darauf hin, dass bei der Zählung Menschen in prekären Wohnverhältnissen oder als couchsurfer, auf dem Wohnungsstrich oder im eigenen Auto lebend nicht berücksichtigt wurden und die Dunkelziffer entsprechend noch weit höher ausfalle. In der US-Regierung würden ohnehin ganz unterschiedliche Definitionen für Obdachlosigkeit verwendet. Demnach schätzt das US-Bildungsministerium gut 1,5 Millionen SchülerInnen öffentlicher Schulen als von Obdachlosigkeit betroffen ein. Alle Zahlen stammen von vor Ausbruch der Corona-Krise in den USA. MAC

Höhle als Wohnung Madrid. Höhlen und Hütten werden in Spanien als Wohnadresse anerkannt. Obdachlose, die sich dort aufhalten, sollen mit der fiktiven Wohnadresse an die jüngst erst eingeführte Sozialhilfe kommen. Spanien hat seit der Finanzkrise nach aktuellen Schätzungen 40.000 auf der Straße. Tendenz steigend. Bisher waren diese Obdachlosen den Wohlfahrtsorganisationen überlassen. Im Januar hatte die Regierung erstmals eine allgemeine Sozialhilfe eingeführt. MAC

Bulgarien gegen Roma Sofia. Amnesty International hat Bulgarien staatlichen Rassismus in der Corona-Krise vorgeworfen. Demnach hat das Land speziell Roma-Siedlungen mit 50.000 Menschen während des Lockdown vom Rest des Landes abgeschnitten. Zur Überwachung der Ghettoisierung seien Drohnen mit Wärmesensoren eingesetzt worden, Flugzeuge hätten Roma-Viertel »desinfiziert«. MAC

Anzeige

Corona belastet Tafeln weltweit

Beratung sofort nach Beitritt! Jetzt Mitglied werden! Kompetente Hilfe bei allen Fragen zum Mietrecht. Herrenstraße 14 · 30159 Hannover Telefon: 0511–12106-0 Internet: www.dmb-hannover.de E-Mail: info@dmb-hannover.de Außenstellen: Nienburg, Soltau, Hoya, Celle, Neustadt, Springe und Obernkirchen.

Chicago. Mehr Nachfrage, geringeres Angebot: Weltweit sind die Tafeln am Limit. Mehr als die Hälfte aller 47 nationalen Tafelorganisationen haben in einer Mitgliederumfrage des Global Foodbanking Network (GFN) von steigenden Bedarfen und einbrechenden Lebensmittelspenden berichtet. Bis auf drei gaben alle Nahrungsmittelbanken an, sie bräuchten dringend mehr Vorräte für die Verteilung, während mehr als ein Drittel angab, bereits in ihre Rücklagen gegriffen zu haben, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. »Selbst wenn die Corona-Regelungen nachlassen, haben Hunderte von Millionen Menschen keine Arbeit, zu der sie zurückkehren könnten. Wir als Gesellschaft werden uns nicht erholen, wenn wir diese Hungerkrise nicht angehen«, sagte Lisa Moon, Präsidentin und Geschäftsführerin des GFN. Schon vor Corona hungerte laut UN-Angaben weltweit jeder neunte Mensch, jeder vierte ernährte sich dauerhaft ungesund. RTR/INSP


Franziskus ohne Obdach

Den Haag. Bis Dezember 2021 wollen die Niederlande ihre Wohnungspolitik neu ausrichten, so Freek Spinnewijn vom europäischen Wohnungslosenhilfe-Dachverband Feantsa. Ziel der neuen Strategie der Regierung Rutte sei es, mit einer besonderen Förderung des Wohnungsbaus »neue Obdachlosigkeit nach der Entlassung aus Haftanstalten zu verhindern, Zwangsräumungen zu verhindern und in kleine, qualitativ hochwertige Unterkünfte zu investieren«. Das erscheint dringend nötig. Seit 2009 hat sich in den Niederlanden die Zahl der Obdachlosen auf rund 40.000 verdoppelt. Der jetzt beschlossene Bau von mindestens 10.000 Housing-first-Wohnungen sei ein wesentlicher Schritt, so der Fachmann. Prävention und Substitution seien ebenso wichtig, zudem Schuldnerberatung, Bildung und Arbeitsgelegenheiten. MAC

Mailand. In den Straßen Mailands bettelt Papst Franziskus. Das Haupt der katholischen Kirche ist mehrfach als Obdachloser an Hauswänden zu sehen. Hinter der Street-Art-Aktion steckt aleXsandro Palombo. Der Künstler hat damit in der Coronakrise – Mailand liegt im ersten Mega-Hotspot Lombardai – eine Botschaft an den Papst und die Gläubigen senden wollen. »Es ist meine Vision, wie die wahre Botschaft der Kirche sein sollte. Gerade jetzt

Budapest Die wachsende Wohnungsmarktkrise und die re­ striktive Politik der Fidesz-Regierung macht Ungarns Hauptstadt für Obdachlose zu einem gefährlichen Pflaster. Die Organisation »Stadt für alle« hat mit Happenings darauf jetzt aufmerksam gemacht. Demnach versucht die Stadtspitze mit Hilfe des Denkmalschutzes, Obdachlose aus dem Zentrum zu vertreiben. Unter Berufung aufs Weltkulturerbe würden Unterkünfte für Obdachlose in der Innenstadt aufgelöst, Neugründungen verunmöglicht. Landesweit sind 50.000 Menschen in Ungarn wohnungslos, weitere 250.000 leben prekär, so der europäische Wohnungslosenhilfedachverband Feantsa. Jeder zweite Obdachlose habe nur die ersten acht Schuljahre absolviert, jeder fünfte Obdachlose hat mindestens eine Sucht. Ein Drittel (Tendenz steigend) sind Roma. MAC

Ein Jahr im Hotel Prag. Etwa 350 Obdachlose leben in der tschechischen Hauptstadt seit Anfang April in Hotels und Hostels. Und werden es voraussichtlich noch bis März nächsten Jahres dürfen. Die Prager Stadtspitze hatte die Unterbringung angesichts der Corona-Krise organisiert. Im Juli hat der Stadtrat beschlossen, die Unterbringung der meist älteren Obdachlosen bis März nächsten Jahres zu verlängern. Die Obdachlosen sollen so in Ruhe ihre Situation reflektieren dürfen, um bestenfalls die Obdachlosigkeit langfristig zu beenden, heißt es in der Begründung. MAC

Foto: aleXsandro Palombo/Francis Clochard

In der City unerwünscht

ist Mailand eine Stadt, die eine beispiellose Wirtschaftskrise durchmacht, und es gibt immer mehr Menschen, die in Armut und auf der Straße landen. Wir haben uns immer an die Idee des unerreichbaren Papstes gewöhnt, der in der Opulenz des vatikanischen Reichtums lebt, aber Papst Franziskus ist eine der engagiertesten zeitgenössischen Persönlichkeiten gegenüber den Geringsten«, so Palombo, und fordert mehr Regeln für Kapitalismus und Globalisierung, die »die soziale Kluft zwischen Arm und Reich nur vergrößern.« BIG ISSUE/INSP

ASPHALT 08/20

Neue Strategie

4 5


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

anley

ALTE GESCHICHTE UND NEUE HOFFNUNG Jo H Foto:

Fahren Sie doch mal nach Edinburgh in Schottland: Niemand kennt die Plätze der Stadt besser als »Big Issue«-Verkäufer Georg. Hier seine ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht seine Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind. Warum ich gerne hier lebe?

Mein oberster Tipp?

Edinburgh ist voller Geschichte. Die Menschen sind sehr freundlich. Sie sprechen immer mit einem. Ab und zu gehe ich gerne ein wenig zu Fuß. Alles ist nämlich gut zu erreichen. Ich denke, die Festivals sind sehr gut, weil sie der Stadt Geld einbringen. Aber sie bräuchten einen separaten Bürgersteig für Touristen (grins). Normalerweise schaue ich mir einige der Straßenkünstler an, weil es kostenlos ist.

Das Carrubbers Christian Centre in der High Street verwandelt sich während des Edinburgh-Festivals im August abends für sechs Nächte innerhalb von zwei Wochen in ein Café, sie nennen es »There Is Hope«. Da gibt es unterschiedliche künstlerische Musikangebote. Und da singt in den letzten drei Nächten ein Typ namens Steph MacLeod. Er ist ein ehemaliger Alkoholiker, Drogenkonsument und Obdachloser, und in seiner Musik dreht sich alles um sein Leben.

Wie man den Strömen entflieht? Ich nehme immer auf Arthurs Platz platz. Bis ganz nach oben. Der Aufstieg ist gar nicht so schwer. Es gibt einen Pfad den ganzen Weg hinauf. Es ist einer der besten Aussichtspunkte, um über die Stadt zu blicken, bis hinunter nach East Lothian und über das Wasser nach Fife.

Foto: CIPhotos/iStock.com

Das Beste, was man im August tun kann? Ich würde sagen, das Edinburgh Military Tattoo ist für mich die Nummer eins. Ich war in der ersten Nacht dieses Jahres dort. Es war kein Platz frei. Ich war das letzte Mal 1987 dort. Damals war es ganz anders, meist militärische Vorführungen, aber das gibt es heute nicht mehr. Es sind junge Mädchen in ihren Kilts, Blaskapellen, Trommeln, Dudelsäcke. Ich habe es genossen. Ich füllte mein Handy mit Fotos. Jede Nacht gibt es ein Feuerwerk. Ich konnte keine Fotos davon machen, weil mir der Platz auf meinem Handy ausgegangen war.

Beste Plätze zum Essen und Trinken? Ich habe zwei für euch: Das Grassmarket Community Project, ich empfehle euch dringend die Fischfrikadellen. Und ich mag die Speck-Eier-Röllchen bei Social Bite am Morgen. Dort hatte ich übrigens mal Prinz Harry und seine Meghan getroffen, als sie Anfang 2018 zu Besuch waren. Ich dachte, dass ich wegen der Frage, die ich ihr gestellt hatte – ob sie Edinburgh Castle als Hochzeitsort auskundschaftet – in Schwierigkeiten geraten würde (grins).

Was man tun kann, wenn es regnet? Es gibt viele Orte, an denen man Schutz suchen kann: Die National Gallery in der Princes Street, und mir gefällt das National Museum of Scotland. Es gibt ständig verschiedene Ausstellungen. Sie haben einen Rennwagen in Originalgröße, der Jackie Stewart gehörte, und Dolly, das Schaf. Für ein totes Schaf sieht sie meiner Meinung nach sehr lebendig aus. Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK


ASPHALT 08/20

6

Foto: Picture-Alliance/dpa/Can Merey

7

RANIAS VERSÖHNUNG Zypern, Insel der Götter und letztes geteiltes Land in Europa. Griechen im Süden, Türken im Norden, dazwischen die UNO. Seit Mitte der Siebziger Jahre sorgt die Pufferzone für weitgehendes Schweigen der Waffen. Davor war Bürgerkrieg. Ersten Schritten der Annäherung folgen heute Versuche zur Aufarbeitung. Und viele Familien hoffen, endlich die Vermissten der Insel ausfindig zu machen. Als das Archäologenteam mit feinen Bürsten die letzte Erde wegräumt, kommt langsam eine schwarze Decke zum Vorschein, trotz der 50 Jahre ist sie kaum verwittert. Im Inneren liegen Überreste eines Mannes. Seine Knochen waren noch nicht voll entwickelt, das sehen die Forscher mit geschultem Blick. Vielleicht war er 17 oder 18 Jahre alt. Die einzigen Beweise,

die Aufschluss über seine Identität geben könnten, sind seine Stiefel und sein Hemd – und die Kugel, die neben einem seiner Wirbel steckt. »Wir wissen nicht, wer hier begraben ist«, erklärt Rania Michail, die Leiterin des Teams. Seit 2012 arbeitet sie als Archäologin und ist Mitglied im Ausschuss für Vermisste auf


Zypern. Sie selbst hat sieben vermisste Verwandte väterlicherseits in ihrer Familie. »Meine Familie hofft, dass sie gefunden werden«, sagt sie uns. »Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt oder wenn wir eine neue Ausgrabung beginnen, sind sie voller Hoffnung.« Als Zypern, einstige britische Kronkolonie, im August 1960 unabhängig wurde, kämpfte eine griechische Untergrundorganisation namens EOKA-B für den Anschluss der Insel an Griechenland. Und eine türkische TMT für die Teilung der Insel in zwei Hälften. Denn knapp 70 Prozent der Bewohner waren griechisch-, 30 Prozent türkischstämmig. Mit dem ›blutigen Weihnachten 1963‹, einem Anschlag von zyperngriechischen Polizeikräften auf türkischstämmige Zivilisten, eskalierte die Gewalt auf der Insel, in dessen Folgen Tausende starben und Hunderttausende Griechen und Türken emigrierten. Bis heute gelten einige tausend Menschen als vermisst. »Wir graben hier, weil Vorrecherchen ergaben, dass zwei vermisste Personen auf dem Friedhof begraben sein könnten«, erzählt Rania. »Unser Team besteht aus Forschern beider Seiten, die nach Informationen über das Schicksal der Vermissten suchen, entweder direkt von Augenzeugen oder von Menschen, die durch Augenzeugen von den Beerdigungen erfahren hatten.« Seit Tagen sind die fünf Forscher hier im äußersten westlichen Zipfel aktiv. Während der Arbeit an der anonymen Grabstätte sprechen sie griechisch, türkisch und englisch. Frü-

Geteiltes Zypern Fläche der Insel:

Bruttoinlandsprodukt 2015:

9 251 qkm davon Republik Zypern

Republik Zypern

17,4 Mrd. Euro

59 %

Deutschland

Türk. Rep. Nordzypern

36

3 027 Mrd. Euro

Einwohner Rep. Zypern: 891 000 Nordzypern: 302 000

Pufferzone

3

brit. Militärbasen

2

Kyrenia TÜRKISCHE REPUBLIK Mittelmeer NORDZYPERN Nikosia Famagusta REPUBLIK ZYPERN Paphos

18206

UN-Pufferzone brit. Militärbasen

Limassol

25 km

Quelle: Auswärtiges Amt

her sprachen die meisten Zyprer Griechisch und Türkisch fließend, noch besser als die Sprache der Besatzer. Zumindest bis 1974 die Insel mit dem türkischen Einmarsch im Nordteil faktisch in zwei Teile geteilt wurde und damit auch das Leben vieler Menschen halbierte. Die Arbeitsbedingungen auf dem Feld sind hart, da die Archäologen ständig der Witterung einschließlich Schlamm und Staub ausgesetzt sind. Zwischen Mai und Oktober erreicht das Thermometer auf Zypern oft 40 Grad Celsius.

Steckschuss und Ehering »Wir bieten den Familien Hoffnung«, sagt Rania. »Wir geben ihnen ihre Angehörigen zurück, damit sie ein Begräbnis abhalten können, das ihren religiösen Ansichten entspricht, und natürlich auch einen Ort haben, an dem sie sie besuchen können.« Die Ausgrabungen sind emotional oft schwierig. Denn die Archäologen finden manchmal auch die Überreste von Kindern. »Die härteste Exhumierung, an der ich gearbeitet habe, war die eines Massengrabes, in dem 89 türkische Zyprioten, darunter Frauen und Kinder, gefunden wurden«, erinnert sich Rania. »Selbst in Kriegszeiten kann man die Ermordung von Kindern und Frauen nicht rechtfertigen. Das sage ich für beide Gemeinschaften. Wenn jemand ein Soldat ist und im Krieg stirbt, kann ich das akzeptieren. Aber nicht ein Kind, eine Frau oder ein älterer Mensch. In diesem Grab gab es Familien mit Kindern, die nur wenige Monate alt waren. Sie wurden alle im August 1974 ermordet. Als ich zum ersten Mal mit dem Ausschuss zusammenarbeitete, habe ich mich mit diesen Menschen identifiziert. Bei jeder noch feststeckenden Kugel fragte ich mich, wie die letzten Momente im Leben der Person waren. Wenn sie persönliche Gegenstände hatten, war es noch rührender, wenn es einen Ehering gab unerträglich.«

Neutrale Zone Alles, was die Forscher wissen, haben sie von Verwandten und Familien von Freunden, die ihre Häuser, ihren Besitz und ihre Lieben verloren haben. Jede Ausgrabung ist schwierig. Denn oft ist es so, dass die heutigen Besitzer der Grundstücke nicht mehr dieselben sind. Einst waren türkische und


ASPHALT 08/20

griechische Gemeinden und Dörfer wie ein Flickenteppich über die Insel zerstreut. Die Besetzung und faktische Teilung vor 46 Jahren veränderte dieses Bild drastisch. Heute ist der Norden türkisch, der Süden griechisch und die Hauptstadt Nikosia geteilt. Weil Gespräche über eine Lösung des Zypernproblems eingefroren sind, ist Rania nicht sehr optimistisch, dass die Bedingungen sich absehbar verbessern. »Auf jeden Fall sind Frieden und Freiheit noch nicht eingetroffen, denn für mich ist es weder Frieden noch Freiheit, die Straßensperre zu passieren und meinen Personalausweis oder Reisepass vorzuzeigen. Ich hoffe, dass es in Zukunft eine akzeptable Lösung für beide Gemeinschaften geben wird, denn es ist sehr wichtig, dass diese Insel nach so vielen Jahren wiedervereinigt werden kann. Ich empfinde weder Wut noch Zorn. Vielleicht mehr Trauer und Enttäuschung. Ich habe Angst, dass eine solche Situation wegen des Nationalismus, der auf beiden Seiten existiert, vielleicht wieder passieren wird.« Das Archäologenteam macht sich derweil bereit, die Überreste in Papiertüten zu verpacken. Sie schreiben mit einem Stift auf, was hineingelegt wird: ein Schädel, eine rechte Hand, ein linker Fuß. Nachdem sie alle Knochen überführt haben, werden die Überreste dem Anthropologenteam übergeben, das auf neutralem Boden, auf dem ehemaligen Flughafen von Nikosia, der von der Friedenssicherung der Vereinten Nationen verwaltet wird, arbeitet.

8 9

Mit feinen Bürsten und kleinen Schaufeln arbeiten die ArchäologInnen um Rania Michaelis an der Aufklärung jedes einzelnen Vermisstenfalls. Mit teils ganz persönlicher Hoffnung.

Persönliche Angelegenheit Gulbanu Zorba ist türkische Zypriotin und Genetikerin. Seit der Gründung des Ausschusses für Vermisste vor 13 Jahren arbeitet sie mit Rania zusammen. »Das Verfahren geht so: Die Anthropologen erstellen das biologische Profil der Knochen, die wir finden«, erläutert Gulbanu Zorba. »Die Knochen ›sprechen‹: Sie sa-

Endlich Gewissheit: Ehrenvolle Beisetzung des damals 20-jährigen Charalampos Adoniou, einem von Hunderten, die bei der türkischen Besetzung des Inselnordens im Jahr getötet wurde. Seine Überreste wurden von Rania Michails Team gefunden.


Im Schutz der UN-­ Pufferzone in Nikosia arbeitetet Gulbanu Zorba mit ihrem Anthropologenteam an der Zuordnung der gefundenen menschlichen Überreste der im Bürgerkrieg Getöteten.

gen viel über Alter und Geschlecht aus und geben Auskunft darüber, wie die Person gestorben ist. Am Ende des Prozesses nehmen sie Proben von den Knochen und schicken sie zur DNA-Analyse in die USA, in der Hoffnung, dass die Überreste anhand von Proben, die von Verwandten der Vermissten zur Verfügung gestellt wurden, identifiziert werden können.« »Auf jeden Fall Auch Gulbanu ist mittelbar persönlich betroffen. »Mein sind Frieden und Mann hat zwei Verwandte in Freiheit noch nicht seiner Familie«, sagt sie. »Er eingetroffen.« hat sie nie kennen gelernt, Rania Michail aber ich glaube, dass er bewegt sein wird, wenn wir sie endlich finden könnten.« Zum Beispiel den Onkel von Gulbanus Mann. In den Sechzigern studierte er Pädagogik in Nikosia. Wegen einer Blinddarmentzündung hielt er sich die tage nach dem blutigen Weihnachten 1963 im örtlichen Krankenhaus auf. Der Krieg der beiden paramilitärischen Truppen hatte gerade begonnen. »Während mein Onkel im Krankenhaus war, begab sich eine Gruppe griechi-

scher Zyprioten der EOKA B [Nationale Organisation der zypriotischen Kämpfer] auf der Suche nach einigen ihrer eigenen Leute ins Krankenhaus, die sie tot auffanden. Sie wollten Rache nehmen. Es war ihnen egal, dass die Menschen, die sie getötet hatten, Zivilisten waren«, erzählt Gulbanus Mann Medes. Ein Arzt nahm Medes‘ Onkel mit und versteckte sie in seinem Büro, schloss ihn ein und sagte, dass er versuchen würde, andere türkische Zyprioten zu finden, die sich verstecken könnten. Als der Arzt in seine Praxis zurückkam, fand er nur eine Lache voller Blut. Medes‘ Onkel war verschwunden. Bis heute. Nicht einmal des Onkels Auto wurde je entdeckt. Rania und ihr Team suchen in diesen Tagen weiter nach den Überresten der zweiten Person, die nach den ihnen vorliegenden Informationen in dieser Gegend begraben sein könnte. Gulbanu und ihre Kollegen haben unterdessen aktuell etwa 20 Gruppen von Überresten auf Tischen ausgelegt, die darauf warten, identifiziert zu werden. Und die Zeit drängt. Viele der verbliebenen Zeugen sterben jetzt an Altersschwäche, ohne über die Ereignisse, deren Zeuge sie waren, gesprochen zu haben. Dabei könnte genau dies für die Versöhnung der Volksgruppen so wichtig sein. Text und Fotos: Nicolia Apostolou Courtesy of Shedia/INSP.ngo


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

Die beste Zeit für einen Besuch? Bratislava ist im Sommer wunderschön. Ich gehe gern am Donauufer spazieren, wo es einen Sandstrand gibt. Auf dem Hügel über der Stadt liegt Slavín, ein Relikt aus der kommunistischen Vergangenheit, ein Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten. Von dort aus hat man einen herrlich frischen Blick auf die Stadt.

Was man nicht verpassen sollte? Ende September ist die Weiße Nacht, ein wunderschöner Nachtspaziergang durch die beleuchtete Stadt. Die Straßen sind voll von Menschen und Kunst. Es ist das größte und meistbesuchte Kunstfestival in der Slowakei. Auch der Gute Markt in der Panenská-Straße ist jedes Jahr am 15. September ein Erlebnis. Sie finden dort hochwertige hausgemachte Produkte und angenehme Menschen.

ne

10 e Nota B

11

Foto:

Fahren Sie doch mal nach Bratislava in der Slowakei: Niemand kennt die Straßen der Stadt besser als »Nota Bene«-Verkäufer Peter. Hier seine ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht seine Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

ASPHALT 08/20

WO MAN BÖHMISCHE KÜNSTLER TRAF

trum: Die Leute haben hier in der Regel die beste Stimmung. Wir laden uns hier gegenseitig mit Energie auf. Ich habe meine Verkaufsstelle in der Nähe des Präsidentenpalastes, wo einst der Komponist Joseph Haydn aufgetreten ist. Ein paar Gehminuten entfernt liegt die Palisády-Straße mit alten schönen Villen. In der Nähe befindet sich der Pisztory-Palast, wo im Winter regelmäßig das Internationale Ob­dachlosenTheaterfestival ERROR statt­findet.

Wo es schön ist? Es gibt viel Natur zu sehen, zum Beispiel in Koliba, einem Waldpark von Bratislava oder am Železná studienka, dem Eisenbrunnen. Sad Janka Kráľa ist der wohl älteste Park Mitteleuropas. Oder machen sie eine Weintour in die Kleinen Karpaten. Starten Sie in Rača und besuchen Sie die malerischen Orte Sväty Jur, Pezinok oder Modra.

Wo man gut essen kann? Wo ich wohne? In Petržalka, einst eine der größten kommunistischen Siedlungen in Mitteleuropa. Ich lebe seit 13 Jahren hier. Genau in der Mitte der Wohnsiedlung liegt der Draždiak-See. Wenn es an den Wochenenden heiß ist, gehe ich baden und hole mir Vitamin D. Es gibt eine Stromleitung, die über den See führt. Das gibt den Schwimmern eine zusätzliche Dosis Adrenalin!

Mein Lieblingsteil der Stadt? Suché Mýto ist der beste Ort im Stadtzen-

Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Foto: benedek/iStock.com

Essen Sie im Štefánka an der Ecke Štefánikova/Palisády zu Mittag. Das ist ein ikonischer Ort, an dem sich in der Vergangenheit böhmische Künstler und Schriftsteller trafen. Das Mittagessen kos­tet etwa sechs Euro. Empfehlenswert ist eine Übernachtung in der Pension Petit mit gutem Frühstück zu wirklich günstigen Preisen. Besten Kaffee gibt es in der Panenská.


Foto: Marc Dufresne/iStock.com

ARM AM ENDE Amerika ist in der Krise. Die Babyboomer erreichen das Rentenalter, aber ihre finanzielle Zukunft sieht düster aus. Viele arbeiten sich regelrecht tot. Eine tickende Zeitbombe, die Angst macht und sich entsprechend in Ressentiments und jüngeren Wahlentscheidungen wiederfindet. Trotz ihres Rufs, die wohlhabendste Generation zu sein, sehen sich die Babyboomer mit einem Alptraum im Ruhestand konfrontiert. Eine jüngst von der St. Louis Federal Reserve durchgeführte Studie über die Bereitschaft von US-Familien, in den Ruhestand zu gehen, stellt fest: »Es könnte beunruhigend sein, dass für viele amerikanische Haushalte die Gesamtsalden ihrer Rentenkonten möglicherweise nicht ausreichen, um ein solides Leben im Ruhestand zu gewährleisten.« Noch versucht die Investmentindustrie die Schuld abzulenken und argumentiert öffentlich immer noch, dass das Problem durch unzureichende Ersparnisse des Einzelnen verursacht sei. Doch längst bröckelt das Narrativ. Selbst ›Barron‘s‹, die Schwesterpublikation des ›Wall Street Journal‹, schlägt mittlerweile neue Töne an: »Amerikas Rentenkrise wurde nicht aufgrund von Charakterschwächen oder persönlicher Verantwortungslosigkeit verursacht. Sie kann realistischerweise auch nicht durch technokratische Korrekturen behoben werden. Die hässliche, unausgesprochene Wahrheit ist, dass viele Menschen einfach nicht genug Geld verdienen. Sie haben kaum genug, um ihre täglichen Ausgaben zu decken; sie haben nicht genug übrig, um sparen zu können«, heißt es dort überraschend aber unmissverständlich.

Goldene Jahre sind unerreichbar Martin Hart-Landsberg Foto: Street Roots

Die Babyboomer bewegen sich rasch auf den Ruhestand zu. Die 1946 Geborenen sind jetzt 74 Jahre alt und die 1964 Geborenen sind jetzt 56 Jahre alt. Obwohl sie für ihr wirtschaftliches Glück gefeiert wurden, insbesondere im Gegensatz zu den um die Jahrtausendwende Geborenen, stellte auch eine Untersuchung des Stanford Center on Longevity über die Vorbereitung auf den Ruhestand nun fest, dass »die

ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften am Lewis & Clark College, Portland, Oregon.


12

13

ASPHALT 08/20


Babyboomer in einer finanziell schwächeren Position sind als frühere Generationen von Rentnern«. Demnach haben die 55- bis 60-jährigen Boomer deutlich weniger gespart als frühere Genera­ tionen in diesem Alter. Sie haben auch eine höhere Schuldenlast. Im Durchschnitt betrug das angesparte Vermögen für diejenigen, die überhaupt ein Rentenkonto besaßen, 200.000 Dollar. Das wirkt nur auf den ersten Blick viel, doch darf man nicht vergessen, dass in Amerika die Altersvorsorge privat organisiert werden muss. Demnach sind 200.000 Dollar ein viel zu geringer Betrag, um das Einkommen zu gewährleisten, das erforderlich ist, um eine Person durch einen mindestens 20-jährigen Ruhestand zu führen. Und es kommt noch schlimmer: Einer von vier Boomern, die sich dem Renteneintrittsalter von 65 Jahren nähern, hat nicht einmal 1.000 Dollar beiseitegelegt. Afroamerikanische und lateinamerikanische Babyboomer stehen vor noch größeren Problemen: Sie verdienen weniger Geld und haben weitaus weniger Altersvorsorge als weiße Amerikaner. Laut Forbes hat die durchschnittliche weiße Familie mehr als 130.000 Dollar an liquiden Rentenersparnissen gegenüber 19.000 Dollar für den durchschnittlichen Afroamerikaner. Auch die Rentenersparnisse der Latinos liegen weit hinter denen der Weißen. Beispielsweise hatten 2014 unter den Erwerbstätigen im Alter von 55 bis 64 Jahren nur 32 Prozent der Latinos Geld auf einem Rentenkonto, verglichen mit immerhin 59 Prozent der Weißen. Und auf so einem durchschnittlichen Latino-Rentenkonto befanden sich 42.300 Dollar.

Abschied vom Ruhestand Mittlerweile haben in den Vereinigten Staaten rund ein Drittel der Senioren am Monatsende kein Geld mehr übrig oder sind bereits verschuldet. Eine soziale Zeitbombe ohne Gleichen. Entsprechend entscheiden sich heutzutage immer mehr Senioren für das lebenslange Arbeiten, sie verzichten teils gänzlich auf den Ruhestand. Der neueste »Boomer Expectations for Retirement«-Bericht aus dem Jahr 2019, der jüngst vom Insured Retirement Institute veröffentlicht wurde, besagt: Ein Drittel der Boomer im Alter von 67 bis 72 Jahren arbeitet noch voll. Während in Amerika die Erwerbsquoten für viele Alterskohorten zurückgehen, steigen sie für ältere Arbeitnehmer an. Leider haben viele dieser

Arbeitnehmer kaum eine andere Wahl, als schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Arbeit bei einigen der reichsten Unternehmen Amerikas wie Walmart und Amazon anzunehmen, die deren Verzweiflung offenbar gerne ausnutzen. Andere Senioren gehen noch weiter, verkaufen ihre Häuser, übernehmen gebrauchte Wohnmobile und reisen als Saisonarbeiter umher. Zhandarka Kurti, eine Assistenzprofessorin im Fachbereich Soziologie der Universität von Tennessee, Knoxville, beschreibt das so: »Mit dem motivierenden Slogan ›Arbeite hart, habe Spaß, schreibe Geschichte‹ versucht Amazon Saisonarbeiter bei sogenannten ›nomadenfreundlichen Wohnmobilshows‹ zu rekrutieren. Während die meisten der alten Nomaden in solchen Trainingsseminaren zwar auf die ›physischen Aspekte‹ der Arbeit aufmerksam gemacht werden, sind diese dann dennoch überrascht, wie sehr sie nach einem Arbeitstag Schmerzen haben. Amazons Lösung besteht darin, kostenlose, rezeptfreie Schmerzmittel anzubieten. Amazon lässt ältere Arbeiter körperlich so müde zurück, dass sie kaum Gelegenheit haben, ihre Freizeit zu genießen. Stattdessen verbringen sie den Rest ihrer ›freien‹ Zeit damit, sich wieder gesund zu pflegen, um einen weiteren Arbeitstag zu überstehen«. Weil private Renten und persönliche Ersparnisse nicht ausreichen, um einen angemessenen Ruhestand zu finanzieren, ist es kein Wunder, dass die Boomer jede Bedrohung ihrer sozialen Sicherheit als existenziell wahrnehmen, komme sie aus China, aus Europa oder über die südliche Grenze. Wenn die aktuellen Trends in Sachen Arbeit, Rente und Sozialversicherung nicht in Frage gestellt und umgekehrt werden, könnte die BoomerGeneration – oder zumindest ein großer Teil von ihr – die letzte sein, die eine Art zufriedenstellenden Ruhestand erlebt. Das wäre dann ein weiteres Anzeichen für ein gescheitertes System. Das System Vereinigte Staaten von Amerika. Martin Hart-Landsberg Courtesy of Street Roots/INSP.ngo

Anzeige


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

ASPHALT 08/20

MIT STADT IN DER STADT Fahren Sie doch mal nach Ljubljana in Slowenien: Niemand kennt die Plätze der Stadt besser als »Kralji Ulice«-Verkäuferin Špela. Hier ihre ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht ihre Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

Ljubljana hat viel Geschichte und ein altes Stadtzentrum. Ich liebe das Engagement der Stadt für den Erhalt historischer Sehenswürdigkeiten, insbesondere der antiken römischen Ruinen. Damals hieß die Stadt Emona und lag an einer wichtigen Handelsroute. Nehmt an einer Führung durch das römische Emona teil, ihr werdet staunen. Und dann gibt es noch die Stadt in der Stadt namens Metelkova. Sie ist autonom, im Zentrum ein großes besetztes Kasernengelände, ein spezieller, alternativer Ort. Es gibt viele Clubs und Bars, sogar Herbergen. Handwerker, Maler und andere Künstler wohnen dort. Hier findet auch das Weltmusikfestival Druga Godba statt, im September. Oder Mesto Zensk, die Stadt der Frauen, immer im Frühsommer.

Wie die Menschen sind? Ich muss sagen, dass die meisten meiner Kunden wirklich freundlich sind. Ihr findet mich übrigens in der Unterführung des Parkhauses Trdinova im Zentrum. Meine Stammkunden kennen mich gut und halten oft an, um zu plaudern, so dass mir nie langweilig wird. Entspannte Leute trefft ihr außer in Metelkova zum Beispiel im Cacao und Lolita oder in der Tozd Bar, alle schön an unserem Fluß, der Ljubljanka, gelegen.

Wann sich ein Besuch lohnt? Die beste Zeit für einen Besuch unserer Stadt ist im Frühling und Sommer. Neben allem, was ihr in Ljubljana sehen könnt, können ihr auch einen Ausflug ans Meer machen oder die Alpen besuchen – beides ist in einer Autostunde erreichbar.

Was nicht in Reiseführern steht? Kein Fremdenführer wird euch das unsichtbare Ljubljana zeigen. Unsere Straßenzeitung bietet einen Rundgang durch die versteckten Winkel der Stadt an, die meist mit Obdachlosigkeit zu tun haben. Ich bin eine der FührerInnen, die euch die Orte zeigen, an denen ich früher gelebt habe. Ihr seid herzlich eingeladen, daran teilzunehmen, wenn ihr nach Ljubljana kommt.

Mein Lieblingspark? Definitiv der Tivoli-Park. Ljubljana hat

15

Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Foto: xbrchx/shutterstock.com

Was ich besonders mag?

viele Grünflächen und der Tivoli ist einer der größten Parks der Stadt. Er eignet sich hervorragend für Spaziergänge und zum Entspannen. Er ist sehr ordentlich und nie überfüllt.

Kralji U

Ljubljana ist das Zentrum allen kulturellen Geschehens. Und überall ist es sehr ordentlich und sauber. Slowenien war 2018 das fünftsauberste Land der Welt und Ljubljana war 2016 die grünste Hauptstadt Europas. Im Jahr 2018 wurde Slowenien auch zum nachhaltigsten Land der Welt erklärt. Es liegt eingebettet zwischen smaragdgrünen Feldern, der Adria, schneebedeckten Gipfeln und ist zu fast 60 Prozent von üppigen Wäldern mit mehr als 40 Parks und Reservaten bedeckt, die rund 20.000 verschiedene Pflanzen und Tiere beherbergen. Ich muss auch unsere Küche erwähnen. Sie ist exquisit.

Foto:

Warum ich gerne hier lebe?

lice

14


Foto: Christina Simons

die Ăźberlebenden Koalas zu retten.

Foto: Jo-Anna Robinson/AP Images for HSI

Kelly Donithan hilft unermĂźdlich,


Als Buschfeuer im vergangenen Winter weite Teile Australiens verwüsteten, wurde auch Kangaroo Island hart getroffen – fast die Hälfte der Insel brannte ab. Viele Tiere starben. Wenige haben überlebt. Unterwegs mit den Helfern der Humane Society International. Wir stehen am Stamm eines Eukalyptusbaumes und schauen in sein Blätterdach. Wäschekörbe aus Plastik zu unseren Füßen. Die Buschfeuer von Anfang des Jahres haben die südaustralische Känguru-Insel verwüstet, zwei Menschen getötet, dutzende von Häusern zerstört und die Tierwelt extrem dezimiert. Mit einer Länge von 150 Kilometern und einer Küstenlinie von mehr als 500 Kilometern ist es eine große Insel – und gut die Hälfte »Es war unheimlich. davon ist verbrannt. Der dortige FlinDie Straßen waren ders Chase National Park, Epizentrum der Brände, ist nur noch eine verkohlte menschenleer, alles Landschaft aus Asche und Schlamm. brannte, rauchte.« Abgesehen vom gelegentlichen RaBilly Dunlop scheln der Blätter ist es ruhig. Ab und zu richten wir Worte der Ermutigung an einen jungen Mann in einem Geschirr, der sich weit oben mit Entschlossenheit an die spindeldürren Äste des Baumes klammert. Er versucht, einen Koala zu erreichen. Der Baum, auf dem der Koala lebt, ist noch gesund, ringsherum aber ist das öde Ergebnis der Feuerwalze zu sehen. Wenn man das Tier sich selbst überlässt, wird ihm irgendwann die Nahrung ausgehen, es wird verhungern. Diese Art der Tierrettung ist zur Normalität geworden, seit die Brände über die Insel gefegt sind. Kangaroo Island galt als ökologisches Wunderland, und die einzigartige Tierwelt – der reichlich vorhandene Koala, das Känguru, das Wallaby, der Wombat, das Opossum, der glänzende schwarze Kakadu, der winzige spitznasige Dunnart, die grüne Zimmermannsbiene und sogar das letzte reinrassige ligurische Bienenvolk der Welt – litt sehr darunter. Viele Tiere starben an Verbrennungen, ebenso viele an Rauchvergiftung. Vor den Bränden waren fast 50.000 Koalas auf der Insel zuhause – schätzungsweise noch 5.000 bis

10.000 sind davon übrig. Achtzig Prozent ihres Lebensraums wurden ausgelöscht. Und jetzt, fast sechs Monate später, sind die Tiere, die überlebt haben, mit einem sehr realen Nahrungsmangel konfrontiert. Aber Kangaroo Island baut sich langsam wieder auf. Die Zäune werden repariert, das überlebende Vieh versorgt, die zerstörten Häuser aufgeräumt. Geschwärzte Zweige tragen gelegentlich neues Grün, ein Teil des Grases wächst wieder nach. Wir folgen den Helfern, Mitglieder der Humane Society International (HSI). Die Tierschutzorganisation ist seit den Bränden ständig auf der Insel präsent und beteiligt sich an den Rettungsaktionen für Wildtiere, von Anfang an dabei sind Kelly Donithan und Evan Quartermain. Quartermain stammt aus Sydney, Donithan kommt aus Massachusetts/USA. Normalerweise arbeiten die beiden in eher unterentwickelten Ländern, nach Erdbeben etwa oder nach Verwüstungen durch Wirbelstürme. In Australien sind sie das erste Mal im Einsatz – Klimawandel ist in schlimmem Maße egalitär. Manchmal finden sie erschöpfte Tiere phlegmatisch kauernd am Boden, manchmal müssen sie mit Kletterausrüstung in die Bäume. Alle Helfer haben von den Krallen der Tiere zerkratzte Arme. Schaffen sie es, ein Tier aus einem einzelnen noch lebenden Baum zu holen, kommt es in den Wäschekorb. Ein zweiter umgedreht darüber, fertig ist der behelfsmäßige Käfig. Der Koala aus dem Baum wird ins kleine Städtchen Parndana gebracht. Hier gibt es den Kangaroo Island Wildlife Park, hier warten Tierärzte auf die verletzten traumatisierten Tiere.

ASPHALT 08/20

GRUMPY AUS DER ASCHE

16 17


Bis vor kurzem war der Wildlife Park hauptsächlich ein touristisches Ziel, mit nur wenigen Gehegen für die Handvoll verletzter Wildtiere, die jedes Jahr hierherkamen. Seit den Bränden ist er zu einem regelrechten Tierkrankenhaus geworden, in dem aktuell mehr als 600 Koalas medizinisch behandelt werden. Schnell wurde eine Reihe neuer Gehege gebaut. Tierpfleger und Tierärzte – viele Freiwillige aus dem ganzen Land – schwirren umher und kümmern sich um die Patienten. Der gerettete Koala ist ein Weibchen. Ein Tierarzt, der eigentlich im Zoo von Adelaide arbeitet, tauft sie auf den Namen Colette. Es ist gängige Praxis, die verletzten Koalas, die hereinkommen, zu benennen. Draußen in den Gehegen finden sie Noisy und Nosey, Chuck Norris und Big Guy, Fat Boy, Smash Face, Feisty und Grumpy. Colette wird auf die üblichen Anzeichen von Verletzungen untersucht, einschließlich verbrannter Pfoten und versengtem Fell. Draußen im Gehege stoße ich auf einen Pfleger, der das Fell eines anderen Koalas sanft kämmt, während dieser

Anzeige

a m n e s t y a f t e r wo r k Schreiben Sie für die Menschenrechte – gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen. Öffnungszeiten: Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr amnesty Bezirksbüro Hannover Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de Spenden an: IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475

weiterhin leise an Gummiblättern knabbert. Angesengtes Fell hindert einen Koala daran, sich selbst zu pflegen, was aber für die Wasserdichtigkeit unerlässlich ist. Bleiben die Tiere ungepflegt, sind sie anfällig für Unterkühlung. »Die Insel fühlte sich Anfang des Jahres wirklich wie ein Kriegsgebiet an«, erinnert sich Parkmanager Billy Dunlop. »Es war unheimlich. Die Straßen waren menschenleer, alles brannte, rauchte ... Die Heftigkeit des Feuers war anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. Einheimische brachten Tiere herein, die sie gefunden hatten, Feuerwehrleute und Militärangehörige, die Tiere gefunden hatten, und Menschen, die beim Vorbeifahren Tiere gefunden hatten«, fährt er fort. Bald wurde jedes verfügbare Gebäude und jeder Schuppen mit einer Reihe von Körben besetzt, in denen verletzte Koalas gepflegt wurden. Ein großes Zelt wurde zum ausgewiesenen Triage-Bereich. Und nur ein stetiger Geldspendenstrom hat es ermöglicht, die medizinischen »Wir versuchten Geräte und Medikamente zu beihnen Linderung kommen, die die Versorgung der zu verschaffen, Tiere immer besser machte. auch wenn es Als Evan Quartermain und Euthanasie war.« Kelly Donithan, zwei der Aktivisten von Colettes Rettungsaktion, Kelly Donathan während der Brände auf Kangaroo Island eintrafen, retteten sie hunderte Koalas, die sie entweder unter Einsatz des Lebens aus brennenden Bäumen rupften, oder zum Schutz zusammengekauert auf dem Boden fanden. »Es war die traumatischste Zeit meines Lebens. Man kann sich nicht auf das Ausmaß des Todes vorbereiten, das wir gesehen haben. Wir sahen täglich tausende von toten Tierkörpern. Es war ... überwältigend.« Donithan erinnert sich an einen Tag im Winter, an dem sie schnellen Flammen ausweichen musste, um zu verletzten Tieren zu gelangen. Sie fand ein Opossum, das zusammengekauert am Boden saß. »Sobald ich es hochhob, konnte ich die Hitze auf ihm spüren. Es brannte vor lauter Hitze«, erzählt sie. »Ich versuchte, Wasser über das Opossum zu gießen, aber ich wusste, was das Schicksal dieser Tiere sein würde ... Wir versuchten ihnen Linderung zu verschaffen, auch wenn es Euthanasie war.« Schon am nächsten Tag werden Colette und Grumpy zur Freilassung freigegeben. Mit Dunlop, Quartermain und Donithan fahren wir zu einer blühenden Plantage voller Koalafutter. Die Stimmung


Unsere Autorin Anastasia Safioleas entlässt Grumpy nach erfolgreichem Päppeln in vom Feuer unzerstörtes Gebiet.

Anastasia Safioleas Courtesy of The Big Issue Australia/INSP.ngo

ASPHALT 08/20

Foto: Evan Quartermain/HSI/Australia Foto: Christina Simons

Verbrannte Eukalyptuswälder auf Kangaroo Island.

ist fröhlich – die Freilassung eines wiedergefundenen Koalas ist ein Grund zum Feiern. »Wir hatten [im Park] mit einer Überlebensrate von zwölf Prozent gerechnet, und wir haben noch viel besser abgeschnitten; sie liegt bei etwa 30 Prozent«, sagt Dunlop. »Es war am Anfang so traurig, eine Wagenladung mit 30 Koalas zu bekommen und möglicherweise gleich am selben Tag die Hälfte davon zu verlieren. Aber unsere Fähigkeit, sie zu begleiten, hat sich weiterentwickelt, und die Einrichtungen sind jetzt vorhanden, so dass wir diese schwereren Verletzungen behandeln können. Wir haben gesehen, dass die Erfolgsquote steigt.« Dunlop fährt nie alleine zu einer Entlassung los. Er will den Helfern wie Quartermain und Donithan sowie dem Parkpersonal – einige von ihnen haben in den Bränden sogar ihr Zuhause verloren – die Gelegenheit geben, einen wirklich hart verdienten Moment zu genießen. Behutsam klettern wir über einen Stacheldrahtzaun und steuern auf einen hoch aufragenden Baum zu, wobei wir die Kisten unten am Stamm abstellen. Colette verliert keine Zeit und schießt aus der Kiste heraus den Stamm hinauf. Die Gruppe lächelt. Als nächstes ist Grumpy dran, der Koala mit der vom Feuer vernarbten Nase. Er hat lange gebraucht, um sich zu erholen. Und er wirkte all die Zeit immer ein wenig mürrisch. Daher sein Name. In letzter Zeit habe er Anzeichen von Unruhe gezeigt, wird uns erzählt. Er hat mindestens einen Fluchtversuch aus seinem Gehege unternommen und gelegentlich mit seinen langen Krallen nach den Pflegern geschlagen. Dunlop nennt ihn auch manchmal scherzhaft »wütender Mann«. Glücklicherweise hat er jetzt ein astreines Gesundheitszeugnis erhalten. Ich öffne die Tür der Kiste. Aber Grumpy bleibt sitzen. Wir sitzen und warten. Irgendwann schaut er zu uns hinaus und macht dann zögernd ein paar Schritte. Er setzt sich leise an den Fuß des Baumes und starrt uns an. Wir starren zurück. Ein paar Minuten vergehen. Quartermain fragt sich laut, ob dies ein schlechtes Zeichen ist. Wir warten noch ein wenig. Grumpy wirft schließlich noch einen letzten Blick auf uns und beginnt seinen langsamen Aufstieg auf den Gummibaum. Er findet einen Ast nach seinem Geschmack, nimmt Platz, greift nach einer Handvoll Blätter und beginnt langsam zu mampfen.

18 19


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

Faktu Foto:

m

WO MAN VALBORG FEUERT Fahren Sie doch mal nach Göteborg in Schweden: Niemand kennt die Straßen der Stadt besser als »Faktum«-Verkäuferin Eija. Hier ihre ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht ihre Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

Warum ihr Göteborg besuchen solltet? Göteborg wird das Gesicht Schwedens genannt. Es liegt an der Westküste Schwedens, der besten Küste. Göteborg ist eine Hafenstadt mit vielen kleinen Inseln in der Nähe, die man mit dem Boot erreichen kann. Meer und Kultur: Das ist Göteborg.

Wann besuchen Sie Göteborg? Die Wärme kommt im Mai. Die Bäume stehen in voller Blüte und die Menschen sitzen vor den Cafés und Bars. Das Meer ist zwar noch nicht warm, die Strände sind trotzdem toll. Der letzte Tag im April ist Valborg. Die Menschen zünden dann große Feuer an, um zu feiern, dass der Winter vollständig vorbei und der Sommer fast da ist. Eine der Universitäten veranstaltet dann eine große Parade, die durch die Stadt zieht. Feststimmung pur.

Foto: Miro Marsik/shutterstock.com

Was ihr auch nicht verpassen solltet? Besucht Liseberg. Das ist ein Vergnügungspark, der für jedes Alter geeignet ist. Er liegt mitten in der Stadt und verfügt über extreme Fahrgeschäfte, Karussells, ein Spukhaus und ein sehr schönes Winterwunderland zu Weihnachten. Im Sommer finden dort auch große Konzerte statt. Wenn ihr Blumen und Bäume mögt, müsst ihr den botanischen Garten von Göteborg besuchen. Dort gibt es Pflanzen aus der ganzen Welt, und es ist toll, dort Picknicks zu machen.

Mit kleinem Budget? Slottsskogen! Es ist ein riesiger offener Park mit Wäldern, grünen Feldern und einem kostenlosen Zoo. Viele Menschen

trainieren dort, und es eignet sich hervorragend für große Gruppen, die Frisbee oder Volleyball spielen oder einfach nur entspannen und grillen. Mein Lieblingstier, das ich dort beobachten kann, sind die Elche. Aber da gibt es auch Robben, Pinguine, Rehe und Hirsche, die wild im Parkwald umherstreifen. Jeden Sommer findet eine Woche lang ein riesiges Fest in der Stadt statt.

Geheimnisse, die nur die Einheimischen kennen? Ihr solltet die Flohmärkte besuchen. In der Sommerzeit gibt es viele davon. Fast jedes Wochenende findet einer auf einem Fußballplatz in Slottsskogen statt. Aber es gibt auch viele überdachte kleinere Flohmärkte und viele Secondhand-Läden. Mit Glück könnt ihr einige gute Schnäppchen machen. Mich selbst findet ihr mit meinem Hund Bamse an meinem Verkaufsplatz in Kållered.

Die beste Aussicht? Vom Riesenrad im Vergnügungspark. Ist aber echt riesig das Rad. Aber um den allerbesten Aussichtspunkt zu erreichen, müsst ihr euch schon ein bisschen anstrengen. Er heißt Ramberget. Um dorthin zu gelangen, müsst ihr die Straßenbahn nach Hisingen nehmen und dann zu Fuß nach oben gehen. Von dort oben kann man fast die ganze Stadt sehen und bei gutem Wetter bis Vinga, einem berühmten Leuchtturm in den Schären. Auf dem Berg sind Aussichtspunkte markiert, damit ihr wisst, was ihr in welcher Richtung suchen müsst. Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK


Corona-Pandemie, die Welt steht still (oder sollte sie) und alle, bei denen Urlaubsreisen zum jährlichen »Muss« gehören, sind frustriert, dass sie in diesem Jahr nicht wie gewünscht reisen können. Vielleicht, weil ich mir noch niemals einen Urlaub leisten konnte, kann ich das so gar nicht nachvollziehen. Ein Jahr nicht irgendwo hin fliegen zu können, ist das wirklich so schlimm? Leid tun mir überall auf der Welt diejenigen, die auf das Geld dieser Urlauber, vielleicht sogar vorrangig der Deutschen, angewiesen sind, die in Hotels und Restaurants, Souvenirläden und in vielen anderen dienstbaren Bereichen arbeiten. Wie überall sind sie die Verlierer in dieser Corona-Pandemie. Und das ist wirklich bitter. Also hoffe ich, dass 2020 ein einmaliger »Ausrutscher« war und 2021 die Welt wieder in Ordnung ist! Karin Powser

Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

ASPHALT 08/20

Das muss mal gesagt werden …

20 21


Foto: Louise Haywood-Schiefer

VON AUSSEN NACH OBEN


ASPHALT 08/20

Sie stahl Essen und schlief auf der Straße. Mit Entschlossenheit – und mit Hilfe von The Big Issue – drehte Sabrina Cohen-Hatton ihr Leben um. Heute ist sie die ranghöchste Feuerwehrfrau Großbritanniens und managte die Einsätze nach Terroranschlägen und beim Brand des Grenfell-Towers in London. Ein Porträt – und eine Straßenzeitungs-Erfolgsgeschichte.

22 Wir hatten keine Heizung, wir hatten kein Essen. In der Schule war es mir zu peinlich, Sport zu treiben – ich wollte mich nicht umziehen, weil meine Füße schmutzig waren. Ich hatte keine engen Freunde, denn wir waren die schmutzigen, verwahrlosten Kinder, mit denen niemand etwas zu tun haben wollte.« So lief sie fort. Landete auf der Straße. »Zwei Jahre lang schlief ich entweder auf der Straße oder trieb mich als Couchsurfer rum. Und es war eigentlich ziemlich scheiße. Wir schliefen in der Tür einer stillgelegten Kirche, bis sie mit Brettern vernagelt wurde. Ich schlief in der U-Bahn, bis ich aufwachte, weil ein Typ auf meinen Schlafsack pinkelte.«

Eine zentrale Erkenntnis Unterstützung fand Sabrina bei einer Gruppe von älteren Obdachlosen, die sich auf der Straße um sie kümmerten. Während dieser ganzen Zeit versuchte sie, sich einen Hauch von Normalität zu erhalten, indem sie ihre Bücher in einer sauberen Ecke eines verfallenen Gebäudes, in dem sie früher schlief, versteckte. »Es war bei uns auf eine Art und Weise wie eine Gemeinschaft, die ich ironischerweise vorher noch nicht erlebt hatte«, sagt sie. »Denn wenn das Leben so schwierig ist, fühlt man sich sehr isoliert, sogar innerhalb einer Familie. Ein Typ war echt erstaunlich – er hatte sein ganzes Leben jenseits jeder Fürsorge gelebt. Vom ersten Tag an behandelte er mich wie seine kleine Schwester. Ich bin ihm sehr viel schuldig. Es sind die, die am wenigsten haben, die am meisten teilen«, das ist Sabri­nas wichtigste Erkenntnis aus der Zeit auf der Straße. Seit 2004 gibt es in Großbritannien ein Kindergesetz, das öffentliche Einrichtungen dazu verpflichtet, Informationen weiterzugeben, wenn sie glauben, dass ein Kind irgendwie prekär lebt. Vielleicht hätte ihr das damals, als Sabrina ist heute Botschafterin für die Stradie Familie verarmte, geholfen. »Aber ßenzeitung, die ihr einst half. Hier mit The meine Zeit auf der Straße begann 1999. Big Issue-Gründer John Bird. Foto: The Big Issue

»Ich war 16 Jahre alt, als ich begann, The Big Issue zu verkaufen. Eigentlich 15, aber ich habe über mein Alter damals geschummelt«, sagt Sabrina Cohen-Hatton. »Jeden Tag nach der Schule verkaufte ich die Straßenzeitung, nachts schlief ich auf Straße, mitten im Stadtzentrum, das war kein Geheimnis. Ein Lehrer sah sogar mal, wie ich die Zeitschrift verkaufte, aber er überquerte die Straße, um mir auszuweichen.« Als sie das erzählt, entfährt ihr ein hohles Lachen über die Erinnerung, leise nennt sie ihn einen Idioten. Jahrelang hat Sabrina Cohen-Hatton die alten Erinnerungen unterdrückt. Es fällt ihr schwer, über ihre Vergangenheit zu sprechen, aber sie tut es jetzt. »Um den Menschen zu sagen: Das definiert euch nicht. Die Umstände bestimmen nicht, wo ihr endet, sondern nur, wo ihr anfangt. Sie bestimmen nicht, was ihr tun könnt.« Sabrinas Geschichte ist eine Geschichte von Armut und vom Fehlen eines Sicherheitsnetzes, von Gemeinschaft und Überleben. Und von eisernem Willen. »Das Leben war brillant, bis mein Vater krank wurde. Man gab ihm noch sechs Monate zu leben«, sagt sie. »Er war ein großartiger Mann. Er und meine Mutter haben einander absolut vergöttert. Bis zu dem Punkt, dass meine Mum heute noch auf dem Sofa schläft, auf dem er starb. Sie ist nie über seinen Tod hinweggekommen.« Sabrina war neun, als er starb. Nach seinem Tod wurde die Mutter psychisch krank. Und die Kinder rutschten durchs grobmaschige soziale Netz Großbritanniens. »Die Dinge wurden dadurch wirklich schwierig. Wir waren völlig verarmt. Unser Schulessen war die einzige wirkliche Nahrung, die wir bekamen.

23


Ich suchte Hilfe bei Behörden, aber es gab keine«, sagt sie. »Ich ging sogar zur Stadtverwaltung, um auf die Wohnungsnotliste zu kommen, aber Menschen, die dabei waren, obdachlos zu werden, wurden gegenüber Menschen, die bereits obdachlos waren, bevorzugt. Ich nehme das heute nicht mehr übel, weil es schrecklich ist, obdachlos zu werden – es zu vermeiden ist immer gut. Dafür aber habe ich manchmal aus Mülleimern essen müssen.«

15 Pfund und 1 Chance

Foto: REUTERS/Darren Staples

Als sie so auf sich allein gestellt das erste Mal die niedrige Schwelle zum Vertriebsbüro von The Big Issue in Cardiff überschritt, gab man ihr 15 Pfund, denn sie hatte nichts. Als Überbrückungsgeld. Dazu gab es Startexemplare der aktuellen Zeitungsausgabe. Für den Straßenverkauf. »Das war das Tolle an The Big Issue. Das gab mir die Möglichkeit, etwas zu verdienen. Und es gab mir etwas Würde zurück in einer Zeit, in der ich das Gefühl hatte, keine zu haben. Wenn man dieses Leben lebt, fühlt man sich unsichtbar, wie ein Gespenst in der Gesellschaft. Wenn du so daran gewöhnt bist, dich verletzlich zu fühlen, sieht man alles als eine Bedrohung an.« Glück hatte Sabrina auf noch ganz anderem Feld. »Ich bin nie selbst an Drogen gera-

ten«, fährt sie fort. »Aber in Kontakt kam ich häufig mit ihnen. Als ich 17 Jahre alt war, war ich bereits auf sieben Beerdigungen von Obdachlosen, mit denen ich zusammen war und die an einer Überdosis starben. Das passierte direkt neben dir. In der einen Minute sind sie da, in der nächsten sind sie für immer verschwunden. All diese Menschen sind jemandes Sohn oder Tochter, Mutter oder Vater. Das war wirklich, »Ich wollte die wirklich hart.« Menschen dazu Noch während ihrer Zeit als Straßenzeitungsverkäufebringen, über rin in Newport, Cardiff und die menschliche gelegentlich auch in ChepsSeite der Brandtow machte Sabrina ihren bekämpfung nachAbschluss. Mit eiserner Diszi­ zudenken, nicht plin. Von morgens um sechs bis abends um sieben verkaufnur über die Vorte sie The Big Issue. Und jeden stellung, dass man Tag legte sie ein bisschen zur die 999 wählt und Seite. Irgendwann reichte das dann ein SuperGeld für drei Monatsmieten held erscheint.« im Voraus, 600 Pfund insgesamt. Die sehr kleine billige Sabrina Cohen-Hatton

»Ich fühle Verantwortung für die, die sich immer noch in diesem täglichen Überlebenskampf befinden, anstatt wirklich zu leben«, sagt Sabrina Cohen-Hutton.


ASPHALT 08/20

Foto: Picture-Alliance/ZUMAPRESS.com | Guilhem Baker

24 25

Im Juni 2017 brannte der Grenfell Tower aufgrund falscher Wärmedämmung in kurzer Zeit nahezu vollkommen aus. Wegen fehlender Fluchtwege starben 72 Menschen.

Mietwohnung außerhalb von New­port wurde ihr erstes eigenes Zuhause. »Mein Hund Menace kam mit mir in die Wohnung und schlief auch dann noch zeitlebens auf meinen Füßen – wie er es tat, als wir in einem Schlafsack schliefen.«

Feuerwehr ist mehr Die eigene selbstverdiente Wohnung war die neue Basis für den nächsten Schritt. »Ich wollte unbedingt zur Feuerwehr gehen. Schon als ich noch obdachlos war, war das mein Traum«, sagt sie. »Ich bewarb mich bei 30 verschiedenen Feuerwehren im ganzen Land. Ich wäre überall hingegangen, aber ich bekam den Job in Südwales. Und von da an ging es nur noch aufwärts. Sie nahmen mich dort, wie ich war. Sie nahmen ein Mädchen, das lange Zeit ohne festen Wohnsitz war und dessen bisher größte Errungenschaft es war, zum ›Big Issue Vendor of the Week‹ ernannt zu werden. Die Feuerwehr gab mir diese zweite Chance. Aber was mich wirklich angezogen hat ist, dass sie einem die Möglichkeit gibt,

das Leben anderer zu verbessern. Sei es, dass man proaktiv dafür sorgt, dass es nicht brennt, oder dass man zu den Menschen gehört, denen viele vertrauen, die wissen, was am schlimmsten Tag eines Menschen zu tun ist. Und ich wusste ja, wie sich Verwundbarkeit anfühlt. Ich wollte fortan andere Menschen auf eine Art und Weise retten, wie niemand mich gerettet hatte. Das ist etwas, das ich jeden Tag mit mir herumtrage, wenn ich zur Arbeit gehe. Bis heute.« Sabrina Cohen-Hatton trat der Feuerwehr bei und durchlief all die möglichen Ränge. Mit 25 Jahren war sie Stationskommandantin. Darauf sattelte sie ein Studium. Zu diesem Psychologiestudium wurde sie durch einen Vorfall inspiriert, bei dem sie befürchtete, dass ihr damaliger Verlobter – heute Ehemann – Mike bei einem Einsatz verletzt wurde und einer seiner Kollegen schwere Verbrennungen erlitt. »Es gab einen Unfall mit einem Feuerwehrauto und ich wusste, dass er sich darin befand. Es bestand eine Chance von eins zu vier, dass er der schwer Verbrannte war. Als ich sah, dass es ihm gut ging, hatte ich dieses Gefühl der Erleichterung, aber auch ein massives Schuldgefühl – denn während der ganzen Fahrt zum Unfallort drückte ich die Daumen und hoffte, dass er es nicht war. Ich hatte das Gefühl, es jemand anderem gewünscht zu haben. Und diese Person war unser Freund, nicht nur ein Kollege.« Scham und Schuldgefühle seien die Folge gewesen.


Um das zu kompensieren, so sagt sie heute, habe sie nach Möglichkeiten gesucht, die Zahl der Verletzungen von Feuerwehrleuten zu verringern. »80 Prozent aller Arbeitsunfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Nicht das Versagen eines Gerätes oder eines fehlerhaften Verfahrens, sondern ein menschliches Versagen. Jemand, der effektiv zur falschen Zeit am falschen Ort die falsche Wahl trifft – mit dem Ergebnis, dass echte Menschen verletzt werden.«

Frau Doktor So begann sie die Mechanismen zu entschlüsseln, die sich im Kopf abspielen, wenn man den ungewöhnlich brenzligen Umständen im Dienst ausgesetzt ist. Das war der Antrieb für ihre Doktorarbeit. Die Promotion gelang ihr in nur drei Jahren und direkt nach der Geburt ihrer Tochter Gabriella, die jetzt zehn Jahre alt ist, begann sie mit weiterer Forschung. Wie sie das geschafft hat? »Jemand sagte mir, er glaube nicht, dass ich es schaffe – das war das Feuer, das ich brauchte!« Ihre Forschung hat seither eine ganze Reihe internationale Preise gewonnen, darunter zwei von der ehrenwerten American Psychological Association. Und sie hat Veränderungen in den Entscheidungsprotokollen für die britische Feuerwehr und anderer Notdienste bewirkt. »Ich wollte die Menschen dazu bringen, über die menschliche Seite der Brandbekämpfung nachzudenken, nicht nur über die Vorstellung, dass man die 999 wählt und dann ein Superheld erscheint«, sagt sie. »Die Stärke eines Feuerwehrmenschen liegt darin, wie er als Team arbeitet – und dafür braucht man eine vielfältige Gruppe, die mit jeder Art von Situation umgehen kann. Sie wollen ja keine Werkzeugkiste voller gleich großer Schraubenschlüssel, also wollen Sie auch keine Mannschaft, die komplett massiv und muskulös ist. Als ich auf den Lastwagen saß, war ich zum Beispiel oft diejenige, die in den hinteren Teil eines zerfetzten Wracks kroch, um lebensrettende Erste Hilfe zu leisten, weil ich die Kleinste war.« Sabrina Cohen-Hatton stieg weiter auf, war während der Terror­ anschläge und während des weltweit Aufsehen erregenden Brandes des Grenfell Towers, der 2017 aufgrund baulicher Mängel 72 Menschenleben forderte, stellvertretende Chefin der Feuerwehren in der britischen Hauptstadt. Und leitete die anschließenden Untersuchungen. Seit einem Jahr ist sie im County West Sussex südlich von London Chefin von 25 Feuerwehrstationen. Mit 37 Jahren. »Heute sitze ich in meinem warmen, gemütlichen Zuhause, das ich jetzt besitze, tippe auf meinem Laptop, den ich mir leisten kann, mit Essen im Kühlschrank und einer Familie um mich herum, die ich liebe und die mich liebt. Und ich fühle immer noch diese massive Verantwortung für die Menschen, die auf der Straße gestorben sind, als ich bei ihnen war. Und für die Menschen, die sich immer noch in diesem täglichen Überlebenskampf befinden, anstatt wirklich zu leben.« Adrian Lobb Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Straßensolidarität – unser Netzwerk John Bird ist der Vater der Straßenzeitungsbewegung in Europa. Als Straßenkind groß und kleinkriminell geworden, verbringt er die ersten 40 Lebensjahre unter anderem als Tellerwäscher, Laufbursche, Dichter und immer mal wieder hinter Gittern. 1991 gründet er die erste soziale Straßenzeitung in Europa, die The Big Issue in London. Andernorts entstehen erste Nachfolger. Gemeinsam mit Macadam in Paris, Terre di Mezzo in Mailand und BISS in München gründet Bird 1994 das Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen INSP. Ziel: Gegenseitige solidarische Unterstützung und Aufbau einer weltumspannenden Straßenzeitungsbewegung. Im selben Jahr wird Asphalt gegründet und ist von Anfang an dabei. Heute sind gut 100 Straßenzeitungen zwischen Japan und Amerika, zwischen Südafrika und Finnland dabei. Alle Straßenzeitungen zusammen helfen aktuell zu diesem Zeitpunkt rund 22.000 so genannten Marginalisierten, vornehmlich wohnungslosen und drogenabhängigen Menschen. Im Laufe der Zeit konnte das Netzwerk etwa 300.000 Menschen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft helfen. Im vergangenen Jahr wurden weltweit etwa 19,4 Millionen Zeitschriften verkauft. Monat für Monat entstehen so Geschichten und Bilder von der Straße, für die Straße, lokale und globale Reportagen und Feature für interessierte Leserinnen und Leser. Wir teilen sie untereinander in einem eigenen Pool, unserer INSP-eigenen kleinen Nachrichtenagentur. Im Unterschied zu herkömmlichen Medien allerdings honorarfrei und solidarisch, denn die finanziellen Ressourcen unserer Freunde in der Welt sind höchst unterschiedlich. So lesen beispielsweise in diesem Moment anderswo auf der Welt Menschen Asphalts Seuchengeschichte aus Asphalt 07/2020. Und Asphalt-Leser lesen in dieser besonderen »Asphalt … auf Reisen« Straßenzeitungsgeschichten von an­derswo. Und John Bird ist längst Mitglied im House of Lords. MAC


IM UNTERGRUND DER FRÜHESTEN CHRISTEN

Scarp Foto:

de' te

nis

ASPHALT 08/20

TRIP-TIPP INTERNATIONAL

26 27

Fahren Sie doch mal nach Neapel in Italien: Niemand kennt die Straßen der Stadt besser als »Scarp de' tenis«-Verkäufer Sergio Gatto. Hier seine ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht seine Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

Ein Tourist, der nach Neapel kommt, muss unbedingt das Castel Sant‘Elmo besuchen. Es erhebt sich über der Stadt und von dort aus kann man den Lungomare, die Strandpromenade, bewundern. Man kann architektonische und künstlerische Werke sehen, die die Geschichte der Stadt und der Neapolitaner geprägt haben.

Wo man gut essen kann? In Neapel kann man exzellenten Kaffee trinken, exquisite Pizza essen, Pasta mit leckerem Ragout essen, aber nicht jeder kennt die Casiatello und Pastiera, beliebte Gebäckstücke oder Kuchen, die man vor allem in der Osterzeit isst. Und dann gibt es noch die Zitronenkuchen, eine typische Spezialität von Sorrent.

Mein Lieblingsort? Das Café Plaza Leon befindet sich auf der Piazza Giovanni Leone, in der Nähe der Porta Capuana, einer der antiken Eingangsstraßen in die Stadt. Ich gehe gerne dorthin, um einen guten Kaffee zu trinken, sitze gemütlich da und unterhalte

mich mit dem jungen Barista, der mich zusammen mit meinem Kaffee leckere Croissants mit Pistaziencreme essen lässt. Von diesem privilegierten Ort aus kann ich den Platz beobachten, auf dem sich früher der Markt und das alte herrschaftliche Amtsgericht befanden, gerade erst restauriert.

Was man nicht verpassen sollte? Etwas, das Sie auf keinen Fall verpassen sollten, ist die Untergrundtour durch Neapel. Sie können hinuntergehen und das Aquädukt und das griechisch-römische Theater, die Katakomben der ersten Christen und die Überreste der Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg besichtigen.

Die beste Zeit für einen Besuch? Sie können Neapel jederzeit während des Jahres besuchen. Im Winter ist das Wetter nicht sehr kalt, und im Sommer, auch wenn es heiß ist, weht immer ein schöner Wind vom Meer her. Und jeder weiß, wie gastfreundlich und einladend die Menschen aus Neapel sind. Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Foto: posztos/shutterstock.com

Wo jeder Tourist hingehen muss?


RUND UM ASPHALT

Abendstimmung im Late-Zoo

iel

Gewinnsp

Eine fast verzaubernde Stille legt sich abends über die Wildnis Kanadas in Yukon Bay und die verwunschene Ruine des indischen Dschungelpalastes. Letzte Sonnenstrahlen spiegeln sich im Wasser des Sambesi und taucht die afrikanische Steppenlandschaft in goldgelbes Licht. Die Pfauen rufen, ein kleiner Präriehund bellt und in der Ferne heult ein Wolf. Aus dem Hafenbecken von Yukon Bay ertönt ein leises Plätschern – ist da gerade eine Robbe aufgetaucht? Diese besondere Atmosphäre können die Besucher noch bis zum 25. August immer dienstags und donnerstags bis 21 Uhr beim Late-Zoo mit dem Boot über den Sambesi oder zu Fuß durch die einzigartigen Themenwelten genießen. Viele Tiere sind noch zu sehen. Einige Arten suchen zwar etwas früher ihr Nachtquartier auf, doch spätestens in der Dämmerung werden die nachtaktiven Tiere wach: Stachelschweine, Wombats, Wölfe und die quirligen Waschbären. Verschiedene Gastronomie-Outlets bieten kulinarische Köstlichkeiten für den kleinen und den großen Hunger. Mit Asphalt können Sie zwei Tagestickets für den Zoo Hannover gewinnen! Beantworten Sie uns einfach folgende Frage: An welchen Wochentagen öffnet der Late-Zoo? Jeder Besucher

Foto: Zoo Hannover

Asphalt verlost 10 x 2 Karten für den Zoo Hannover

benötigt zu den Tickets zusätzlich eine Zutrittsberechtigung. Diese gibt es ausschließlich online unter shop.erlebnis-zoo.de Schicken Sie uns eine Postkarte, eine E-Mail oder ein Fax mit Ihrer Antwort und dem Stichwort »Zoo« bis zum 31. August 2020 an: Asphalt-Redaktion, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover, gewinne@asphalt-magazin.de, Fax 0511 – 30126915. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Die Lösung unseres letzten Zoo-Rätsels lautet: »Eisbär, Tiger, Wüstenantilope«.

gesucht – gefunden Verkäufer Guido: Ich suche eine Spiegelreflexkamera und einen Laptop zum Verwirklichen eines YouTube-Kanals. Möglichst geschenkt. Danke im Voraus! [V-Nr. 1907/Hannover] Kontakt: 01520 – 3440389. Verkäuferin Heidi: Suche Rollator und Damenfahrrad günstig oder geschenkt. Ich bedanke mich im Voraus! [V-Nr. 1786/Hannover] Kontakt: 0162 – 2658263.

Verkäuferausweise Bitte kaufen Sie Asphalt nur bei Verkäufer­Innen mit gültigem Ausweis! Zurzeit gültige Ausweisfarbe (Region Hannover): Hellgrün

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias, Svea Müller Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: B. Pütter, W. Stelljes Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1 redaktion@asphalt-magazin.de

vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 27. Juli 2020 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung nur, wenn Porto beigelegt wurde.

Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

e surpris

Was ich an Basel toll finde?

Ein kostenloser Ort in Basel …

Dass hier viele verschiedene Kulturen zusammenleben, vor allem im Kleinbasel. Ich finde das auch deshalb so spannend, weil ich als Stadtführerin mit vielen Leuten ins Gespräch komme, ich lerne auch Leute in Armut oder Sexarbeiterinnen kennen. Früher ging ich zu vielen dieser Menschen auf Abstand, ich habe das auch zuhause so gelernt. Heute freue ich mich, wenn ich mehr über ihr Leben erfahre: Wie geraten sie in die Armut? Wie rutscht man in die Sexarbeit? Weshalb kommt jemand ins Gefängnis? Ich erlebe die Stadt als Sammlung von sehr vielfältigen persönlichen Geschichten.

sind die Quartierflohmärkte. Die gibt es von Frühling bis Herbst jeweils samstags oder sonntags. Privatpersonen verkaufen in ihren Hinterhöfen Sachen aus ihrer eigenen Wohnung oder ihrem Keller. Hier kann man stundenlang stöbern und sieht dabei Hinterhöfe, die man sonst nie zu Gesicht bekommen würde. Die Flohmärkte findet man online: www. quartierflohmibasel.ch

Das St. Alban-Tal mit dem St. Alban-Tor, das ein ehemaliges Stadttor ist, und der Papiermühle, die ein kleines Museum hat. Ich gehe da oft von der Nachbargemeinde Birsfelden her zu Fuß durch, alles den Rhein entlang. Es gibt da eine schöne Allee mit Bäumen.

Mein Lieblingcafé? Ich habe zwei: die Oetlinger Buvette am Rhein, die von April bis Oktober geöffnet ist, und das Café Flore im Kleinbasel. Beide sind »Café Surprise«, das heisst, dass Menschen, denen das Geld fehlt, dort gratis einen Kaffee bestellen können, den jemand anders zuvor gespendet hat. Anderswo nennt man das cafe sospeso. Die Betreiber sind tolle, soziale Leute.

29

Was nur Einheimische kennen? Der Andreasplatz ist ein kleiner Platz mitten in der Stadt mit dem Flair eines Hinterhofs, mit einem Café mitten in den Altstadt-Wohnhäusern. Schön ist auch ein anderer kleiner Platz mit Bäumen und Bänken beim Musikinstrumentenmuseum, auch mitten in der Altstadt. Dann gibt es das Bollwerk: bei der Heuwaage die Treppe rauf, da gibt’s einen Getränke- und Glacewagen und viele kleine Nischen die Stadtmauer entlang mit Tischen und Stühlen. In der Mitte ein paar Bäume und ein Holzboden. Es ist dort sehr ruhig, und man kann trotzdem Leute beobachten.

Wann Basel am schönsten ist? Im Frühling. Dann blüht alles, und es sind nicht so viele Touristen hier wie im Sommer. Man spürt im Frühling das Stadtleben am besten. Herbst ist aber auch schön. Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Foto: trabantos/iStock.com

Mein Lieblingsstadtteil?

28

Foto:

Fahren Sie doch mal nach Basel in der Schweiz: Niemand kennt die Orte der Stadt besser als »surprise«Verkäuferin Danica. Hier ihre ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht ihre Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

ASPHALT 08/20

WO VERSTECKTE PLÄTZE LOCKEN


VENEDIGS BESETZER Immer mehr Touristen, immer weniger Bewohner: Das Weltkulturerbe Venedig wird zur Geisterstadt. Gegen steigende Mieten und Zwangsräumungen kämpfen die AktivistInnen von der ASC. Illegal und doch oft geduldet. Von der Aktion hatten sie ein Video ins Netz gestellt: Die Polizei versucht darin noch, sie aufzuhalten, aber schließlich ringen sich die Aktivisten an ihnen vorbei und stehen bald am oberen Ende der Treppe und blockieren die Tür zum Haus von Alessandra Valletti und Carlo Spinazzi. Erfolg. Kurzfristig. Das ist jetzt über ein Jahr her, aber Alessandras Hände zittern immer noch, und ihre Stimme versiegt fast, als sie sich an diesen Tag erinnert. »Ich hatte Angst wie ein kleines Kind. Sie schickten eine ganze Wagenladung Polizei, um uns zu vertreiben, könnt ihr euch das vorstellen?«, fragt Valletti (55), die hier mit ihrem Mann Carlo Spinazzi (59) gewohnt hat. Ja, es gelang den Akti-

visten, die Räumung der Wohnung unweit vom Lido an jenem Montag im Januar zu stoppen – allerdings nur vorübergehend. Wenige Wochen später kam ein Umzugswagen. Zwangsräumung vollzogen. Seitdem leben Valletti und Spinazzi in der kleinen Zweizimmerwohnung im Norden von Venedig. Im Grunde illegal. »Was hätten wir sonst tun sollen?«, fragt Valletti. »Wenn man kein Einkommen hat, kann man die Miete nicht bezahlen: Es ist ganz einfach.« Begonnen habe alles vor gut zwei Jahren. Knapp bei Kasse hatten sie und Carlos ihre Vermieterin um Stundung der Mietzahlung gebeten. »Das war kein Problem, wir hatten


Zähler ausgetauscht Doch eines Tages teilte die Vermieterin über ihren Anwalt mit, dass ihre Frist abgelaufen sei und das Paar ein Räumungsdatum erhalten würde. Als Carlo von der Basisorganisation Assemblea Sociale per la Casa (ASC), der »Sozialversammlung fürs Haus«, hörte, ging er sofort dorthin. »Sie halfen uns, die Räumung hinauszuzögern und fanden diese Wohnung für uns«, erklärt Alessandra. »Weil sie im Erdgeschoss liegt, wird sie etwas feucht, aber sie ist immerhin frisch gestrichen.« Von außen sieht sie wie jedes andere Haus in Venedig aus. Für die Touristen, die an den Kanälen vorbeischlendern, gibt es nichts, was dieses Arbeiterhaus aus den 1940er Jahren von den anderen Gebäuden des Viertels mit ihren hellen pastellfarbenen Fassaden und braunen Fensterläden unterscheidet. Auch von innen sieht es wie ein gewöhnliches Haus aus. Wenn man Anzeichen dafür sucht, dass die Wohnung illegal bewohnt ist, muss man ins Treppenhaus hinausgehen, wo Alessandra und Carlo den von der Gemeinde installierten Wasserzähler abgeschraubt und durch ihren eigenen ersetzt haben. »Da wir keinen Mietvertrag haben, weigern sich die hiesigen Stadtwerke, uns als Kunden zu akzeptieren«, sagt Alessandra. »Aber mit unserem eigenen Zähler wissen wir, wie viel Wasser wir verbrauchen, so dass wir ihnen trotzdem jeden Monat einen Betrag überweisen können«, sagt Alessandra. In Venedig geboren und aufgewachsen, will Alessandra um jeden Preis in ihrer geliebten Stadt bleiben – auch wenn dies bedeutet, dass sie gezwungen ist, illegal in der Stadt zu leben. Das würde sie lieber tun, als sich dem Exodus der Venezianer anzuschließen, die die Inselstadt verlassen, um auf dem Festland ein größeres Angebot an Arbeitsplätzen, Unterkünften und Dienstleistungen zu finden. »Ich habe meine Freunde und alles, was mich hier glücklich macht«, sagt Alessandra. »Ich brauche keine Einkaufszentren oder Kaufhäuser.«

70 Familien geholfen hat, leer stehende Wohnungen zu übernehmen. »Am Anfang waren wir vor allem Linke, die aus Protest gegen die Wohnungspolitik Wohnungen besetzt haben, aber um 2011 haben wir unseren Schwerpunkt geändert«, sagt Nicola. »Seitdem geht es darum, normalen Menschen zu helfen, die von einem Tag auf den anderen entdecken, dass sie nirgendwo mehr wohnen können.« Eine wichtige Triebkraft für ASC sei es, der Entvölkerung entgegenzuwirken und zu verhindern, dass Venedig zu einer Geisterstadt wird. Nach offiziellen Statistiken ist die Bevölkerung von etwa 175.000 in den 1950er Jahren auf heute knapp über 50.000 zurückgegangen. Jedes Jahr verschwinden etwa tausend Einwohner auf das Festland. »Aber offensichtlich reicht es nicht aus, ein paar Wohnungen zu besetzen, um den Wandel aufzuhalten«, fährt Nicola fort. »Wir bräuchten auch Politiker auf unserer Seite, aber ihnen geht es nur darum, so viele Touristen wie möglich hierher zu bekommen.« Vene»Wir sind doch dig, das zum Weltkulturerbe gehört, hat schon immer Bekeine Kriminellen.« sucher von nah und fern anAlessandra Valletti gezogen, und die Einnahmen aus dem Tourismus wurden lange als Segen betrachtet. Doch mit der rapiden Zunahme der Besucherzahlen sprechen immer mehr Alteingesessene vom Tourismus als einen Fluch. Nach Schätzungen der lokalen Behörden besuchen

70 Familien geholfen Gleich gegenüber, vier Stockwerke höher, wohnt Nicola Ussardi mit seiner Partnerin Nadia Tataranna und den Kindern Eva (12) und Leone (7) in einer Zweizimmerwohnung, die sie seit acht Jahren bewohnen. Nicola Ussardi war 1999 Mitbegründer von ASC und erzählt, dass die Organisation im Laufe der Jahre rund

Alessandra Valletti and Carlo Spinazzi sind Hausbesetzer, doch kaum etwas sieht danach aus.

ASPHALT 08/20

viele Jahre lang pünktlich bezahlt, also vertraute sie uns.« Irgendwie würden sich die Dinge schon regeln, dachten sie. Das Geschäft in dem kleinen Laden, in dem das Ehepaar Kleider im indischen Stil verkaufte, die Alessandra entworfen hatte, lief sicherlich nicht glänzend, aber es reichte, um davon zu leben. Sie würden die Schulden rechtzeitig tilgen.

30 31


jedes Jahr zwischen 25 und 30 Millionen Menschen Venedig. Dies führt nicht nur zu Irritationen bei den Einwohnern, die täglich mit dem Gedränge in den Gassen zu kämpfen haben, sondern auch zu konkreten Problemen: Wohnungen werden zu Hotels, die Mieten steigen, die Menschen ziehen um, Dienstleistungen verschwinden und werden durch Souvenirläden und Touristenbars ersetzt. Dies führt zu noch mehr Touristen, die zu Besuch kommen, und zu noch größerem Druck auf den Wohnungsmarkt, noch mehr Touristenläden und einer noch schlechteren Versorgung der Bewohner. Es ist eine nie endende Spirale. An dieser Entwicklung wird auch die Corona-Krise nichts ändern, wenngleich das Wasser in den Kanälen kurzzeitig endlich wieder artenreich wurde.

Miete mal vier durch Airbnb Im Gegensatz zu anderen Städten, in denen ähnliche Prozesse ablaufen, setzt die Geographie Venedigs klare Grenzen, wohin die Menschen gehen können: Die Stadt ist auf Inseln in einer Lagune gebaut, und diejenigen, die hinausgetrieben werden, erreichen bald das Wasser. Dann gibt es nur noch das Festland. Der Tourismus ist nicht der einzige Grund, weshalb die Menschen umziehen: Die Arbeitsplätze in der Industrie auf dem Festland und die Aussicht auf ein komfortables Leben mit Auto und Einfamilienhaus locken die Menschen ebenfalls. Aber die Menschen, die heute mit ASC in Kontakt treten, so Nicola Ussardi, sind praktisch alle auf dem Weg, von Vermietern vertrieben zu werden. »Wer seine Wohnung für bisher 600 Euro im Monat vermietet, kann aktuell genauso viel pro Woche bekommen, wenn er auf Airbnb vermietet«, sagt er. Das reizt offenbar zu unsozialem Verhalten. Nur wenige der Zwangsgeräumten gelten als arm genug, um über die Kommunalbehörden eine Wohnung zu bekommen. »Wir werden also zu einer Art Sozialdienst«, sagt Nicola. »Zuerst helfen wir, die Räumung zu verzögern, dann helfen wir den Menschen, eine leerstehende Wohnung zu besetzen.« Alle Wohnungen, die jetzt durch ASC bewohnt werden, befinden sich in öffentlichen Liegenschaften, die infolge von Auszug oder Misswirtschaft seit Jahren leer stehen. Und obwohl die Hausbesetzungen illegal sind, hat sich diese Praxis mit Zustimmung der Behörden bis jetzt fortgesetzt. Jeder zahlt eine symbolische Miete von zehn bis

»Wir gehen hier nicht weg, weil wir Venedig lieben«, sagen Chiara Pluchinotta und Davide De Polo.


Fünf Jahre Leerstand Ihre ersten Monate als Hausbesetzer waren schrecklich, erzählt sie uns: »Wir hatten nichts, keinen Strom, kein Gas und kein Wasser. Und ich fand es sehr unangenehm, hier illegal zu leben, vor allem mit einer kleinen Tochter. Das denke ich immer noch.« Aber je mehr sie mit der Wohnung gemacht haben, desto mehr fühlte sie sich wie ein Zuhause

an. Bald hatten sie eine richtige Küche und einen Gasofen, und im Laufe der Jahre haben sie alle drei Räume mit Hilfe von recycelten Baumaterialien der Biennale von Venedig und Einrichtungsgegenständen aus Filmen, an denen Davide mitgearbeitet hat, komplett renoviert. Doch das Gefühl der Prekarität bleibt. Alessandra Valletti und Carlo Spinazzi haben begonnen, wieder etwas Boden unter die Füße zu bekommen. Carlo bekommt eine kleine Rente, und Alessandra bringt durch ihre Arbeit als Textildesignberaterin etwas Geld ein, aber das Geld reicht nicht viel weiter als die Rechnungen.

Über Jahre wuchs der Tourismus so extrem, dass die Alteingesessenen ihn mittlerweile als Fluch wahrnehmen.

Die Ereignisse des vergangenen Jahres hätten sie hart getroffen, sagt Alessandra. Sie ist müde und niedergeschlagen, aber auch wütend. Und sie schämt sich nicht. »Ich schlafe die ganze Nacht gut«, sagt sie. »Die Wohnung stand fünf Jahre lang leer, warum sollten wir also nicht hier wohnen können? Wir sind doch keine Kriminellen.« Sie weiß nicht, warum die Vermieterin es plötzlich so eilig hatte, sie aus ihrer alten Wohnung herauszuholen. Aber sie hat ihren Verdacht. »Es ist in Strandnähe und in der Nähe des Kinos, in dem jedes Jahr das Filmfestival stattfindet«, sagt Alessandra und wirft uns einen wissenden Blick zu. »Mit dieser Wohnung kann man eindeutig ein Vermögen verdienen.« Text und Fotos: Martin Spaak Mit freundlicher Genehmigung von Faktum/INSP.ngo

ASPHALT 08/20

30 Euro im Monat, und die meisten haben es geschafft, anerkannte Kunden bei der kommunalen Wassergesellschaft zu werden. Elektrizität und Gas waren nie ein Problem, da sie von privaten Unternehmen verwaltet werden, die nicht fragen, ob der Kunde einen Mietvertrag hat oder nicht. Die Polizei kommt ein paar Mal im Jahr, um die Hausbesetzer zu vertreiben, aber es ist auch nicht ganz klar, was in diesen Fällen gilt. »Durch die Zahlung der symbolischen Miete haben wir einen gewissen Rechtsschutz«, meint Nicola. »Deshalb meldet die Polizei ihr Kommen immer im Voraus an, so dass wir Zeit haben, uns zu mobilisieren.« Dieses halboffizielle Arrangement funktioniere seit zehn Jahren. Das Boot zur Insel Giudecca liegt eine halbe Stunde vom Zentrum Venedigs entfernt. Chiara Pluchinotta kommt uns am Pier entgegen und weist uns den Weg über Brücken und durch Gassen. Die Wäsche hängt hier und da zwischen den Häusern, aber ansonsten gibt es kaum Anzeichen von Leben. Viele der Fensterläden sind geschlossen. »Es gibt hier noch viele leere Wohnungen«, sagt sie. Im Jahr 2010 hat ASC etwa fünfzehn Wohnungen übernommen. Chiara, ihr Partner Davide De Polo und ihre Tochter Uma, die damals ein Jahr alt war, zogen ein. Ihre alte Wohnung, die sie für 750 Euro im Monat gemietet hatten, war zu klein geworden, um von der Familie bewohnt werden zu können. »Wir brauchten wirklich etwas Größeres, aber das hätten wir uns nie leisten können«, sagt Chiara. Sie hätten, so sagt sie, natürlich auch etwas Billigeres auf dem Festland finden und zu ihren Arbeitsplätzen pendeln können – sie als Shiatsu-Masseurin und Davide als freiberuflicher Techniker in der Filmindustrie. Aber es war wichtig, zu bleiben; einen politischen Standpunkt zu vertreten. »Venedig ist auf dem Weg, eine falsche Stadt zu werden«, sagt Chiara. »Bald wird es keine Einwohner mehr geben, nur noch Hotels, Airbnb-Apartments und Touristen.«

32 33


TRIP-TIPP INTERNATIONAL

WO DIE KATHEDRALE DER WIKINGER STEHT

Foto:

Sorge

nfri

Fahren Sie doch mal nach Trondheim in Norwegen: Niemand kennt die Plätze der Stadt besser als »Sorgenfri«-Verkäufer Odd. Hier seine ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht seine Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind. Warum ich gerne in Trondheim lebe? Wir haben viel Natur rund um Trondheim. Wenn ihr am Ufer entlang geht, gibt es Naturpfade durch Berge und Wälder – fast bis an die Stadtgrenzen. Manchmal verlaufen sich Elche und plötzlich sind sie mitten in der Stadt. So wie letztes Jahr. Die Polizei musste kommen und das Tier verjagen, weil die mit 700 Kilo gefährlich werden können.

Interessante Orte zum Besuchen? Wir haben Wahrzeichen aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen Norwegen besetzten. Eines der größten Artilleriegeschütze, die jemals an Land gebracht wurden, befindet sich etwas außerhalb von Trondheim. Sie nahmen es vom Schlachtschiff Gneisenau. Und mitten im Hafen haben wir Dora I, eine alte U-Boot-Basis. Im Inneren gibt es eine Kegelbahn und einen coolen Go-KartParcour. Besucht unbedingt den traditio­ nellen Fischmarkt Ravnkloa, das älteste Viertel Bakklandet und die Speicherhäuser am Hafen.

Foto: kyolshin/iStock.com

Was noch spannend ist? Unsere Kathedrale, der Nidarosdom, wurde vor rund 1.000 Jahren gegründet. Sie ist also seit der Wikingerzeit hier. Olav der Dicke, später Olav der Heilige genannt, taufte quasi ganz Norwegen, aber das war damals nicht sehr schön, das ging nämlich so: Entweder ihr werdet Christ oder wir stecken euren Kopf und die Köpfe eurer Familie auf einen Dorn.

Trondheim war also zu dieser Zeit die Hauptstadt Norwegens. Die Stadt hieß damals Nidaros. Von Oslo nach Trondheim gibt es deshalb einen Pilgerpfad, den Olavsweg, sehr idyllisch.

Wo ihr gut essen könnt? Hier gibt es viel gutes lokales Essen. Viele Norweger haben Lachs- und Karibugerichte. Unser Nationalgericht ist Fleischkuchen mit Kartoffeln, Erbsenbrei und brauner Sauce – das ist ausgezeichnet! In einigen der größeren Hotels, wie dem Radisson, haben wir einige wirklich gute erstklassige Restaurants. Wer mal nicht norwegisch essen möchte: Mein Favorit ist ein kleines italienisches Restaurant im Zentrum, Ristorantino, fast neben der Frauenkirche. Sehr, sehr gut.

Meine Lieblingsjahreszeit? Der Sommer. Aber als ich jung war, baute ich gern Schneemänner und große Höhlen. Wir hatten da viel mehr Schnee. Wirklich, ihr könnt die Auswirkungen der globalen Erwärmung hier in Norwegen sehen. Mitte der 1980er Jahre hatten wir im Winter immer einen oder anderthalb Meter Schnee. Das ist vorbei. Aber ihr müsst euch schon warm kleiden oder ihr werdet irgendwann erfrieren. Wir haben in Norwegen sowieso dieses Sprichwort: »Det fin ikke dårlig vær, bare dårlige klær« – es reimt sich auf Norwegisch. Auf Deutsch: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung. Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK


Was ist Rassismus? Die Journalistin Ijeoma Oluo hat mit dem 2018 erschienenen »So you want to talk about race« einen New-York-Times-Bestseller geschrieben. Ende Mai, drei Tage nach der Tötung von George Floyd, ist die deutsche Übersetzung erschienen. Der Ton ist offensiv: »Du wirst das hier königlich vermasseln«, leitet sie etwa eine Liste grundlegender Tipps ein, um beim Sprechen über Rassismus eine »Gesprächskatastrophe« abzuwenden. Sehr private Beispiele von Rassismuserfahrungen wechseln mit Listen, Argumentsammlungen, Erklärungskapiteln, und die mit Exkursen über Gegenwart und Geschichte des spezifisch US-amerikanischen Rassismus: Oluo beschreibt die »school-to-prison«-Pipeline, die Entstehung der US-Polizei aus den »Slave Patrols« und den »Night Watches« und die gesellschaftlichen Folgen rassistischer Polizeikontrollen, für die das sarkastische Kürzel DWB, »Driving while Black«, steht. Der Untertitel spielt auf »Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche« der Britin Reni Eddo-Lodge (Klett-Cotta) an. Das Buch ist schonungslos persönlich, analytisch und auf eine entschlossene Art didaktisch. BP Ijeoma Oluo | Schwarz sein in einer rassistischen Welt. Warum ich darüber immer noch mit Weißen spreche. | Unrast | 240 S. | 16 Euro

Anzeige

Was sagst Du?

Wohnglück + 13.8OO Wohnungen + Durchschnittskaltmiete von 5,76€ pro m2 + über 7O% geförderter Wohnraum + nachhaltige Entwicklung der Stadt + ein Herz für unsere Mieterinnen & Mieter

hanova.de

Fragen in Großbuchstaben, zuerst wie Statusabfragen – WO BIST DU JETZT? – dann auch dringlicher, anfragestellend. Ein wirklicher Dialog wird das nicht, eher vielleicht eine Selbstbefragung in verteilten Rollen. Um was hier in so markanter Form gerungen wird, ist die Geschichte einer jungen Frau, geboren in der DDR als Tochter eines angolanischen Vaters: Ihr Aufwachsen in den »national befreiten Zonen« der neuen Bundesländer. Eine Mutter, die als Punk die DDR gehasst hat, der ferne Vater, Tragödien, die Omnipräsenz von Hautfarbe und eine andere Wirklichkeit in den USA , Therapiesitzungen, Freundschaften, Affären. Ein Graffito, an dem die Protagonistin vorbeigeht, fragt: »Was sind Bilder von uns, wenn sie uns in uns selbst einschließen?« »1.000 Serpentinen Angst« ist nicht einfach die Biografie einer schwarzen Ostdeutschen, auch wenn die namenlose Protagonistin der in Weimar geborenen Schriftstellerin Olivia Wenzel wahrscheinlich nicht allzu fern ist. Jene hat aber entschieden, die Fragen um schwarze deutsche Identität mit allen Mitteln großer Literatur zu verhandeln, komplex, vielstimmig, souverän. Ein großartiges Buch. BP Olivia Wenzel | 1000 Serpentinen Angst | S.Fischer | 352 S. | 21 Euro

ASPHALT 08/20

BUCHTIPPS

34 35


KULTURTIPPS Ausstellung

Mit Unterstützung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste erforscht das Bomann-Museum in Celle seit einigen Jahren die Herkunft seiner Sammlungszugänge aus der NS-Zeit. Dabei müssen zahlreiche Quellen gesichtet werden. In seiner Ausstellung »Suche nach Herkunft« gibt das Museum einen Überblick über wichtige Ergebnisse seiner Forschungsarbeit. Sie beleuchtet sowohl die Zugänge aus lokalem jüdischen Besitz nach 1933 als auch Erwerbungen aus dem Kunsthandel, insbesondere bei Hans W. Lange in Berlin. Mehrere Objekte konnten bereits identifiziert werden, die infolge des systematischen NS-Kunstraubs in Europa enteignet wurden. Zwei 1943 erworbene Gemälde gehörten zuvor zur Sammlung des Hitler-Fotografen Heinrich Hoffmann. Bis 13. September, dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr, Bomann-Museum. Museum für Kulturgeschichte, Schloss­ platz 7, Celle, Eintritt 8 Euro, erm. 5 Euro.

Bühne Verse, Themen, Überraschungen Vier Dichterinnen und Dichter aus der regionalen und überregionalen Szene sorgen in zwei Runden plus Finale für ein Textfeuerwerk der Poesie. Bei der bunten Melange von Text und Sprachrhythmus fangen Großmütter an zu rappen, Jungspunte dichten Sonette, Lautpoeten freestylen und gestandene Buchautorinnen unterhalten mit interaktiver Comedy – so oder so ähnlich sieht ein jeder Slam-Abend aus. Man weiß vorher nie genau, was alles passieren wird. Gesichert ist nur: es wird ein Abend voller Verse, Themen, und Überraschungen. Samstag, 08. August, 20 Uhr, Open Air-Bühne im Amtsgarten Schloss Landestrost, Schlossstraße 1, Neustadt am Rbge., Karten gibt es ausschließlich an den Vorverkaufsstellen und online unter https://kultur-rh.reservix.de, keine Abendkasse, Eintritt 15 Euro, erm. 10 Euro.

Foto: Tim Bruening

Suche nach der Herkunft

Asphalt verlost 2 x 2 Karten für Poetry Slam

Goldener Poetry Slam

iel

Gewinnsp

ZUM GOLDENEN SCHMIED aka Fatima Moumouni und Laurin Buser schmieden die feinsten Wort-Kreationen und feilen an ihren Sätzen wie Goldschmiede am Amulett. Dabei gehen sie der Frage nach, was neben all den vermeintlichen Statussymbolen wirklich wertvoll ist in diesen bewegten Zeiten. Das Produkt: Eine stylische, dynamische Show mit nachhaltig funkelnden Duo- und Solo-Texten sowie Rap- und Talk-Einlagen, die jedes Gold dieser Welt wert ist. Für den Poetry Slam können Sie mit Asphalt 2 x 2 Karten gewinnen. Rufen Sie uns dafür am 10. August zwischen 12 und 13 Uhr unter der Telefonnummer 0511 – 301269-18 an und beantworten folgende Frage: Wie heißt die Slam-Formation? Die ersten zwei Anrufer mit der richtigen Antwort gewinnen die Tickets. Freitag, 14. August, 20 Uhr, Gartentheater Herrenhausen, Herrenhäuser Straße 4, Hannover, Eintritt VVK 18 Euro.


Kino

Ungarische Einflüsse

Asphalt verlost 2 x 2 Karten für einen Kinoabend

»Beethoven, wie ungarisch ist das denn?« – unter diesem Titel verbergen sich Hinweise auf die zahlreichen Einflüsse aus der musikalischen Tradition Ungarns, die dem Hörer immer wieder in den Ohren klingen. Musik zur Anwerbung von Soldaten wird zu hören sein, dazu Werke von Haydn und Vanhal. Hinrich Alpers spielt mit dem Kammerorchester Hannover zum Beethoven-Jahr unter der Leitung von Hans-Christian Euler das Klavierkonzert Nr.2. Freitag, 07. August, 19 Uhr, St. Michaelis-Kirche Hannover Ricklingen, Pfarrstraße 72, Hannover, Eintritt 12 Euro, erm. 8 Euro.

Call me by your name

In den 25 Jahren seit ihrer Gründung hat die Enttäuschung Furore gemacht und für Unruhe gesorgt. Monk neu interpretiert und sonst noch allerlei angestellt. Zum erweiterten Ensemble der Großen Enttäuschung zählen zehn Musiker. Sie kommen aus dem ganzen Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland und spielen Neu-Komponiertes zwischen traditionellem Jazz, improvisierter und Neuer Musik. Sonntag, 09. August, 17 Uhr, Kunst und Begegnung Hermannshof e.V., Röse 33, Springe, Karten gibt es nur über die Online-Reservierung unter www.hermannshof.de/kontakt/ kartenreservierung, Eintritt 15 Euro, erm. 10 Euro.

Für Kinder Gestalten mit Naturmaterialien Ein Haus aus Stöcken, eine Spirale aus Blüten oder eine Schlange aus Blättern – zum Abschluss der Sommerferien verwandelt sich der Strand der Badeinsel in einen Malblock. Zuerst wird gesucht und gesammelt, anschließend wird gestaltet. Die Natur bietet viele tolle Materialien, aus denen sich kleine Kunstwerke am Badestrand legen lassen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Und wer seine eigene Kamera mitbringt, der kann von den Kunstwerken ein Erinnerungsfoto schießen. Dienstag, 25. August, 10 bis 11.30 Uhr, Brücke zur Badeinsel in Steinhude, Wunstorf-Steinhude, Anmeldung unter 05033 – 939134, Teilnahme Erwachsene 3 Euro, Kinder 1,50 Euro.

36

Elio Perlman verbringt den Sommer im Haus seiner Eltern im Norden Italiens. Neben dem Hören von Musik, dem Lesen von Büchern und der gelegentlichen Abkühlung im Wasser gibt es hier nicht viel zu tun. So bestimmt häufig Langeweile den Tag des 17-Jährigen. Das ändert sich, als ein weiterer Sommergast sich in der Villa einquartiert: Oliver ist der neue amerikanische Assistent von Mr. Perlman, der genau wie Elios Familie jüdische Wurzeln hat. Charmant und selbstbewusst sucht Oliver den Kontakt zu Elio, der dem ein paar Jahre älteren Mann anfangs jedoch eher abweisend begegnet. Für dieses romantische Drama, basierend auf dem gleichnamigen Roman von André Aciman können Sie mit Asphalt 2 x 2 Karten gewinnen. Rufen Sie uns dafür am 24. August zwischen 12 und 13 Uhr unter der Telefonnummer 0511 – 301269-18 an und beantworten folgende Frage: Wo verbringt Elio den Sommer? Die ersten zwei Anrufer mit der richtigen Antwort gewinnen die Tickets. Freitag, 28. August, 21 Uhr, Gartentheater Herrenhausen, Herrenhäuser Straße 4, Hannover, Eintritt 12 Euro. Foto: 2017 Frenesy Film Company SRL and La Cinefacture SARL

Die Große Enttäuschung

ASPHALT 08/20

Musik

37

iel

Gewinnsp


SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 18 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben – von oben nach unten gelesen – ein Zitat von Arthur Schopenhauer ergeben: a – are – ber – bes – blüm – bil – bre – ce – chen – cher – der – di – dort – druck – ein – ein – eis – er – gen – gi – gren – griff – haus – in – iso – kli – la – lan – le – le – le – li – lind – mann – men – mund – na – nen – ner – no – on – re – sel – sen – stand – tal – ters – ti – vel – wi

1. Stadt in Nordrhein-Westfalen

2. Vorstellung von einer Person oder einer Sache

3. Lehre vom Glauben

4. Opposition

5. ein besonders für Kälte ausgestattetes Schiff

6. alter Name einer der großen Sunda-Inseln

7. dt. Schriftsteller (1898 bis 1986)

Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir dreimal das Kochbuch »Wolfsburger Kochgeschichten – So schmeckt das Leben«. In diesem Buch stellen Besucher des »Carpe Diem«, einer Anlaufstelle für arme und obdachlose Menschen, ihre Lebensrezepte vor. Als besonderes Highlight wurden einzelne Rezepte gemeinsam mit bekannten Persönlichkeiten aus Wolfsburg gekocht. Viermal gibt es den Kriminalroman »Falsche Ursula« von Mercedes Rosende zu gewinnen. Ursulas Leben läuft überhaupt nicht so, wie sie es gern hätte. Die Schwester ist schöner, die Nachbarin glücklicher. Da kommt ihr ein Erpresseranruf ganz gelegen: Man habe ihren Ehemann entführt, eine Million Lösegeld. Nur: Ursula hat gar keinen Ehemann. Sie entdeckt ihr kriminalistisches Talent, das sie in ein abstrus herrliches Abenteuer führt. Außerdem verlosen wir dreimal das Buch »Streuner!« von Stefan Kirchhoff. Drei Monate war der Tierheimleiter in Süd- und Südosteuropa unterwegs, um das Leben der dort heimischen Straßenhunde zu dokumentieren und deren Verhaltensweisen zu studieren. Seine Beobachtungen können Besitzern von aus dem Ausland vermittelten Tierschutzhunden helfen, das Wesen ihrer Hunde besser zu verstehen.

8. Mineralwasser

Die Lösung des Juli-Rätsels lautet: Im eigenen Land geht die Sonne am schönsten auf.

15. Linien eines Erdmagnetismus

Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; Fax: 0511 – 30 12 69-15. E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 31. August 2020. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

9. Stadt an der Regnitz (Bayern)

10. kleine Anemonenart

11. Sportplatz

12. schwedische Kinderbuchautorin

13. schwankend, beweglich

14. medizinische Operation

16. Erzählung, Kurzgeschichte

17. Eingeborener Nord- oder Südamerikas

18. empfindsam


Foto: Tomas Rodriguez

n f u a t n Mome

Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii, ging nicht durch San Francisco, Paris, Barcelona oder Wladiwostok in zerrissenen Jeans. Ich habe gar keine zerrissenen Jeans. Kaputte Jeans durchaus. Also mit nem Loch drin. Meist am Hintern. Und zwar nicht, weil mir die Hosen ob meines Gewichtes dort platzten, sondern vom Fahrradfahren. Ich weiß nicht warum, aber irgendwann gehen die Hosen immer wieder an ein und derselben Stelle kaputt. Nur ist kein Designer dafür verantwortlich, es hängt schlicht mit dem Sattelabrieb zusammen. Die Designer sollten dringend anfangen, Jeans nicht nur im vorderen Beinbereich kaputt zu schnippeln, sondern auch am Hintern. Dann könnte ich meine völlig abgefahrene Hose als Designerstück verkaufen. Wie auch immer. Um noch mal auf Udo Jürgens zurückzukommen: Meine liebsten Orte auf dieser Welt heißen Werdum oder Olpenitz oder Hattstedt oder Helgoland. Da mache ich immer Urlaub. Liegen alle an Nord- oder Ostsee. Ich mag das Meer einfach. Die raue Nordsee, die immer, wenn man ankommt und zum ersten Mal über den Deich guckt, nicht da, sondern total verebbt ist. Inzwischen mag ich auch die Ostsee, die ich früher immer für ein übergroßes, stets ruhiges Planschbecken hielt. Aber inzwischen habe ich sie auch schon ordentlich aufgewühlt und aufgeschäumt erlebt. An der Küste ist jedes Wetter gutes Wetter. Sonnenschein oder Regen und Sturm – solange Du eine Kanne friesischen Tees mit Kluntjes und Sahne hast, ist die Welt in Ordnung. Und jahrelang hab‘ ich gedacht: Leute, fahrt meinetwegen alle gerne raus in die Welt! Nach Mallorca, Fuerteventura, Teneriffa und macht Safaris und klettert ins Basislager eins des Mount Everest. Dann hab‘ ich nämlich mehr von meinem Meer. Dann ist es hier nicht so voll. So, und jetzt das Desaster! Auf einmal bringt Corona alles durcheinander und die Globetrotter fahren plötzlich auch alle an die See. Und nehmen mir die Ferienwohnung weg! Wo kommen wir denn dahin? Was mir am Norden am meisten gefällt, ist die plattdeutsche Sprache. Wer platt schnackt, ist aus sich heraus entspannter. Platt ist kein Dialekt, sondern eine Lebenseinstellung, eine Philosophie, eine Haltung. Platt braucht keine großen Worte. Mit Platt kommst Du durch die Krise. Wenn alle noch am Problematisieren sind, heißt es im Norden kurzsilbig: »Dat löpt!« Das ist diese unverwechselbare Watt-mutt-dat-mutt-Gesinnung. Platt is’ kommodich und suutje. Die Zeit läuft langsamer. Du hast mehr vom Leben. Und abgesehen davon ist das Plattdeutsche einfach nur wunderschön. Obgleich so knapp, präzise und resolut, ist ihm doch ein unverwüstlicher Charme inne. Und so übersteht man auch die Welle von Urlaubern, die eigentlich sonst woanders wären. Solche Sonderlinge nennt man auf platt: Schnarrenpüster! Und mit Schnarrenpüstern würde ich dann sogar einen Tee trinken gehen. Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

ASPHALT 08/20

s y w o Brod ahme

38 39


Das Fahrgastfernsehen. · Goethestraße 13 A · 30169 Hannover · (0511) 366 99 99 · redaktion@fahrgastfernsehen.de


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.