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Ranias Versöhnung

Zypern, Insel der Götter und letztes geteiltes Land in Europa. Griechen im Süden, Türken im Norden, dazwischen die UNO. Seit Mitte der Siebziger Jahre sorgt die Pufferzone für weitgehendes Schweigen der Waffen. Davor war Bürgerkrieg. Ersten Schritten der Annäherung folgen heute Versuche zur Aufarbeitung. Und viele Familien hoffen, endlich die Vermissten der Insel ausfindig zu machen.

Als das Archäologenteam mit feinen Bürsten die letzte Erde wegräumt, kommt langsam eine schwarze Decke zum Vorschein, trotz der 50 Jahre ist sie kaum verwittert. Im Inneren liegen Überreste eines Mannes. Seine Knochen waren noch nicht voll entwickelt, das sehen die Forscher mit geschultem Blick. Vielleicht war er 17 oder 18 Jahre alt. Die einzigen Beweise, die Aufschluss über seine Identität geben könnten, sind seine Stiefel und sein Hemd – und die Kugel, die neben einem seiner Wirbel steckt. »Wir wissen nicht, wer hier begraben ist«, erklärt Rania Michail, die Leiterin des Teams. Seit 2012 arbeitet sie als Archäologin und ist Mitglied im Ausschuss für Vermisste auf

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Zypern. Sie selbst hat sieben vermisste Verwandte väterlicherseits in ihrer Familie. »Meine Familie hofft, dass sie gefunden werden«, sagt sie uns. »Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt oder wenn wir eine neue Ausgrabung beginnen, sind sie voller Hoffnung.«

Als Zypern, einstige britische Kronkolonie, im August 1960 unabhängig wurde, kämpfte eine griechische Untergrundorganisation namens EOKA-B für den Anschluss der Insel an Griechenland. Und eine türkische TMT für die Teilung der Insel in zwei Hälften. Denn knapp 70 Prozent der Bewohner waren griechisch-, 30 Prozent türkischstämmig. Mit dem ›blutigen Weihnachten 1963‹, einem Anschlag von zyperngriechischen Polizeikräften auf türkischstämmige Zivilisten, eskalierte die Gewalt auf der Insel, in dessen Folgen Tausende starben und Hunderttausende Griechen und Türken emigrierten. Bis heute gelten einige tausend Menschen als vermisst. »Wir graben hier, weil Vorrecherchen ergaben, dass zwei vermisste Personen auf dem Friedhof begraben sein könnten«, erzählt Rania. »Unser Team besteht aus Forschern beider Seiten, die nach Informationen über das Schicksal der Vermissten suchen, entweder direkt von Augenzeugen oder von Menschen, die durch Augenzeugen von den Beerdigungen erfahren hatten.« Seit Tagen sind die fünf Forscher hier im äußersten westlichen Zipfel aktiv. Während der Arbeit an der anonymen Grabstätte sprechen sie griechisch, türkisch und englisch. Frü

Geteiltes Zypern

Fläche der Insel: 9 251 qkm

davon Republik Zypern

59 %

Türk. Rep. Nordzypern

36

Pufferzone

3

brit. Militärbasen

2

Bruttoinlandsprodukt 2015:

Republik Zypern

17,4 Mrd. Euro

Deutschland

3 027 Mrd. Euro

Einwohner

Rep. Zypern: Nordzypern:

891 000 302 000

Kyrenia

TÜRKISCHE REPUBLIK

NORDZYPERN Mittelmeer Nikosia Famagusta

REPUBLIK ZYPERN

Paphos Limassol

UN-Pufferzone brit. Militärbasen

her sprachen die meisten Zyprer Griechisch und Türkisch fließend, noch besser als die Sprache der Besatzer. Zumindest bis 1974 die Insel mit dem türkischen Einmarsch im Nordteil faktisch in zwei Teile geteilt wurde und damit auch das Leben vieler Menschen halbierte. Die Arbeitsbedingungen auf dem Feld sind hart, da die Archäologen ständig der Witterung einschließlich Schlamm und Staub ausgesetzt sind. Zwischen Mai und Oktober erreicht das Thermometer auf Zypern oft 40 Grad Celsius.

Steckschuss und Ehering

»Wir bieten den Familien Hoffnung«, sagt Rania. »Wir geben ihnen ihre Angehörigen zurück, damit sie ein Begräbnis abhalten können, das ihren religiösen Ansichten entspricht, und natürlich auch einen Ort haben, an dem sie sie besuchen können.« Die Ausgrabungen sind emotional oft schwierig. Denn die Archäologen finden manchmal auch die Überreste von Kindern. »Die härteste Exhumierung, an der ich gearbeitet habe, war die eines Massengrabes, in dem 89 türkische Zyprioten, darunter Frauen und Kinder, gefunden wurden«, erinnert sich Rania. »Selbst in Kriegszeiten kann man die Ermordung von Kindern und Frauen nicht rechtfertigen. Das sage ich für beide Gemeinschaften. Wenn jemand ein Soldat ist und im Krieg stirbt, kann ich das akzeptieren. Aber nicht ein Kind, eine Frau oder ein älterer Mensch. In diesem Grab gab es Familien mit Kindern, die nur wenige Monate alt waren. Sie wurden alle im August 1974 ermordet. Als ich zum ersten Mal mit dem Ausschuss zusammenarbeitete, habe ich mich mit diesen Menschen identifiziert. Bei jeder noch feststeckenden Kugel fragte ich mich, wie die letzten Momente im Leben der Person waren. Wenn sie persönliche Gegenstände hatten, war es noch rührender, wenn es einen Ehering gab unerträglich.«

Neutrale Zone

Alles, was die Forscher wissen, haben sie von Verwandten und Familien von Freunden, die ihre Häuser, ihren Besitz und ihre Lieben verloren haben. Jede Ausgrabung ist schwierig. Denn oft ist es so, dass die heutigen Besitzer der Grundstücke nicht mehr dieselben sind. Einst waren türkische und

griechische Gemeinden und Dörfer wie ein Flickenteppich über die Insel zerstreut. Die Besetzung und faktische Teilung vor 46 Jahren veränderte dieses Bild drastisch. Heute ist der Norden türkisch, der Süden griechisch und die Hauptstadt Nikosia geteilt. Weil Gespräche über eine Lösung des Zypernproblems eingefroren sind, ist Rania nicht sehr optimistisch, dass die Bedingungen sich absehbar verbessern. »Auf jeden Fall sind Frieden und Freiheit noch nicht eingetroffen, denn für mich ist es weder Frieden noch Freiheit, die Straßensperre zu passieren und meinen Personalausweis oder Reisepass vorzuzeigen. Ich hoffe, dass es in Zukunft eine akzeptable Lösung für beide Gemeinschaften geben wird, denn es ist sehr wichtig, dass diese Insel nach so vielen Jahren wiedervereinigt werden kann. Ich empfinde weder Wut noch Zorn. Vielleicht mehr Trauer und Enttäuschung. Ich habe Angst, dass eine solche Situation wegen des Nationalismus, der auf beiden Seiten existiert, vielleicht wieder passieren wird.«

Das Archäologenteam macht sich derweil bereit, die Überreste in Papiertüten zu verpacken. Sie schreiben mit einem Stift auf, was hineingelegt wird: ein Schädel, eine rechte Hand, ein linker Fuß. Nachdem sie alle Knochen überführt haben, werden die Überreste dem Anthropologenteam übergeben, das auf neutralem Boden, auf dem ehemaligen Flughafen von Nikosia, der von der Friedenssicherung der Vereinten Nationen verwaltet wird, arbeitet.

Persönliche Angelegenheit

Gulbanu Zorba ist türkische Zypriotin und Genetikerin. Seit der Gründung des Ausschusses für Vermisste vor 13 Jahren arbeitet sie mit Rania zusammen. »Das Verfahren geht so: Die Anthropologen erstellen das biologische Profil der Knochen, die wir finden«, erläutert Gulbanu Zorba. »Die Knochen ›sprechen‹: Sie sa

Mit feinen Bürsten und kleinen Schaufeln arbeiten die ArchäologInnen um Rania Michaelis an der Aufklärung jedes einzelnen Vermisstenfalls. Mit teils ganz persönlicher Hoffnung.

Endlich Gewissheit: Ehrenvolle Beisetzung des damals 20-jährigen Charalampos Adoniou, einem von Hunderten, die bei der türkischen Besetzung des Inselnordens im Jahr getötet wurde. Seine Überreste wurden von Rania Michails Team gefunden.

Im Schutz der UNPufferzone in Nikosia arbeitetet Gulbanu Zorba mit ihrem Anthropologenteam an der Zuordnung der gefundenen menschlichen Überreste der im Bürgerkrieg Getöteten.

gen viel über Alter und Geschlecht aus und geben Auskunft darüber, wie die Person gestorben ist. Am Ende des Prozesses nehmen sie Proben von den Knochen und schicken sie zur DNA-Analyse in die USA, in der Hoffnung, dass die Überreste anhand von Proben, die von Verwandten der Vermissten zur Verfügung gestellt wurden, identifiziert werden können.« »Auf jeden Fall Auch Gulbanu ist mittelbar sind Frieden und persönlich betroffen. »Mein Freiheit noch nicht Mann hat zwei Verwandte in eingetroffen.« seiner Familie«, sagt sie. »Er hat sie nie kennen gelernt, Rania Michail aber ich glaube, dass er bewegt sein wird, wenn wir sie endlich finden könnten.« Zum Beispiel den Onkel von Gulbanus Mann. In den Sechzigern studierte er Pädagogik in Nikosia. Wegen einer Blinddarmentzündung hielt er sich die tage nach dem blutigen Weihnachten 1963 im örtlichen Krankenhaus auf. Der Krieg der beiden paramilitärischen Truppen hatte gerade begonnen. »Während mein Onkel im Krankenhaus war, begab sich eine Gruppe griechi- scher Zyprioten der EOKA B [Nationale Organisation der zypriotischen Kämpfer] auf der Suche nach einigen ihrer eigenen Leute ins Krankenhaus, die sie tot auffanden. Sie wollten Rache nehmen. Es war ihnen egal, dass die Menschen, die sie getötet hatten, Zivilisten waren«, erzählt Gulbanus Mann Medes. Ein Arzt nahm Medes‘ Onkel mit und versteckte sie in seinem Büro, schloss ihn ein und sagte, dass er versuchen würde, andere türkische Zyprioten zu finden, die sich verstecken könnten. Als der Arzt in seine Praxis zurückkam, fand er nur eine Lache voller Blut. Medes‘ Onkel war verschwunden. Bis heute. Nicht einmal des Onkels Auto wurde je entdeckt.

Rania und ihr Team suchen in diesen Tagen weiter nach den Überresten der zweiten Person, die nach den ihnen vorliegenden Informationen in dieser Gegend begraben sein könnte. Gulbanu und ihre Kollegen haben unterdessen aktuell etwa 20 Gruppen von Überresten auf Tischen ausgelegt, die darauf warten, identifiziert zu werden. Und die Zeit drängt. Viele der verbliebenen Zeugen sterben jetzt an Altersschwäche, ohne über die Ereignisse, deren Zeuge sie waren, gesprochen zu haben. Dabei könnte genau dies für die Versöhnung der Volksgruppen so wichtig sein. Text und Fotos: Nicolia Apostolou Courtesy of Shedia/INSP.ngo

WO MAN BÖHMISCHE KÜNSTLER TRAF

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Foto: benedek/iStock.com

ARM AM ENDE

Amerika ist in der Krise. Die Babyboomer erreichen das Rentenalter, aber ihre finanzielle Zukunft sieht düster aus. Viele arbeiten sich regelrecht tot. Eine tickende Zeitbombe, die Angst macht und sich entsprechend in Ressentiments und jüngeren Wahlentscheidungen wiederfindet.

Trotz ihres Rufs, die wohlhabendste Generation zu sein, sehen sich die Babyboomer mit einem Alptraum im Ruhestand konfrontiert. Eine jüngst von der St. Louis Federal Reserve durchgeführte Studie über die Bereitschaft von US-Familien, in den Ruhestand zu gehen, stellt fest: »Es könnte beunruhigend sein, dass für viele amerikanische Haushalte die Gesamtsalden ihrer Rentenkonten möglicherweise nicht ausreichen, um ein solides Leben im Ruhestand zu gewährleisten.« Noch versucht die Investmentindustrie die Schuld abzulenken und argumentiert öffentlich immer noch, dass das Problem durch unzureichende Ersparnisse des Einzelnen verursacht sei. Doch längst bröckelt das Narrativ.

Selbst ›Barron‘s‹, die Schwesterpublikation des ›Wall Street Journal‹, schlägt mittlerweile neue Töne an: »Amerikas Rentenkrise wurde nicht aufgrund von Charakterschwächen oder persönlicher Verantwortungslosigkeit verursacht. Sie kann realistischerweise auch nicht durch technokratische Korrekturen behoben werden. Die hässliche, unausgesprochene Wahrheit ist, dass viele Menschen einfach nicht genug Geld verdienen. Sie haben kaum genug, um ihre täglichen Ausgaben zu decken; sie haben nicht genug übrig, um sparen zu können«, heißt es dort überraschend aber unmissverständlich.

Goldene Jahre sind unerreichbar

Die Babyboomer bewegen sich rasch auf den Ruhestand zu. Die 1946 Geborenen sind jetzt 74 Jahre alt und die 1964 Geborenen sind jetzt 56 Jahre alt. Obwohl sie für ihr wirtschaftliches Glück gefeiert wurden, insbesondere im Gegensatz zu den um die Jahrtausendwende Geborenen, stellte auch eine Untersuchung des Stanford Center on Longevity über die Vorbereitung auf den Ruhestand nun fest, dass »die

Foto: Street Roots Foto: Marc Dufresne/iStock.com

Martin Hart-Landsberg ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften am Lewis & Clark College, Portland, Oregon.

Babyboomer in einer finanziell schwächeren Position sind als frühere Generationen von Rentnern«. Demnach haben die 55- bis 60-jährigen Boomer deutlich weniger gespart als frühere Generationen in diesem Alter. Sie haben auch eine höhere Schuldenlast. Im Durchschnitt betrug das angesparte Vermögen für diejenigen, die überhaupt ein Rentenkonto besaßen, 200.000 Dollar. Das wirkt nur auf den ersten Blick viel, doch darf man nicht vergessen, dass in Amerika die Altersvorsorge privat organisiert werden muss. Demnach sind 200.000 Dollar ein viel zu geringer Betrag, um das Einkommen zu gewährleisten, das erforderlich ist, um eine Person durch einen mindestens 20-jährigen Ruhestand zu führen. Und es kommt noch schlimmer: Einer von vier Boomern, die sich dem Renteneintrittsalter von 65 Jahren nähern, hat nicht einmal 1.000 Dollar beiseitegelegt.

Afroamerikanische und lateinamerikanische Babyboomer stehen vor noch größeren Problemen: Sie verdienen weniger Geld und haben weitaus weniger Altersvorsorge als weiße Amerikaner. Laut Forbes hat die durchschnittliche weiße Familie mehr als 130.000 Dollar an liquiden Rentenersparnissen gegenüber 19.000 Dollar für den durchschnittlichen Afroamerikaner. Auch die Rentenersparnisse der Latinos liegen weit hinter denen der Weißen. Beispielsweise hatten 2014 unter den Erwerbstätigen im Alter von 55 bis 64 Jahren nur 32 Prozent der Latinos Geld auf einem Rentenkonto, verglichen mit immerhin 59 Prozent der Weißen. Und auf so einem durchschnittlichen Latino-Rentenkonto befanden sich 42.300 Dollar.

Abschied vom Ruhestand

Mittlerweile haben in den Vereinigten Staaten rund ein Drittel der Senioren am Monatsende kein Geld mehr übrig oder sind bereits verschuldet. Eine soziale Zeitbombe ohne Gleichen. Entsprechend entscheiden sich heutzutage immer mehr Senioren für das lebenslange Arbeiten, sie verzichten teils gänzlich auf den Ruhestand. Der neueste »Boomer Expectations for Retirement«-Bericht aus dem Jahr 2019, der jüngst vom Insured Retirement Institute veröffentlicht wurde, besagt: Ein Drittel der Boomer im Alter von 67 bis 72 Jahren arbeitet noch voll. Während in Amerika die Erwerbsquoten für viele Alterskohorten zurückgehen, steigen sie für ältere Arbeitnehmer an. Leider haben viele dieser Arbeitnehmer kaum eine andere Wahl, als schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Arbeit bei einigen der reichsten Unternehmen Amerikas wie Walmart und Amazon anzunehmen, die deren Verzweiflung offenbar gerne ausnutzen. Andere Senioren gehen noch weiter, verkaufen ihre Häuser, übernehmen gebrauchte Wohnmobile und reisen als Saisonarbeiter umher.

Zhandarka Kurti, eine Assistenzprofessorin im Fachbereich Soziologie der Universität von Tennessee, Knoxville, beschreibt das so: »Mit dem motivierenden Slogan ›Arbeite hart, habe Spaß, schreibe Geschichte‹ versucht Amazon Saisonarbeiter bei sogenannten ›nomadenfreundlichen Wohnmobilshows‹ zu rekrutieren. Während die meisten der alten Nomaden in solchen Trainingsseminaren zwar auf die ›physischen Aspekte‹ der Arbeit aufmerksam gemacht werden, sind diese dann dennoch überrascht, wie sehr sie nach einem Arbeitstag Schmerzen haben. Amazons Lösung besteht darin, kostenlose, rezeptfreie Schmerzmittel anzubieten. Amazon lässt ältere Arbeiter körperlich so müde zurück, dass sie kaum Gelegenheit haben, ihre Freizeit zu genießen. Stattdessen verbringen sie den Rest ihrer ›freien‹ Zeit damit, sich wieder gesund zu pflegen, um einen weiteren Arbeitstag zu überstehen«.

Weil private Renten und persönliche Ersparnisse nicht ausreichen, um einen angemessenen Ruhestand zu finanzieren, ist es kein Wunder, dass die Boomer jede Bedrohung ihrer sozialen Sicherheit als existenziell wahrnehmen, komme sie aus China, aus Europa oder über die südliche Grenze. Wenn die aktuellen Trends in Sachen Arbeit, Rente und Sozialversicherung nicht in Frage gestellt und umgekehrt werden, könnte die BoomerGeneration – oder zumindest ein großer Teil von ihr – die letzte sein, die eine Art zufriedenstellenden Ruhestand erlebt. Das wäre dann ein weiteres Anzeichen für ein gescheitertes System. Das System Vereinigte Staaten von Amerika. Martin Hart-Landsberg Courtesy of Street Roots/INSP.ngo

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MIT STADT IN DER STADT

Fahren Sie doch mal nach Ljubljana in Slowenien: Niemand kennt die Plätze der Stadt besser als »Kralji Ulice«-Verkäuferin Špela. Hier ihre ganz persönlichen Reise-Tipps. Und vergessen Sie nicht ihre Straßenzeitung zu kaufen, wenn Sie da sind.

Warum ich gerne hier lebe?

Ljubljana ist das Zentrum allen kulturellen Geschehens. Und überall ist es sehr ordentlich und sauber. Slowenien war 2018 das fünftsauberste Land der Welt und Ljubljana war 2016 die grünste Hauptstadt Europas. Im Jahr 2018 wurde Slowenien auch zum nachhaltigsten Land der Welt erklärt. Es liegt eingebettet zwischen smaragdgrünen Feldern, der Adria, schneebedeckten Gipfeln und ist zu fast 60 Prozent von üppigen Wäldern mit mehr als 40 Parks und Reservaten bedeckt, die rund 20.000 verschiedene Pflanzen und Tiere beherbergen. Ich muss auch unsere Küche erwähnen. Sie ist exquisit.

Was ich besonders mag?

Ljubljana hat viel Geschichte und ein altes Stadtzentrum. Ich liebe das Engagement der Stadt für den Erhalt historischer Sehenswürdigkeiten, insbesondere der antiken römischen Ruinen. Damals hieß die Stadt Emona und lag an einer wichtigen Handelsroute. Nehmt an einer Führung durch das römische Emona teil, ihr werdet staunen. Und dann gibt es noch die Stadt in der Stadt namens Metelkova. Sie ist autonom, im Zentrum ein großes besetztes Kasernengelände, ein spezieller, alternativer Ort. Es gibt viele Clubs und Bars, sogar Herbergen. Handwerker, Maler und andere Künstler wohnen dort. Hier findet auch das Weltmusikfestival Druga Godba statt, im September. Oder Mesto Zensk, die Stadt der Frauen, immer im Frühsommer.

Mein Lieblingspark?

Definitiv der Tivoli-Park. Ljubljana hat viele Grünflächen und der Tivoli ist einer der größten Parks der Stadt. Er eignet sich hervorragend für Spaziergänge und zum Entspannen. Er ist sehr ordentlich und nie überfüllt.

Foto: Kralji Ulice

Wie die Menschen sind?

Ich muss sagen, dass die meisten meiner Kunden wirklich freundlich sind. Ihr findet mich übrigens in der Unterführung des Parkhauses Trdinova im Zentrum. Meine Stammkunden kennen mich gut und halten oft an, um zu plaudern, so dass mir nie langweilig wird. Entspannte Leute trefft ihr außer in Metelkova zum Beispiel im Cacao und Lolita oder in der Tozd Bar, alle schön an unserem Fluß, der Ljubljanka, gelegen.

Wann sich ein Besuch lohnt?

Die beste Zeit für einen Besuch unserer Stadt ist im Frühling und Sommer. Neben allem, was ihr in Ljubljana sehen könnt, können ihr auch einen Ausflug ans Meer machen oder die Alpen besuchen – beides ist in einer Autostunde erreichbar.

Was nicht in Reiseführern steht?

Kein Fremdenführer wird euch das unsichtbare Ljubljana zeigen. Unsere Straßenzeitung bietet einen Rundgang durch die versteckten Winkel der Stadt an, die meist mit Obdachlosigkeit zu tun haben. Ich bin eine der FührerInnen, die euch die Orte zeigen, an denen ich früher gelebt habe. Ihr seid herzlich eingeladen, daran teilzunehmen, wenn ihr nach Ljubljana kommt.

Courtesy of INSP.ngo/The Big Issue UK

Foto: xbrchx/shutterstock.com

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