
Marc Du Buisson
Marc Du Buisson
Roman
Roman
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IchbinzufriedenmitmeinemLeben. Ichglaube,dassdiesen SatzdiewenigstennochunterunsweilendenAchtzigjährigen aussprechenundestatsächlichauchsomeinen.IhreHüften schmerzen,daskünstlicheKniegelenkbeginntbereitszurosten,mitdemSmartphonekommtmanweißGottnichtzurecht,dieHörgerätestellenimmernurdiefalschenGeräusche lauter,dieRenteistzuklein,unddieeigenenKinderundEnkelkinderhabenkaummehrZeitfüreinen.
FürmichspieltdasalleskeineRolle.Ichbineinigermaßen gesund,kannnochAutofahren,habeeineHandvollFreunde undeinenziemlichanständigenEnkelsohn,dersichselbst,so oftesgeht,beimirzumEsseneinlädt.
ImDorfZuchwil,indemichseitmeinerGeburtlebe,lässt manmichallein,sodassichohneschlechtesGewissenmeiner täglichenRoutinenachgehenkann.WieeinUhrwerkwache ichjedenMorgenumneunUhrauf.IchlaufeüberdieStraße indenSupermarkt,holemireinBrötchenundkaufedieZutatenfürdasbereitsamVorabendgeplanteMittag-und Abendessenein.BiszumMittagessenleseichden SolothurnerKurier,denichbeimeinerRückkehrvomEinkaufenaus demBriefkastenhole.Danachschaueichkurz,obetwasim Fernsehenläuft,bevorichanfangezukochen.
MeineFrauhatdeutlichbessergekochtalsich.Ichhabees geliebt,ihrdabeizuzusehen.ErstnachihremTodvorzehn Jahrenhabeichgemerkt,dassichdabeinichtnursie,sondern unbewusstauchihreAbläufeundRezeptestudierthabe.DeswegenbietetmeinSpeiseplanauchetwasAbwechslung,sodassmirnichtsoschnelllangweiligwird.
NachmittagsmacheichnachdemAbwascheinenMittagsschlaf,bevorichspazierengehe.IchkennedieStraßenund
WegedesDorfesnebenderKantonshauptstadtSolothurninundauswendig.IchhabeZuchwilbeimWachsenförmlich zusehenkönnen.MittlerweilegiltesauchoffiziellalsStadt, aberfürmichwirdesimmereinDorfbleiben,egalwasdie Leutesagen.
ManchmallaufeichzurreformiertenKirche,abundzu hinaufzumFriedhof,undesgibtauchTage,andenenich einfacheinwenigdurchdieNebenstraßenschlendere.
DannwirdesbaldZeitfürsAbendessen,nachdemichauf demSofagesessenundimFernsehengeschauthabe,wasmich geradeammeisteninteressiert.VordemSchlafengehenüberlegeichmirdiebeidenMahlzeitenfürdennächstenTagund schonhabeichwiedereinenweiterenTagzufriedenhinter michgebracht.
Wennesnachmirgegangenwäre,hättedieseRoutinebisans EndemeinesLebenssobleibenkönnen.Dochalssichmein EnkelMichaelfürFreitagabendzumEsseneingeladenhat, habeichgeahnt,dassirgendetwasimBuschist.Dassesdas EndemeinerachsogeliebtenRoutinebedeutensollte,hätte ichmiraberniegedacht.
«Dasriechtabergut»,sagtMichael,alserdurchdieTür kommt.«WasgibtesFeines?»
«BlödeFrage»,antworteich,weilesimmerdasselbegibt, wennerzuBesuchkommt:BratkartoffelnundeingroßespaniertesSchnitzel.
ErklopftmiraufdieSchulterundschnupperttheatralisch. «HastduTomaten?» «DumeinstKetchup?»
«Istdasselbe.»
Michaelist27Jahrealt,abermanchmalkannichmirdas nurschwervorstellen.IchverdrehedieAugenundzeigeauf
denKühlschrank,woereinefrischeFlascheherausnimmt,die eraufdenTischstellt.
IchschaltedenHerdabundfüllezweiTellermitBratkartoffelnundjeeinemSchnitzel.AufseinenTellerlegeichdas deutlichgrößereSchnitzelunddoppeltsovieleBratkartoffeln,wasihnsichwieimmerdieLippenleckenlässt.Erreibt dieHändeaneinanderundkanneskaumerwarten,endlich anzufangen.
«EinengutenAppetit»,wünscheichunderlaubeihm, mitdemEssenzubeginnen.ErwiederholtmeineWorteund hatgefühltezehnSekundenspäterschondashalbeSchnitzel aufgegessenundeinenViertelderKetchup-Flaschegeleert.
«Also»,beginneichvorsichtig.«WasistderGrundfür deinenBesuch?»
«DarfichdennnichteinfachmeinenLieblingsgroßvater besuchen?»,fragtMichaelgrinsend.
«IchbindeineinzigerGroßvater»,präzisiereich. ErzucktbloßmitdenSchultern.
«WillstdumichwiederfürdenTöpferkursanmelden?», frageich,weilermichvorgutdreiMonatenwochenlangdamitbelästigthat.Eswürdemirguttunundmichetwasvon meinemlangweiligenAlltagablenken,hatergemeint. Dass ichnichtlache. MeinLebenistnichtlangweilig.Eintönig vielleicht,aberkeinesfallslangweilig.
«Möchtestdudas?»,fragterganzaufgeregt.
EinböserBlickgenügtalsAntwort.
«Nagut»,gibtersichgeschlagenundlegtseinBesteck aufdenTisch,obwohlernochnichtzuEndegegessenhat.Es mussalsoetwasWichtigessein.«IchbrauchedeineHilfe. UnserneuerFahrerhatnochwährendseinerdreimonatigen ProbezeitohneVorwarnungentschieden,dasserdenJob dochnichtmachenwill.AufdieSchnellefindeichkeinen Ersatz.»
MichaelarbeitetfüreineOrganisationnamens LebenPlus , dieSeniorinnenundSeniorenderGemeindeverschiedene Dienstleistungenanbietet.DazuzählenHilfebeiderHausarbeitundUnterstützungbeialltäglichenVerrichtungenwie Ankleiden,Duschen,RasierenoderWaschen.EinkäufekönnenerledigtsowiedieWohnungoderdasHausgeputztwerden.Menschen,denenespsychischnichtgutgeht,können über LebenPlus sogarpsychiatrischeHilfeerhalten.
DieOrganisationisteineAbteilungderEinwohnerdienste derGemeindeZuchwilundMichaelderLeiterdesMahlzeitendienstes.Erstelltsicher,dassrundsechzigSeniorinnen undSeniorenunterderWochejedenMittageinewarme Mahlzeitgeliefertbekommen.
«Waswillstdudamitsagen?»,frageich,weilerseinen Blickgesenkthatundwiederisst.
«Duweißtgenau,worumichdichbitte.»
«Nein»,antworteichbestimmt.
ErlegtseinBesteckbeiseiteundschautmichflehendan. «Bitte.»
«Ichbin80Jahrealt.»
«UndnochziemlichfitfürdeinAlter»,machtermirein seltenes,aberwohlüberlegtesKompliment.«Außerdemhast dueinAutoundeinenFührerschein.»
«Ichfahrekaumnoch.»
«DannwirdesZeit,dassduwiederetwasübst.Sonstverlernstduesnoch.»
«IchwilldieUmweltnichtverschmutzen»,bluffeich.In Wahrheitistesmiregal,wasichdamitdemPlanetenantue. IchwerdedemWeltuntergangsowiesonichtmehrbeiwohnen.
«DulässtalsolieberalteMenschenverhungern,alsdass dudasKlimaverschmutzt?»SeineFragefindeteineFortset-
zung,dieichnichterwartethabe:«WaswürdeGroßmutter bloßdazusagen?»
SomithatmichmeinEnkelschachmattgesetzt.Seinem Lächelnnachzuurteilen,istihmdasauchbewusst.Meine verstorbeneFrauhatihrganzesLebenimAltersheimaufdem BleichenberggearbeitetunddortdenBewohnerinnenund BewohnernjedenWunschvondenLippenabgelesen.
«Naschön»,gebeichmichgeschlagen.«Abernurso lange,bisdueinenneuenFahrergefundenhast.»
«Nurvorübergehend,versprochen»,sagtMichaelundbeendetseinEssen,währendermirdenAblauferklärt,dermeinegeliebteRoutinekomplettüberdenHaufenwerfenwird.
IchbinzufriedenmitmeinemLeben. DiesenSatzwiederhole ichanjenemAbendimmerwieder,alsichimBettliege. DochzumerstenMalseitLangemglaubeichnichtmehr wirklichdaran.
DerSonntaghatinmeinemWochenablaufschonseitmeiner PensionierungeinenbesonderenStellenwert.NachdemErwachenumneunUhrgeheichnämlichnichtindenSupermarkt,dersowiesogeschlossenhat,sondernhinüberins RestaurantMürgelihof.
SeitnunmehrfünfzehnJahrentreffeichdortmeinedrei bestenFreunde.Wirkennenunsschonsolange,dassichvergessenhabe,wiewirüberhauptzueinandergefundenhaben. Icherinneremichnochdaran,dasswirgemeinsamzurSchule gegangensindundunsseithertrotzHeiraten,Familiengründungen,ScheidungenundTodesfällennieausdenAugenverlorenhaben.
UmhalbzehnlaufeichdurchdieTürundsetzemichan unserenStammtischamFenster,durchdasmanhinausauf denStraßenkreiselschaut,aufdemzweirot-weißangemalte Kuh-Statuenstehen.WieimmerbinichderErste,weilich gleichimHausnebenanwohneundsomitdenkürzesten Weghabe.
FrankkommtalsNächster.ErhatalsBusfahrergearbeitet undalsAbschiedsgeschenkeineKartebekommen,dieihmlebenslangeGratisfahrtengarantiert.ErnutztdiesesGeschenk gnadenlosaus,daerjedenSonntagmitdemBuskommt,obwohlerdafürnureineStationfahrenmuss.
LuigisAnkommenkündigtwieimmerdieHupeseinesrotenElektromobilsan.DieEigentümerdesRestaurantshaben ihnschonmehrfachermahnt,dasserdastunlichstlassenmöge,dochderstolzeItalienerignoriertihreBittejedeWoche aufsNeue.
DerLetzteimBundeistPeter.DerehemaligeKantonsarzt, derineinemgroßenHausinderNähedesFriedhofslebt, bestelltsichjedenSonntageinTaxi.
«DulässtdeinePatientenselbstinderRentenocheine Viertelstundewarten»,meintFrank,alsPeterendlicham Tischsitzt.
«DieWartereizahltbisheutedieTaxifahrten»,gibtPetergekonntzurück.
«GutenMorgen,dieHerren»,sagtIsabelle,dieohneeine BestellungunsererseitsvierTassenKaffeeaufdenTischstellt.
«GutenMorgen»,antwortenwiralleimEinklang,sowie wiresfrüherinderSchulevorjederLektionhabenmachen müssen.
Dochselbstdamitschaffenwiresnicht,derzwanzigjährigenBedienungeinLächelnzuentlocken.Siemagunsnicht besonders,wasvielleichtdaranliegt,dasssiezurGenerationZ gehört,derenEinstellungzumLebensichkomplettvonder unserenunterscheidet.AlleinihrAussehenunterstreichtdas. IhreHaaresindblaugefärbt,inihrerNasebefindetsichein Piercing,undsieträgteinealtmodischeBrillenuralsAccessoire – inderFassungsindnämlichkeineGläser.Vielleicht magsieunsaberaucheinfachnicht,weilwirihrnieTrinkgeldgeben.
«MeinEnkelwaramFreitagbeimir»,beginneichmit meinerNeuigkeit.
«ErwolltedichdochnichtwiederfürdenTöpferkursanmelden,oder?»,fragtPeter.
«Sagbloß,erhatdirE-Bankingandrehenwollen»,ist FranksVermutung.
WiralleschauenzuLuigiunderwartenseineAnnahme. «Isterschwanger?»,flachsterundbringtunsdamitalle zumLachen.
«Nein»,antworteich.«ErhatmireinenJobangeboten.»
«UndduIdiothastihnangenommen.»Frankschüttelt denKopfundzeigt,waserdavonhält,indemerdemonstrativ seinHörgerätausschaltetunddenKopfwegdreht.
«Istdaslegal?»,fragtLuigi. IchzuckemitdenSchultern.
«InItalienistesbestimmtverboten»,fährtLuigifort.
«InItalienscheintdasArbeitenallgemeinverbotenzu sein»,antwortetPeter.«Egal,wiealtmanist.»
LuigistößteinenFluchaus,derjedochuntergeht,weilPeterundichlautlachen.FrankhatdenSpruchverpasstund schaltetdeshalbseinHörgerätwiederein.
«IchwerdeMahlzeitenausliefern»,erkläreich.«Fürdie Organisation,beiderMichaelarbeitet.»
«Wirstdudafürbezahlt?»,willPeterwissen.
«Dashoffeichdoch.»
«Heißtdas,dassnunetwasTrinkgeldfürmichherausspringt?»,hörenwirIsabellesStimme,diewieausdem NichtsaufgetauchtistunddieRechnungaufdenTischlegt.
«Ichdachte,dieMahlzeitenlieferantensindFreiwillige», sagtFrank,sodasssichIsabelleenttäuschtwiederentfernt.
«HabeichjedenfallsinderZeitunggelesen.Ihrwisstschon, nachdemganzenSkandal … »
DerSkandalhatvordreiMonatengroßeWellengeschlagen.EinFahrer,derMahlzeitenanSeniorinnenundSenioren hätteverteilensollen,hatdasEssenstattdessenfürsichbehaltenundeingroßesFestfürseineFamilieausgerichtet.Der hungerndenKundschafthatergedroht,dasssienichtsvon demverschwundenenEssensagensollen.EineZeitlangist dasauchgegangen,dochdiemeistenälterenMenschenhaben keineAngstvorleerenDrohungen.
DerFahreristaufgeflogenundsofortentlassenworden, doch LebenPlus undvorallemderMahlzeitendiensthatdadurcheinenheftigenImage-Schadendavongetragen. Obich derRichtigebin,dasImagewiederaufzubessern,frageich michundbinmirallesanderealssicher.
EinermeinerdreiFreundewechseltdasThema,undwir redenüberSport,PolitikundunsereGebrechen.Wirtrinken denKaffeeaus,bezahlenalleseparatohneTrinkgeld,wasIsabelledieAugenverdrehenlässt,undverabschiedenunsvoneinander.
PetersteigtinsTaxi,FrankläuftzurBushaltestelle,Luigi setztsichaufseinElektromobil,undichlaufeüberdenMattenwegzurückinmeineWohnung.
AmNachmittagbinichzunervös,umzuschlafen.Meinen letztenArbeitstaghabeichvorfünfzehnJahrengehabt.DamalssindSmartphonesgeradeamAufkommenunddieUBS istineinergroßenKrisegewesen.Seitherhatsichsovieles verändert,dassichnichtmehrweiß,obichnochmithalten kann.Amliebstenwürdeichesnieherausfinden,dochich habeesMichaelversprochenundnunisteszuspät,einen Rückzieherzumachen.
KurzvorzehnUhrabendsschlafeichein,undmir schwant,dasssichabmorgenmeinganzesLebenverändern wird.
WeilicherstumzehnUhrzumAbholenderMahlzeitenerwartetwerde,kannichwenigstenszuBeginndesTagesmeinergewohntenRoutinenachgehen.
MeinBrötchen,dasichnachdemAufstehenimSupermarktgeholthabe,esseich,währendichdieZeitunglese.IrgendwiewollenmirdieWortederArtikelanjenemMorgen nichtimKopfbleiben.KaumhabeicheinenSatzgelesen,ist ergleichwiederverschwunden.SelbstbeidenTodesanzeigen, dieichimmeramsorgfältigstendurchgehe,brauchtesheute zweiDurchgänge.
Michaelhatmirbloßgesagt,wannichwoseinmuss.Das warganzschönwenigInformation.Vielleichthatereinfach gewusst,dassichnichtvieleInfosbrauche,odererhatbewusstdasSchlimmsteweggelassen.
Weilessoodersozuspätist,beschließeich,nichtlänger darübernachzudenken,undsteigeinsAuto.Direktander StraßebefindensichdreiParkplätze,vondeneneinermit meinemweißenMazda2besetztist.DenWagenhabeich 2008zumeinerPensionierunggekauft,underleistetmirseitherguteDienste,auchwennergenauwieichlangsamindie Jahregekommenist.
DaswohlauffälligsteMerkmalseinesAltersistdasRattern, dasjedesMallosgeht,wennmandenMotorstartetoderdie LuftzufuhrderKlimaanlageregelt.FürgutezehnSekunden gibtdasAutoeinohrenbetäubendesGeräuschvonsich,das mittlerweilenichtmehrwegzudenkenist.
IndenrarenMomenten,indenenichMichaelirgendwohinfahre,machenwirunseinSpieldarausundversuchenzu erraten,wanndasRatternaufhört.
AbgesehendavonläuftderMazdaeinwandfrei.AuchheuteMorgen,nachdemichihnbestimmtfürzweiMonatenicht mehrgestartethabe,springtersofortan.ImGegensatzzumir scheintsichdasAutodaraufzufreuen,innächsterZeitetwas öftersgebrauchtzuwerden.
DieFahrtbiszum AltersheimUnterderLinde dauertkeinefünfMinuten.BeimMürgelihof-Kreiselnehmeichdie dritteAusfahrtaufdieNord-Süd-Straße.InderHälfteder UnterführunggehtesnachrechtsinsBlumenfeldquartier. DierotenBacksteinedesGebäudeslassenmichwissen,dass ichrichtigbin.IchstelledasAutodirektvordemEingangauf einenParkplatz – oderbessergesagtaufeineinhalb – und steigeaus.
«ParkierenwarnochniedeineStärke»,höreicheine Stimme,dienureinemgehörenkann:Obwohlerseitsiebzig JahreninderSchweizlebt,hörtmanseinenitalienischenAkzentnochimmerheraus.
«Luigi»,sageichundschaueaufdieUhr.«Esistschon sospät,solltestdunichtschonlangeimBettsein?»
LuigizucktbloßmitdenSchulternundnimmteinentheatralischlangenZugvonseinerZigarette.MarlboroRot.Seit erraucht,hatesnieeinenSeitensprunggegeben.Wäreer bloßseinenzahlreichenFreundinnengegenübersoloyalgewesen.
«ThomasRiederer»,höreichplötzlichmeinenNamen. Ichdrehemichumundseheeinegroße,stämmigeFraumit einemKlemmbrettinderHandvormir.
«Dasbinich»,sageichundreicheihrdieHand.Ihr Händedruckistsofest,dasseinermeinerKnöchelknackt.
«Mitkommen!»,befiehltsie.«IchzeigeIhnenalles.»
OhnemichvonLuigizuverabschieden,folgeichihr.Ihr Schrittistschnell,sodassichmichsputenmuss.
«Name:LisaWidmer»,erklärtsieaufdemWeg.«Ich binhierfürdieMahlzeitenverantwortlich.Ichpackesieab undsetzesieindierichtigeReihenfolge.»
SiehatetwasMilitärischesansich.
«Hierentlang»,istihrnächsterBefehl.
WirlaufenineinenkleinenRaum,etwafünfauffünfMeter,indemdreiPlattformwagenstehen.Aufjedemvonihnen stehenungefährzwanzigEssensboxen,indenendieMahlzeitenverstautsind.
«SiewerdenfürdasUnterfeldquartierzuständigsein,kennenSiesichdortaus?»
«Ja»,antworteichundtrauemichnichtzusagen,dass ichübersechzigJahremeinesLebensdortverbrachthabe.
«DenRoutenplanwerdenSieaberdennochbrauchen.»
SiehändigtmireinBlattvomKlemmbrettaus.Daraufist eineKartedesQuartiersabgebildet,aufdereineroteLinie zwanzigverschiedenePunktemiteinanderverbindet.Vonder NummereinsführtsiezurNummerzweiundsoweiter,bis sieamSchlusswiederzurückbeimAltersheimendet.
«Wichtigist,dassSievonjederPerson,derSieeineMahlzeitbringen,eineleereEssensboxzurückbringen.»
LisaWidmeröffnetdieobersteBox.Dazulässtsieanden SeitenzweiVerschlüsseaufschnappenundhebtdenDeckel ab.DarunterbefindetsicheinTablettmiteinerkleinenSuppenschale,einemTellermitderHauptspeiseundeinemDessertteller,aufdemnocheinStückZitronenkuchenliegt.
«IchbraucheTablett,Teller,Suppen-oderSalatschale unddenDeckel.SiewerdenbestimmteinigenPersonenbegegnen,diebehaupten,dasssieetwasdavonnichterhalten hätten.DasisteineLüge.»
«Undwassollichdannmachen?»,frageichneugierig.
«DasüberlasseichIhnen.»EineAntwort,diemirnicht imGeringstenweiterhilft.«Ichwilleinfachalleswiederhaben.Verstanden?»
«Verstanden»,gebeichmilitärischzurück.
«NochFragen?»
Keine,willicharmeegetreuantworten,obwohlmirnoch vielesunklarist.AusAngst,michzublamieren,stelleichnur eineFrage:«WielangehabeichZeit,dieMahlzeitenauszutragen?»
«SiehabenneunzigMinuten.Von10.30bis12.00Uhr», antwortetsie.«Umspätestens13Uhrerwarteichdieleeren EssensboxenwiederindiesemRaum.»
DasssiemirbeimGehennichtdasKommando Wegtreten gibt,isteinkleinesWunder.AlsolöseichdieBremsedes Plattformwagens,deramHebelmit Unterfeld beschriftetist, undzieheihnvorsichtighintermirherzumMazda.
«Hey,drückstdumireinDessertab?»,fragtmichLuigi beimEingang.«EineZigaretteschmecktvielbessermiteinemStückKuchen.»
«Vergisses»,flüstereichzurück,nachdemichmirsicher bin,dassLisaWidmernirgendwozusehenist.«Ichwill nichtschonanmeinemerstenTaggefeuertwerden.»
Luigibeginntzulachen.
«Wasistsolustig?»,frageich.
«DuhastAngstvorGeneralWidmer»,antworteterund sprichtdabeidenpassendenSpitznamenderFrauaus.
IchschüttlebloßdenKopfundlaufeweiterzumeinem Auto.EinenabschließendenKommentarvonLuigibekomme ichdennochzuhören:«AndieArbeit,Soldat!»
DasersteProblemlässtnichtlangeaufsichwarten:Wiesoll ichdieEssensboxenambestenimAutoverstauen?ImKofferraumhabennichtallePlatz,weshalbichmichfürdie Rückbankentscheide.AllezwanzigMahlzeitenpassenhinein, wasmichberuhigtdurchatmenlässt.
IchbringedenTransportwagenzurückindenRaum,immerdaraufbedacht,GeneralWidmernichtzubegegnen,und merkeerst,alsichinsAutosteige,dassesbereitshalbelfUhr ist.Ichfahrevorsichtiglos,weilichnichtwill,dassdieEssensboxenverrutschen.
LautRoutenplanistmeinersterHaltamAhornweg1, demgroßenWohnblockdirektvorderBushaltestelle Unterfeld. VorderTürmeineserstenLieferauftragsentdeckeich eineleereEssensboxundeinenNotizzettel:
Bittenichtklingeln!LegenSiedieEssensboxeinfachvor dieTür.Danke.
AlsotauscheichdieBoxenmiteinanderausundvergewisseremich,dassdieleereBoxauchvollständigist. Tablett,Teller,Suppen-oderSalatschaleundderDeckel,gehtmirdurch denKopf.Allesda.
KeineMinutespätersitzeichwiederimAutoundfahre denAhornweginRichtungNordenweiter.Nachungefähr hundertMeternbiegeichrechtsindennächstenParkplatz einundlaufemitderBoxNr.2zumAhornweg26.
«Ja»,meldetsicheineFrauenstimme,überdieGegensprechanlage.
«MeinNameistThomasRiederer,ichbinvomMahlzeitendienst.»
«KommenSiehoch.»
EinSurrenöffnetdieTür,undichgeheindenersten Stock,womicheineDameingebückterHaltungbegrüßt.Ich schätzesieaufmindestensneunzigJahre.
«Siesindneu»,stelltsiefest.«Undetwasalt.»
NichtsoaltwieSie,denkeichmir,sprecheesabernicht aus.
«KönntenSiemirdieBoxindieKüchetragen,ichschaffe dassonstnicht.»
Ichnickeundtreteein.ÜberallamBodenliegenDinge herum.EinPaarSockenhier,eineJackeda,einStapelZeitungeninderEckeunddieSchuhesindüberallverteilt.
DieEssensboxlegeichaufdenTischimEsszimmer,wo sichauchdieleerebefindet.Ichkontrolliere,dassallesdaist, undverabschiedemich.
«IchbringeSiezurTür»,bietetmirdieNeunzigjährige an.
«Nichtnötig»,sageichundseheinihremGesicht,dass ichihrdamiteinenGefallentue.«Ichfindeselbstraus.EinengutenAppetit.»
MeinSpießroutenlaufdurchdasUnterfeldquartiergeht weiter.DieNummer3isteinManninmeinemAltermiteinerBrille,derenGläsersodickwieFlaschenbödensind.Bei derNummer4handeltessichumeinenDeutschenimRollstuhl.InseinerWohnungistesdunkel,dochalsicheinen Blickhineinwerfe,habeichfüreineSekundedasGefühl,eine roteFlaggemitHakenkreuzamEndedesFlurszusehen.
DienächsteLieferunglässtmichdenDeutschenschnell vergessen.EshandeltsichumeinEhepaar,dasamLindenweg10ineinemHausmithübschemVorgartenwohnt.Sie sindneugierigundstellenmireinpaarFragen,ummichkennenzulernen.Alsichsiewiederumfrage,fürwendieLieferungist,antwortetdieFrau,dasssiesichdieMahlzeitteilen.
NurzweiHäuserweiteraufderanderenStraßenseitestoppeichmeinenWagenbereitswieder.DieTüröffnetsich, undeineFrau,derenKleidervollerKatzenhaaresind,nimmt dieEssensboxentgegenundgibtmirdieleerezurück.Diese riechtleichtnachKatzenpisse,weshalbichbeschließe,siein denKofferraumzulegen.
DienächstenLieferungengehenaneinenDunkelhäutigen mitDreadlocks,dernachMarihuanariecht;aneineDame, welchedieTürnurgeradesoweitöffnet,dassichdieBox durchreichenkann;aneineehemaligeLehrerinmiteinerLesebrilleaufderNasenspitzeundeinemBuchunterdemArm; aneinenTürken,dessenBrusthaareausdemV-Ausschnitt seinesShirtsherausschauenundderfragt,wannesdennendlichmaleinenKebabgebe.
ZurückimAutozeigtmireinBlickaufmeinenRoutenplan,dassichdieHälftederLieferungenbereitsgeschaffthabe,obwohleserstelfUhrist.Ichhabealsoimmernocheine StundeZeit,dierestlichenMahlzeitenauszuliefern.ZumerstenMal,seitichvonzuHauselosgegangenbin,entspanne ichmichetwas.
DieEntspannunggehtgleichbeimeinemnächstenBesuch amSchwarzerlenweg12wiederflöten.EineDamebegrüßt michanderTürmiteinemRollator,aufdessenSitzflächedie leereEssensboxsteht.SiebewegtihrenMund,undverschiedeneLautesindzuhören,dochichverstehekeinWort.
«Wiebitte?»,frageichundbekommedieselbenunverständlichenLauteerneutzuhören.
IchhabekeineAhnung,wassiezusagenversucht,weshalb ichihreinfacheinLächelnschenkeunddieEssensboxenaustausche.
«EinengutenAppetit»,sageichzumSchlussunderhalte alsAntwortwiedereinpaarLaute.Weilsiemirdabeizu-
winktunddanachdieTürschließt,geheichdavonaus,dass sie AufWiedersehen gesagthat.
ÜberdenKastanienplatzkommeichaufdenFarnweg,an dessenEndeichrechtsaufdenSilberpappelwegabbiege.Das HausganzvornerechtsanderEckeistmeinnächstesZiel. DorttreffeichzumerstenMaljemanden,derjüngeralsich zuseinscheint.Ohnemichzugrüßen,gibtermirdieleere Boxundnimmtdievolleentgegen.DieTürgehtsoschnell zu,wiesieaufgegangenist.
FürdiedreizehnteLieferungbraucheichnichteinmalbis zurTürzulaufen.AufdemBalkondesHochparterresam Eichenweg29sitzteineFraumitschulterlangengrauenHaarenundruftmichzusich.
«Dubistfrühdran»,meintsie.«DeinVorgängerkam immererstumhalbzwölfbeimiran.»
«IchkennedieGegend»,antworteich,obwohldaskein Grundist,weshalbmandieStreckeschnelleroderlangsamer zurücklegenkann.
«DeinVorgängerhatteschonMühemitrechtsund links.»
«Dassollteichgeradenochhinbekommen.»
«Bekommstduesauchhin,mirdieBoxhochzureichen?»,fragtsieundtrittandenBalkonrand.
IchmussmichdazuaufdieZehenspitzenstellenundmich mitdemBauchanderSeitenwanddesBalkonsanlehnen,damitichnichtdasGleichgewichtverliere,dochesfunktioniert. DasGanzehatmichetwasinsSchwitzengebracht,weshalb dieFraumireineZigaretteanbietet.
«Nein,danke»,lehneichhöflichab.«Ichrauche nicht.»
«Wiesonicht?»
DieseFrageüberraschtmich.Normalerweisebrauchtman sichdafürnichtzurechtfertigen.Mirkommtkeinevernünfti-
geAntwortindenSinn,alsosageichihreinfach,dassich allergischaufNikotinbin.
ImAutoschaueichaufderKartenachmeinemnächsten Ziel.Ichmusszweimalhinsehen,dennaufdemBlattsteht dieAdresse,anderichdieerstensechzigJahremeinesLebens verbrachthabe: Magnolienweg32.
Nachdem,wasvorfünfzehnJahrengeschehenist,habeich mirgeschworen,dassichdasHausniewiederbetretenwerde. Umehrlichzusein,willichnichteinmalindieNähedes Hauses,dasmeinVaterinden30er-Jahrenerbauthat.
DerWegzumHausführtübereineZufahrt,diegerade breitgenugist,dasssieeinAutobefahrenkann.Jahrelangbin ichsieohneProblemenachhintengefahren,dochheute traueichmichnicht,obwohlderMazda2daskleinsteAuto ist,dasichjebesessenhabe.IchparkedeshalbamStraßenrand.
MeineFingerzitternunkontrollierbar,obwohlichdas Hausvonhierausnochnichteinmalsehenkann. Reißdich zusammen,befehleichmir,wasdasZitternnurverschlimmert.
FünflangeMinutenverweile ichhinterdemSteuer,bevor ichGeneralWidmersernsteMienevormirseheundausdem Autosteige.MitderEssensbox indenHändenlaufeichschnell denWegnachhinten.IchkommeaufdenkleinenVorplatz,um denzweieinzelneHäuserundeinDoppeleinfamilienhausstehen.DieNummer32istdaseinzige,dasaufderrechtenSeite liegt.DassderVorgartennunauslauterSteinenbestehtund nichtmehrmitgrünenBüschenbepflanztist,wiezumeiner Zeit,nehmeichkaumwahr.
MeinBlickiststarraufdieTürgerichtet.Ichbetätigedie Klingel.DurchdiealtenWändehöreichihrenTonundfindemichineinerErinnerungwieder … Immerwiederklingleich,ohnedasssichetwastut.VoninnenhöreichkeineSchritte,dochdenSchattenseheich durchdasMilchglasderHaustürgenau.
RegungslosverharrteranOrtundStelle.Erscheintin meineRichtungzublicken.Ichdrückenochimmeraufden KnopfderKlingelundhörediesennervigenTon.
«Kevin!»,rufeich.NunklopfeichandieTür.«Mach auf!»
AberderSchattenbleibtstill.Ichblickemirüberdie Schulterundsehe,wiederzwölfjährigeMichaelvonder RückbankdesAutoszumirherschaut.
IchwinkeihmzuundzwingemireinLächelnauf,docher weißbereits,dassetwasnichtstimmt.Ichdrehemichzurück, klinglenocheinmalundschauedurchsGlas.
DerSchattenrührtsichnicht …
«Hallo»,holtmichdieStimmeeinesMannesindieRealität zurück.IchstreckeihmdieEssensboxentgegen.Ernimmtsie anundläuftdamitzurückinsHaus.DieTürlässteroffen, sodassichfreienBlickaufdieTreppehabe,dieaufderlinken SeiteindenerstenStockführt.
DenAnblickertrageichnicht.IchsenkedenKopfund warte.KaumstehtderMannwiedervormir,nehmeichdie leereBoxentgegenundlaufeohneWortedavon.Erstalsich sicherimAutositzeunddieTürhintermirgeschlossenhabe, atmeichauf.
Schnellweghier,denkeichundfahrezurnächstenAdresse,diesichnureinpaarHäuserweiterbefindet.
AufderrestlichenRundebegegneichkeinenbösenGeistern mehr.IchbringedasEsseneinerEx-Jugoslawin,dieineinem HausmitgutgepflegtemGartenwohnt.Ichkennesievom Sehen,weilsieschonseitAnfangder90erhierwohnt.Unterhaltenhabeichmichnochniemitihr,vorallemauchdeswegen,weilsienochimmerkeinDeutschspricht.
ImnächstenHausnimmteinMannmiteinemärmellosen weißenUnterhemddasEssenentgegen.ImHintergrundhöre ichFangesängeunddieaufgeregteStimmeeinesKommentators.
FürdienächsteLieferungandieUlmenstraße11mussich wiedereineschmaleZufahrtnachhintenlaufen,ähnlichwie beimeinemaltenHaus.EinHerrmitholländischemAkzent undeinembreitenLächelnimGesichtgrüßtmich.Erträgt eineKochschürze,wasmichstutzenlässt.
«Ah,vielenDank!»,sagter.«HabenSieHunger?»
Ichbinzuaufgewühlt,umauchnuranEssenzudenken, weshalbichdenKopfschüttle.
«IchhabeHamburgeraufdemGrill.»
«Nein,danke.»
«DasnächsteMal»,meinter,nochimmerschmunzelnd, undgibtmirdieleereEssensboxzurück.
IchbiegeindenDornbuschwegabundwerdevoneinem lautenBellenerschreckt,alsichdienächsteKlingeldrücke. VoninnenhöreicheineweiblicheStimme,dieversucht,das Bellenzustoppen.AlsdieTüraufgeht,belltderHundnoch immer.
«Tutmirleid»,sagtsieundnimmtdieBoxentgegen.
«Machtnichts.»
«SeitmeinerHüftoperationkannichnichtmehrrichtig laufen,wodurchsiezuwenigBewegungbekommt.»
«SiehabendocheinengroßenGarten»,sageich,weilich ihnbeimHeranfahrengesehenhabe.
«DasGrasistzuhoch,undderRasenmäherwillnicht mehranspringen.»
Bevorichetwasantwortenkann,läuftsiedavonund bringtmirdieleereBoxwieder.DasBellenistleisergeworden.
«VielenDank»,sagtsieundschließtdieTür.
DasistLieferungNummer18gewesen.Nurnochzwei Häuserbleibenübrig,undesistersthalbzwölf.AmDornbuschweg28bringeichdieMahlzeitindendrittenStockzu einemItalienernamensMario.Ichgrinseunddenkemir,dass ichLuigifragenmuss,obdasseinBruderist.
UmzurletztenAdressezukommen,fahreichdenDornbuschwegentlangbiszumLindenweg.Ichbiegerechtsab, fahreanzweiHäusernvorbei,dieichbereitsbelieferthabe –dasEhepaar,dassichdieMahlzeitenteilt,unddieKatzenlady –,nehmedenZypressenweg,denichebenfallsbereitsabgefahrenbin,nurumdannanderUlmenstraßenachlinks abzubiegen.
DieUlmenstraße2istdasersteHauslinksanderEcke.Es wirdvoneinerhüfthohenMauerundeinerknappzweiMeterhohenHeckeumgeben.IchparkeinderkleinenEinfahrt ausKies,nehmedieletzteBoxundlaufezurTür.
«Washabenwirdennda?»,sagtdieFrau,nachdemsie dieTürgeöffnethat.DamitmeintsienichtdasEssen. «IhrEssen»,antworteich.
« Ihr Essen?»,wiederholtsieundseufzt:«Wirsindim selbenAlter,lassenwirdieHöflichkeitsfloskeln.» Ichnicke.
«GanzschönheißfürdieseJahreszeit»,meintsieund siehtsichdenblauenHimmelan.
EsistschonMitteOktoberundja,imVergleichzumeiner Jugendistestropischwarm.AberindenletztenJahrenistes öftersvorgekommen,dasseszudieserZeitnochfünfzehn Gradwarmwar.
WährendmeinerkurzenmentalenAbwesenheithatdie FraudieoberstenbeidenKnöpfeihrerBlusegeöffnet.
«BistduderneueLieferant?»,fragtsiemich. Ichnickewieder,weilesmirdieSpracheverschlagenhat.
«Gut»,sagtsieundzwinkertmirzu.
IchstreckemeineArmeausundbieteihrdieEssensboxan.
«BeidirgehtesnurumsGeschäft»,bemerktsie.«Gefälltmir.»
SienimmtdieBoxentgegenundbringtsiehinein.Alssie außerSichtweiteist,atmeichdreimalhastigdurch.Siemacht michverlegen,wasichnichtgewohntbinundweshalbich michmaßlosüberfordertfühle.
«Bismorgen»,sageich,alssiemirdieleereBoxübergibt, ummöglichstschnellwegzukommen.
«Ichkanneskaumerwarten.»
DieleerenEssensboxenliefereichkurznachzwölfUhrim AltersheimUnterderLinde ab.VonGeneralWidmerist weitundbreitnichtszusehen,dochLuigisitztnochimmer – oderwieder – direktvordemEingang.AlsdieArbeit erledigtist,lasseichmicherschöpftnebenihnaufdieSitzbankfallen.
«Dabistduselbstschuld»,sagterundnimmteinentiefenZugseinerMarlboroRot.
«IchkönntedasselbesagenüberdeineEntscheidung,Ferrari-Fanzuwerden.»
«Wageesjanicht»,warntmichLuigi.
WiealleItalieneristereingroßerFormel-1-Fanundfeuert dabeinatürlichdieScuderiaFerrarian.Willmanihnaufdie Palmebringen,dannmussmanihnbloßfragen,wanndas TeamausMaranellozumletztenMalWeltmeistergeworden ist.
«DaswarkeineEntscheidung»,erklärterseinFan-Dasein.«DasistPflicht.»
Ichbeschließe,dasThemazuwechseln.«Duhastmirnie großvondeinerFamilieerzählt.HastduGeschwister?»
«Dasweißtdudoch.EinengroßenBruder.»
«Ichglaube,ichbinihmheuteaufmeinerRundebegegnet»,sageichundbeobachteLuigisirritiertenBlick.«Ich glaube,seinNameistMario.»
LuigiverdrehtdieAugen.EristdieMario-und-Luigi-Witzelangsamgewohnt.
«Lassmichraten,erhataucheinElektromobil?»,fragt er.
«Natürlich»,antworteichlachend.«Wiewolltihrsonst Mario-Kartspielen?»
NachmeinemSpruchsteheichschnellaufundbegebe michinRichtungAuto.
«WennichzwanzigJahrejüngerwäre,dannwürdeichdir hinterherrennenunddichverdreschen!»,höreichihnsagen.
«WäreichzwanzigJahrejünger,bräuchteichnichtwegzulaufen.»
VorzwanzigJahrenhättemirdieseLiefertournichtsausgemacht,undichhätteeinfachweiterinRuhemeinerRoutine folgenkönnen.DochauchmitmirgehtdieZeitnichtschonendum.
ZuHauselasseichmichaufdasSofafallenundschlafe innerhalbvonSekundenein.MeinSchlafistvollerverschiedenerTräume,diejedochkeinenZusammenhanghaben. WahrscheinlichsindesheuteeinfachzuvieleEindrückeauf einmalgewesen,diemeinHirnnunverarbeitet.
DasKlopfenanderTürwecktmich.ImRaumistes dunkleralszuvor.MeineUhrzeigtmirsiebenan. Dasnenne ichMittagsschlaf,denkeichmirundrichtemichauf.
MichaelkommthereinundsiehtmichaufdemSofa. «Wieichdichkenne,hastdunichtszuMittaggegessen.Etwaszukochenhastduauchnicht,weilduamMorgenkeine ZeitzumEinkaufenhattest,oder?» Ichnicke.
ErhälteinePlastiktüteindieLuft,indersichzweiverpackteKebabsverstecken.
«Waswürdestdunurohnemichmachen?»
IchwürdenichtarbeitenundhätteamMorgenZeitgehabt,einkaufenzugehen,antworteteichinGedanken,bin aberzumüde,dieWorteauszusprechen.
BeimEssenfragtmichMichaelübermeinenerstenArbeitstagaus.ErscheintüberdasmeisteBescheidzuwissen.Er weiß,dassLisaWidmerdenSpitznamen General hat,und
dassichdasUnterfeldquartierzugeteiltbekommenhabe,ist ihmebenfallsbekannt.
Ichfragemich,obihmbewusstist,dassunseraltesHaus amMagnolienweg32TeilmeinerRundeist.Ersprichtmich jedochnichtdaraufan,weshalbauchichihmnichtsdavon erzähle.
NachdemEssenlehneichmichinmeinemStuhlzurück undatmetiefaus.IchbinmüdeundspüremeinenRücken vomständigenEin-undAuspackenderEssensboxen.Ichbin angeschlagen,psychischundphysisch,undgenaudasistauch Michaelaufgefallen.
«DarfichmeinemLieblingsgroßvatereineFragestellen?»,beginnter,undichbinzulangsam,ihnzuunterbrechen.«Jetzt,woduwiederarbeitest,wäreesvielleichtnicht schlecht,sichwiederetwasunterdieLeutezumischen.»
«IchbinunterLeuten.»
«EinmalinderWochedeinedreibestenFreundezusehen,zähltnicht.Undichzähleauchnichtdazu.»
«IchwilldenTöpferkursnichtmachen.»
«Dassollstduauchnicht.IchhabeeheranOnline-Datinggedacht.» Scheiße,denkeichnur.«Ichhabefürdich schoneinProfilgemacht.Esistganzeinfach.»
ErnimmtmeinSmartphonevomTischundtipptdarauf herum,alsobesseineigeneswäre.Errutschtmitseinem StuhlanmeineSeite,damitichmitihmzusammenaufdas Displayschauenkann.
Ichbinzukaputt,ummichgegenmeinenEnkelzuwehren,alsohöreichihmzuundnicke,alserfragt,obichalles verstandenhabe. BesseralseinTöpferkurs,redeichmirgut zu,weilichdieApplikationaufmeinemSmartphonejanicht unbedingtnutzenmuss.
«Ichweißnicht,obdasGroßmuttergefallenwürde», sageich,nachdemMichaeldasSmartphonewiederaufden Tischgelegthat.
«GroßmutteristseitzehnJahrentot»,antworteter. «Duhastlangegenuggetrauert.»
Habeichdas?Kannmandasüberhaupt? Ichweißdie AntwortnichtundwillmirdarübernichtdenKopfzerbrechen.
Michaelverabschiedetsichumhalbneun,undichgehesofortinsBett.ObwohlichamNachmittaggeschlafenhabe, fälltesmirnichtschwer,einzuschlafen.Immerhinmussich auchmorgenerholtseinfürmeineRundedurchdasUnterfeldquartier.
«Ich mache jetzt Online-Dating», wechsle ich abrupt das Thema, weil ich erst morgen wieder an die Arbeit denken will.
«Inline-Skating?», fragt Frank, der an seinem Hörgerät herumfummelt.
«Online-Dating», sage ich lauter, sodass sich ein paar Gesichter von den anderen Tischen in meine Richtung drehen.
«Weshalb?», fragt Peter, einer der beiden Verheirateten am Tisch.
«Weil Michael findet, dass ich mich wieder unters Volk mischen soll, und weil ich zu müde war, mich dagegen zu wehren.»
«Online-Dating ist nichts für alte Männer», sagt Peter.
«Ich bin nicht alt», widerspreche ich und präsentiere meine Muskeln.
«Du musst mehr Vollmilch trinken», meint Luigi. «Fettarme hast du schon!»