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Transiente ischämische Attacke und Hirnschlag
Andreas Luft und Thomas F. Lüscher
Definition
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Transiente ischämische Attacke
Ischämisch bedingtes fokalneurologisches Defizit ohne strukturelle Hirnschädigung (keine Läsion im diffusionsgewichteten MRI nachweisbar, vergleiche Abbildung unten) und mit einer Dauer ≤ 24 Std.
Ischämischer Hirnschlag
Fokalneurologisches Defizit bedingt durch eine ischämische strukturelle Hirnschädigung (Abb. 1)
Abb. 1: Diffusionsgewichtete Kernspintomographie mit ausgedehntem ischämischem Infarkt im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media links
7 Regionale Unterbrechung der Blutzufuhr durch Verschluss eines hirnversorgenden Blutgefässes. 7 Durch Blutflussunterbrechung Zusammenbruch sowohl des zerebralen Funktionsstoffwechsels als auch des zellulären
Energiestoffwechsels in ischämischer Kernzone. 7 Zusammenbruch des zerebralen Funktionsstoffwechsels bei erhaltenem zellulärem Energiestoffwechsel in ischämischer Randzone (sog. Penumbra). 7 Bei Persistieren der Blutflussunterbrechung Auftreten von verzögertem Gewebeschaden durch sekundäres Energiestoffwechselversagen und/oder Apoptoseaktivierung in der
Penumbra. 7 Interindividuelle Unterschiede in der Ausprägung von Kern und
Penumbra sind bedingt durch unterschiedlich angelegte Gefässkollateralen, die den Verschluss zu kompensieren versuchen.
Inzidenz
7 Ca. 200–250 Erkrankungen je 100 000 Einwohner pro Jahr in
Mitteleuropa. 7 Wahrscheinlichkeit nach einem Schlaganfall einen weiteren zu erleiden: 2–20%/Jahr (abhängig von der Ätiologie und der sekundärpräventiven Therapie).
Ursachen
Die ätiologische Zuordnung eines Insults ist immer eine Frage der Wahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung aller diagnostischen Resultate. Wichtig ist deshalb immer eine vollständige Abklärung. Auch wenn man in der ersten Untersuchung schon eine mögliche Ursache findet, müssen die restlichen Untersuchungen dennoch erfolgen. 7 Makroangiopathie (arterioarterielle Embolien, z.B. bei Carotis
Stenose, selten hämodynamisch) 7 Mikroangiopathie (mit lakunären, d.h. <1,5–2,0 cm im Durchmesser messenden Infarkten assoziiert) 7 Kardiale oder aortale Embolien (Vorhofflimmern, Erkrankungen der Herzklappen, Aortenplaques; siehe Abb. 2 und 6) 7 Paradoxe Embolien (offenes Foramen ovale, PFO; Vorhof
Septumdefekte, ASD; siehe Abb. 2 und 7) 110
7 Andere (z.B. Dissektionen, Arteritiden, Gerinnungsstörungen) 7 Unklar, d.h. Fälle, die sich keiner der oben genannten Kategorien zuordnen lassen.
Abb. 2: Ausgangspunkte zerebrovaskulärer Embolien A: Aortenplaques B: PFO: Patent Foramen ovale C: Aortensklerose D: Thrombus im Vorhofohr E: Thrombus im linker Ventrikel F: Carotisplaque
Risikofaktoren

7 Arterielle Hypertonie (siehe auch Kapitel «Arterielle Hypertonie»,
Seite 2) 7 Adipositas 7 Diabetes mellitus (siehe auch Kapitel «Diabetes mellitus», Seite 33) 7 Rauchen (siehe auch Kapitel «Tabakentwöhnung», Seite 55) 7 Lipidstoffwechselstörungen (siehe auch Kapitel «Dyslipidämie»,
Seite 22) 7 Mangel an körperlicher Aktivität, Stress 7 Koronare Herzerkrankung (insbesondere Herzinfarkt; siehe auch Kapitel «Akutes Koronarsyndrom», Seite 79)
7 Vorhofflimmern (siehe auch Kapitel «Vorhofflimmern», Seite 157) 7 Aortenstenose (siehe auch Kapitel «Aortenstenose», Seite 215) 7 Aortensklerose (Aorta, Carotis) 7 Obstruktives SchlafapnoeSyndrom 7 Positive Familienanamnese 7 Hyperuricämie, Hyperhomocysteinämie
Symptomatik/klinische Befunde
7 Halbseitige motorische Ausfälle (Feinmotorikstörungen, Paresen) 7 Aphasie (i.d.R. linkshemisphärisch bei Rechtshändern) 7 Dysarthrie 7 Halbseitige Sensibilitätsausfälle 7 Hemineglekt, visuokonstruktive Störungen, Anosognosie (i.d.R. rechtshemisphärisch) 7 Koordinationsstörungen (Ataxie), Apraxie, Gangstörung 7 Schwindel, Übelkeit 7 Blickmotorische Störungen (u.a. «deviation conjugée», horizontale/vertikale Blickparese), Doppelbilder 7 Hirnnervenausfälle (u.a. Gesichtsparese, Zungenparese,
Dysarthrie, Dysphagie) 7 Sehstörungen (Amaurose, Gesichtsfeldausfälle) 7 Pupillenstörungen (u.a. Horner Syndrom, Mydriase) 7 Somnolenz/Sopor/Koma, akute Verwirrtheit/Delirium 7 Störung höherer kognitiver Funktionen, Persönlichkeitsveränderungen 7 Kopfschmerzen (v.a. bei Ischämien im hinteren Kreislauf) 7 Atmungsstörungen
7 Kraniale Computertomographie: Ausschluss einer intrakraniellen Hämorrhagie als Ursache der neurologischen Störungen (Abb. 3)

Abbildung 3: CT eines ischämischen (rechts) und hämorrhagischen Hirnschlags (links) 7 Kraniale Kernspintomographie (T1, T2, Diffusions,
PerfusionsMRI): Positivnachweis der Ischämie in der Frühphase (1–2 Std.; Abb. 1)

Abbildung 4: Farbkodierte Duplexsonographie: Die Stenose kommt als fokale Flussbeschleunigung (gelb-grün-blaue Bereiche) zur Darstellung. Die absolute Flussgeschwindigkeit gibt Hinweise auf den Stenosegrad
7 Doppler und Duplexsonographie der hirnversorgenden Gefässe (Abb. 4 und 5)

Abbildung 5: Duplexsonographie im Power-Mode zur morphologischen Beurteilung der
Stenose. Flussgeschwindigkeiten und Morphologie zusammen ergeben eine genaue
Abschätzung des Stenosegrades 7 Elektrokardiographie (EKG), 48Std.EKG 7 Echokardiographie (TTE, TEE): Aortenplaques (Abb. 6), Thrombus im linksatrialen Herzohr, offenes Foramen Ovale (Abb. 7)


Abbildung 7: Venöser Thrombus, eingeklemmt im offenen Foramen ovale (rote Pfeile; links), Thrombus nach Extraktion (Mitte) und embolischer Hirninfarkt im CT (weisser
Pfeil; rechts). (modifiziert von Shang X. et al. Eur. Heart J. 2016; 37: 782). 7 RisikofaktorScreening: Oraler GlucoseToleranztest oder
HbA1c, Cholesterin, Nächtliche Oxymetrie/Respirographie, 24Std.Blutdruck Messung 7 Bei jungen Patienten und unklaren Fällen: • Liquoranalyse, ThrombophilieDiagnostik • Immunologische Diagnostik • GanzkörperCT (primär systemische Erkrankung?) • Zerebrale Angiographie, evtl. Hirn und Hirnhautbiopsie
Therapie
Akuttherapie
7 Intravenöse Thrombolyse mit rekombinantem tissuePlasminogenaktivator (tPA) bei Symptombeginn <4.5 Stunden und fehlenden Kontraindikationen. 7 Ggf. intraarterielle Thrombolyse oder Thrombektomie (mittels
Stent Retriever oder Aspiration) bei Symptombeginn bei Verschluss grosser intrakranieller Gefässe. 7 Bei raumforderndem Infarkt unter Umständen antiödematöse
Behandlung (z.B. mit Mannitol, hypertone NaClLösung) und frühzeitige Indikationsstellung für/gegen Hemikraniektomie erforderlich. 7 Bei spontanen Sauerstoffentsättigungen Sauerstoffgabe mittels
Nasensonde (bis 8 l/Std.) in Infarktfrühphase. 7 Behandlung des Blutdrucks nur bei Werten >220 mmHg systolisch (nach Lyse 180) oder 110mmHg diastolisch (nach Lyse: 90).
7 Unverzügliche Behandlung der Hyperglykämie und der Hyperthermie. 7 Behandlung auf einer Schlaganfallstation (Stroke Unit mit speziell ausgebildetem Personal, Ärzte, Pflege, Therapeuten).
Prophylaxe
7 Thrombozytenaggregationshemmung mit Acetylsalicylsäure (100–300 mg/Tag), Clopidogrel (75 mg/Tag) oder ASS/Dipyridamol (200/25 mg/Tag) bei fehlender Indikation für eine orale
Antikoagulation. 7 Bei gegebener Indikation für Antikoagulation (z.B. Vorhofflimmern, künstliche Herzklappen, ) und fehlender Kontraindikation (u.a. hämorrhagische Transformation des Infarktes, ausgedehnte
Infarkte) Heparinisierung und nachfolgend orale Antikoagulation mit einem NichtVitaminKabhängigen oralen Antikoagulans (NOAC; Rivaroxaban 20mg/Tag, Apixaban 2×2.5 oder 2×5mg/
Tag, Edoxaban 30–60mg/Tag oder Dabigatran 2×110–150mg/
Tag) bei Vorhofflimmern. Patienten mit gleichzeitig einer künstlichen Herzklappe bedürfen einen oralen Antikoagulation mit einem Vitamin KAnatgonisten (Marcoumar oder Sintrom). 7 Bei Vorhofflimmern als Ursache und Kontraindikation zur Antikoagulation: perkutaner Vorhofohrverschluss. 7 Bei bettlägrigen Patienten Thromboseprophylaxe mit niedrig dosiertem (evtl. niedermolekularem) Heparin. 7 Unabhängig von Serumcholesterinspiegel Plaquestabilisierung mit hochdosiertem Statin (siehe Kapitel «Dyslipidämie», Seite 22). 7 Bei symptomatischen CarotisStenosen (≥50%) Durchführung einer CarotisThrombendarteriektomie oder einer Ballondilatation mit Stenteinlage (insbesondere bei jüngeren Patienten;
Behandlung der Carotisstenose; Kapitel «Behandlung der Carotisstenose», Seite 118). 7 Bei persistierendem Foramen ovale, insbesondere mit Septumaneurysma und im Echo nachgewiesenem reli Shunt besteht heute aufgrund verschiedener randomisierter Trials (CLOSE NEJM 2017; 377:1011–1021 und RESPECT NEJM 2017;377:1022–1031) insbesondere bei Ausschluss anderer Ursachen eine klare Indikation für einen perkutanen Vorhofseptumverschluss mit einer massiven Reduktion erneuter zerebrovaskuärer Ereignisse (Abb. 8).
Atrial Septum
Right Atrium Left Atrium

Amplatz® Device
Guiding Catheter
Abbildung 8: Amplatzer-Verschlussdevice in einem offenen Foramen ovale (Operateur: Prof. Thomas F. Lüscher)
Rehabilitation
7 Möglichst frühzeitiger Beginn einer Rehabilitationsbehandlung beginnened mit der Mobilisierung innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Auftreten der Symptome (ausser bei cardiozirkulatorisch instabilen Patienten oder bei grossen Hirnblutungen). 7 Anschliessend an die Akutbehandlung Durchführung einer intensiven interdisziplinären Rehabilitationsmassnahme bei persistierenden Symptomen (z.B. auch bei rein kognitiver Einschränkung, die immer neuropsychologisch evaluiert werden muss). 7 Auch bei länger als 6 Monate persistierenden Symptomen ist eine rehabilitative Massnahme sinnvoll und effektiv, wenn sie aktives und intensives Training umfasst (evtl. auch in ambulantem Rahmen). Die Notwendigkeit einer rehabilitativen
Erhaltungstherapie zum Verhindern einer Verschlechterung muss evaluiert werden.