Myriam Russo

Myriam Russo
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Korrektorat:UlrikeEbenritter FotografieIdaheim:HausanderLetz,1975,JürgDavatz, FOT1.19.32-53,LandesarchivdesKantonsGlarus
ÜbrigeFotografien:MyriamRusso
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ISBN978-3-7296-5200-2
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DieNamenderKinder,derLehrerunddesPfarrerswurdengeändert.Die NamenderNonnenunddesFräuleinMariejedochentsprechenihrenrealen Namen.
DersilberneCitroën
LangsamfährtdersilberneCitroënüberdengrauenKies.Ein hellknirschendesGeräuschentsteht,wenndieSteinchenzusammengequetschtunddavongespicktwerden.Ausdem leichtgeöffnetenAutofensterseheichdieBlätterdergrossen BuchewieeinegrüneLeinwandanmirvorüberziehen,die Schaukelwippe,unserGiigampfi,mitihrenroten,verwittertenSitzflächen,stehtstillaufdemKiesplatzunddahinterdas Haus,grossundmächtig.DieAbendluftströmtdurchden Fensterspaltherein,angefülltmitdemherbenGeruchdes nahegelegenenStalles.Vertrautundabstossendzugleich.Still istes,auchvomStallher,unseremRossgaden,dringtkein Geräuschnachdraussen.UnddieKinderimHaus?Kein Schreien,keinLachen,keinLärmen.Wieruhiggestellt,das Haus.
NeugierdevermischtsichmitUnruhe.VierlangeWochenin SüditalienbeimeinerVerwandtschaftliegenhintermir.LangeTagedesNichtstuns,desVerwöhntwerdens,desHerumliegensimSchattenbunterSonnenschirmeundinderKühle derabgedunkeltenZimmermitihrenblitzblankenMarmorböden.EineZeitderausgedehntenBesuchebeiOnkelnund TantenmitUnmengensüssenGebäcksundebensolchenKaffees,mitKüssenundDrückenundFragenundLachen.Nicht dassdasimmerangenehmgewesenwäre.DasMädchenaus derSchweizverstehtnichtalles,dieSpracheistihmfremd gewordenunddaslauteRedenungewohnt.Esstehtvielfach nurdazwischendenlauten,gestikulierendenVerwandten,die esimmermalwiederherzenunddrücken.Odermästen. DennwennEssenaufgetischtwird,wirdesaufgegessen,und istderTellerleer,wirderungefragtwiedergefüllt.Auch
wennderKindermundsichverschliesstundderKindermagen sowieso.Waskümmert’ sdieTante,EssenistLiebeund Zwang,unddavonkanneinKindgarnichtgenugbekommen.SoschenktmirauchderNonno,gestrenger,aberliebenswürdigerPatriarch,beidenausgedehnten,üppigenMittagessenunterZitronen-undOrangenbäumenimmermal wiedereinenSchluckRotweininmeinGlaseinundmeint, miteinemPfirsichschnitzversehenspüremandenWeingar nicht,ichsollenurtrinken.DentrümmligenKopfspüreich dannaberschon,woraufmichdieTante,kopfschüttelndund mitdemNonnolautschimpfend,indasabgedunkelteund kühleWohnzimmerführtundmichbehutsamfüreinenkurzenMittagsschlafaufdasSofalegt.
EssindgeräuschvolleVormittageinderherrlichduftenden KüchebeiderNonnaunddenTanten,woderSugostundenlangleisevorsichhinköcheltunddasSommergemüseinder PfannebrutzeltundjedeGestikderEssenszubereitungwortreichundlautmalerischbegleitetwird,woesklappertund scheppert,wodaskleineMädchenausderSchweizfreudig zwischendenbuntenTantenröckenhinundherrenntund immerwiedermalkleineBissenzumProbierenbekommt.
AufregendeundgeheimnisvolleMomenteimabgedunkeltenTantenzimmer,wodasMädchenaufEntdeckungstour gehtundalteFotosundsonstigeErinnerungsstückebetrachtet,abernichtnurdas.DagibtesaucheinBuch,einfranzösisches,dasnichtfürdasMädchengedachtist,abereswirdgeradezudavonangezogen,blättertneugierigundaufgeregt darinundliestSätze,dieesnichtversteht,wohlaberdiebeigefügtenZeichnungen,diedasBlutindenKopfsteigenlassenunddieFantasieanregen.EinPiratenschatzderErwachsenenweltsozusagen,dersichmiteinemMalöffnetund funkelndeDiamantenzumVorscheinbringt.DierotenWangenglühenbeiderleiderstetszukurzenLektüre,denndas
Mädchenwirdnurungernalleingelassenundimmerwieder zurückindieKücheoderindenSalottogerufen.
LangeWochenderunbekümmertenTageamMeeresstrand.Diesesalzige,sonnigeFreiheit!EineSonnewieein Ofen,hellundbrennend.DerDuftderfrischgebackenen Zeppole,dievoneinemgutgelauntenundbraungebrannten Strandverkäuferlautangepriesenwerden,istunwiderstehlich, unddieTante,wieimmerumunserleiblichesWohlbesorgt, mussdasPortemonnaiezückenundunsdiesessüsseundfettigeGebäckkaufen.DanachmüssenwirjedochzweiStunden warten,bevorwirwiederinsWassergehendürfen,dennder Magenistvoll,undesistnichtauszudenken,waspassieren könnte,würdenwirgleichwiederinsWasserspringen,nämlichdasswiraufdendunklenMeeresgrundniedersinkenund niewiedernachobenkommenunddarumelendiglichertrinkenwürden,weildieTantejanichtschwimmenkannund unsalsoauchnichtrettenkönnte,unddasgäbeeinGeschrei undeinGezeter,Mammamia!Alsogibtsieunsjeein100Lire-Geldstück,damitwiranderJukeboxderStrandbardie neuestenItalo-Hitsanhörenkönnen,mitderMahnung: «Miraccomando,nonandatenell’ acqua!»Wirversprechen esundrennenlachenddavonRichtungBar.
UndsoverstreichendieSommerferienineinerendloslangenReihevonsonnigenundunbekümmertenSommertagen, dieZeitlöstsichunterderHitzeauf,esgibtkeinMorgen undkeinGestern,nurdasMeer,denStrandmitdemhellen GeschreideritalienischenKinder,dieimWasserherumtollen,unddasdahinplätscherndeGeplauderderMütterüber KinderundKüchevonLiegestuhlzuLiegestuhl.
LetzteSekundennoch,bevordasAutovordergrossen, schwerenHolztürstehenbleibtunddasKnirschenverstummt.Flavia,dieliebsteFreundinmeinerMutter,stelltden
Motorab,ziehtdieHandbremsean,schautzuerstnach rechtszumeinerMutter,dannnachhintenzuunsundsagt: «Siamoarrivati.»Ja,wirsindangekommen.ImIdaheim.
DasIdaheim.ImLetz13.EingrossesHerrschaftshausdes 17.Jahrhunderts,anderhistorischenLetzimauergelegen, wohl1604durchSimonMüller,LandesbaumeisterundLandeshauptmann,erbaut.EindreigeschossigerMassivbauauf nahezuquadratischemGrundrissmitgiebelständigerHauptfassadenachSüdenundGliederunginAchsenundGeschossen.SteildachmitFlugsparren,bemalteEckbossen.
DieUrenkelindesersteneidgenössischenGeneralsFritz NiklausvonBachmann(1740– 1831),IdavonMüller, schenktedasHausdemTagwenNäfels(Bürgergemeinde)als Hortfürarme,elternloseKinderderTagwenbürger.Idavon Müllergründete1918dieStiftungIdaheimundliessim HerrschaftshauseinKinderheimeinrichten.1
DersilberneCitroënrolltlangsamwiederdavon.Ausdem heruntergelassenenFensterwinktunsunsereMuttermitihremelegantenschwarz-weissgepunktetenFoulardzu,ich weiss,sielächeltstummdieTränenweg,dannbiegtdasAuto umdieEcke,undderaufgewirbelteStaubsenktsichlangsam wiederaufdenKiesweg.DieKinderaugenwollenumdie Eckeschauen,sehenabernurdiegrosseEingangstür.Und wiederistesruhig.LangsamschreitenmeinBruderundich mitunserenkleinen,braunenKoffernaufdiewuchtigeHolztürzu,undich,diegrosseSchwester,hebevorsichtigden schmiedeeisernen,ringförmigenTürklopferan.NurnochwenigeAugenblicke,dannwirdderEisenringhinunterfallen
1 Aus:KantonGlarus,BildungundKultur,20.11.2018.
undseinschwererSchlag,kurzundscharf,einenmetallenen SchlusspunktunterdenSommersetzen.Drei,zwei,eins.Ein KnallunddannRuhe.Voninnennähernsichlangsam SchrittedemEingangzu,dannöffnetsichdieTürund SchwesterTheofridastehtimTürrahmen.
«Ah,daseidihrja!»,begrüsstunsSchwesterTheofridaund schliessthinterunsdieTür.«Ihrkönntschonmalhochin eureZimmergehenunddortdieKofferhinstellen.Dann kommtabergleichwiederhinunterindieStube!»
WirnickenundrennenmitgerecktemHalsundspitzen KniendieTreppenhoch.UnsereSchrittehallenimTreppenhaus.
Esistnunso,dassdasZimmermeinesBrudersundmeines sichnichtaufdemgleichenStockbefinden,denndasKinderheimistkeinBienenhaus,indemallesdurcheinanderbrummt und-wuselt,sonderneingeordneter,dreigeschossigerBau undjedesStockwerkeinklardefinierterLebensraum,dereinerbestimmtenGruppevonKindernzugewiesenist.MädchenundJungensindräumlichmehrheitlichgetrennt,denn dasHeimpflegtdieGeschlechtertrennung,wieesauchinder DorfkircheUsusist.
BeginnenwirmitdemerstenStock.Hierbefindetsichder Wohn-undEssbereich,fürunsdasHerzstückdesHauses, denndarinverbringenwirdiemeisteZeitdesTages.Wer jetztmeint,derWohnbereichseisoetwaswieeinkuscheliges WohnzimmermitSofas,Couchtischchen,Teppichen,TeddybärenundsonstigenknuddeligenWohlfühl-Accessoires, derirrt.NichtsvonalledembefindetsichinderStube,nur StühleundTische,andenengelernt,gearbeitetundauchgespieltwird,einebrauneBücherwandmitBüchernundSpielenunddasKruzifixüberderEingangstür.Kommtdazu,dass dersogenannte«Wohnbereich»indreiBereicheunterteilt ist,diewiederumklardefiniertsindunddiejemiteinerZiehharmonikatürvoneinanderabgetrenntwerdenkönnen,wodurchdreiabschliessbareZimmerentstehen.Daskleinste
ZimmeristdasjenigefürdieKleinstenunteruns,dieGfättigoofe.FürsiesteheninKisten,schönangeschrieben,SpielsachenausHolzundbunteBüchleinzurVerfügung.Dortkönnensiesichvertun,dieKleinen,könnenspielenundbäbele undmüssenannichtsdenken,ausserdaran,rechtzeitigaufs WCzuspringenunddenSchnudermitdemTaschentuch abzuwischen.Sounscheinbarundharmloseserscheinenmag mitseinenkleinenHolztischchenundHolzstühlchen,ordentlichaufdemParkettbodenhingestellt,diesesZimmerist zueinembestimmtenZeitpunktdesTagesdasbegehrteste ZimmeraufdiesemStock,nämlichabendsnachdemAbendessen.DannbugsiertmandieKleinenvorsichhinbeziehungsweiseausdemWeg,dennmanwillderErstesein,der dasZimmerbetrittundsichvordemgrossenWandschrank imkleinenZimmerhinsetzt,vordiesemdunkelbraunenMöbel,aufdessenmittleresSchränkchennunallestarren.TagsüberistbesagtesSchränkchenabgeschlossenmiteinem Schlüssel,denSchwesterTheofridasicherunterihremschweren,schwarzenNonnengewandhütetwieihrenAugapfel. WennnunalsodasAbendessenvorbeiundesZeitgeworden istundalleKleinenundauchdieGrossenendlichRuhegegebenundsichordentlichindieReihehingesetzthaben,guckt mangebanntundgespanntaufdierechteHandderSchwesterTheofrida,dielangsamunterihrerSchürze,ihremSkapulier, verschwindet,umvondortindiedarunterversteckteInnentaschezugreifen,wosichderSchlüsselzurgrossenWelt befindet.SchwesterTheofridaöffnetalsodasmittlere Schränkchenabendsumzehnvorsieben,undzumVorschein kommteingrosser,schwarzerFernsehapparat.DiesesWundergerät,verstecktimSchrankdesKleinstenzimmers,wird dannaufeinemBrettnachvornegezogen,undwehe,jemand schwatztnochoderrutschtaufdemSitzherum,dannbleibt derBildschirmschwarzundderTonaus.Alsokneiftman
demNachbarskind,dasnochschwatzt,indenOberschenkel, «aua!»,aberdannistRuhe,undSchwesterTheofrida drücktendlichaufdendunkelgrauenKnopf,undderFernsehergehtan.DieWeltderbewegtenBilder,derTöneund Formen,eineWeltjenseitsdesKieswegsundderbraunen Koffer,eineWeltdesLächelnsundderVerlockungfegtin unsereStubewieeinWirbelwind.
DerRaum,derandaskleineZimmergrenzt,istdieBubenstube.Ganzwichtig,dasshierallesseineOrdnunghat, unddadieBubenihreliebeMühemitderOrdnunghaben, bekommensieebendasZimmer,daseingeklemmtistzwischendemKleinkinderzimmerunddemMädchenzimmer.So könnensiesehen,wiemandieTischeundStühleordentlich anordnetundmitdemLumpensauberabwischt.Dakönnen siewaslernenundzeigen,dasssiekeineBubismehrsind,die dieSchnudernasenierichtigsauberkriegenunddieFingernägelsowiesonicht.
DieMädchen,denendasletzteDritteldiesesWohnbereichszugeteiltist,lesenoderschreibenmeistandenTischen, denndieNägelsindsauberunddieHaareschönnachhinten zueinemZopfoderauchzweiengekämmt,undselbstdiewildenFransensindmitSpängeliinSchachgehalten.
WerdenbeideZiehharmonikatürengeöffnet,vereinensich diedreiZimmerzueinemgrossen,offenenRaum,derluftig undhellundeinladendwirkt.EinGemeinschaftsraumvoller Möglichkeitenkönnteessein,dochmeistensbestimmtdie HeiligeDreifaltigkeitderIdaheim-OrdnungdenAlltagvon unsKindernundweistunsdamitindieSchranken,diewir Kinderangeblichsodringendbrauchen.
DasEsszimmer,aufdemgleichenStockliegend,istmitseinensechsrechteckigen,graugrünenTischenHortderhungrigenKindermägen.VordessenEingangversammeltmansich zurEssenszeitmiteinemMordsappetitinZweierkolonnen
zumAusschankvonlauwarmemTeeundallerArtenvon Kartoffelgerichten,immerbegleitetvonlampigem,essiglastigemgrünemSalat,hergestelltundangerichtetindererdgeschossigen,geräumigenKüchevonderstetsübellaunigenund rotbäckigenSchwesterPosidia.DasEssenwirdvonderKüche ausmittelseineskleinen,internenKüchenliftsinsEsszimmer heraufbefördertundingrossen,senfgelbenSteingutschüsseln durchSchwesterTheofridaundFräuleinMarieserviert.Hier wirdmanverköstigt,dreimalamTag,mitTischgebetund strengerSitzordnung,undwemdasEssennichtpasst,der bleibtsitzen,bisespasst,undwenn’ sauchStundendauert. MeinHungeristjedochstetssogross,dassesimmerpasst. UndaufdiesemStockgibtesnochdiesesZimmer,das «Büro»,zwischenStubenundEsszimmergelegen.HierbefindetsichdasReichderSchwesterOberin,hierregiertsie mitstrengerHandüberdasVolkderIdaheimler,hier,andieserTür,gehtmanschnellundmöglichstgeräuschlosvorbei, dennmanmöchtebeimVorbeigehenkeineAufmerksamkeit aufsichziehenoder,imschlimmstenallerFälle,garhereingerufenwerden.InsBürogehtmannur,wennmanetwasboosged,etwasangestellthat,wennmanalsobeiirgendwelchen Streichen,UnterlassungenodersonstigenÜbeltatenerwischt wordenist.DannstehtmanmitgeneigtemKopfundklopfendemHerzenvorderSchwesterOberinundwartetaufihr Urteil.DiePriorin,dieersteSchwesterimHaus,istvoneiner beeindruckendenkörperlichenFülleundeinemsofrischen Teint,wieihnsonstnurKurgästeinGaisbeiihrerHeimfahrt haben.FülligundmächtigsitztsiehinterihremSchreibtisch aufihrembequemenBürostuhlundziehtdieunangenehme, drückendeStillegenüsslichindieLänge,denBlickruhigund gelassenaufdenÜbeltätergerichtet.DasBüro,einZimmer wieeinGerichtssaal,dieWändeabgedichtet,dasFallbeilparat,dasUrteilbeimEintrittdesÜbeltätersbereitsgefällt:
schuldig.Begründung:«DerliebeGottsiehtalles.»Beider UrteilsverkündungwirdderAngeklagteniebegnadigt,eswird keinAugezugedrückt,nurdasdickeNotizbuchverschwindet inderunterenSchubladeunddieweissen,weichenHände faltensichwiezumAbendgebet.Reuig,mitrotemKopfund heissenOhren,verlässtmannacheinemvernichtendenPlädoyerderoberstenSchwesterdasBüro,einStossgebetzum Himmelschickend,diealtePetzeverfluchend.Dannüberlegt man,wiedenndasmöglichgewesenwar,dassderliebeGott justindemMomentzugeschauthatte,alsmanderMarianne andenZöpfengezogenundinderBäckereidenKaugummi geklauthatte.Niemandwarweitundbreitzusehengewesen, alsokonnteesauchniemandgesehenhaben.Abereben:Die KinderlogikhinktimmerhinterderhimmlischenOrdnung hinterher.
«Endlichbistduwiederda!»Marcella,meineFreundinund Herzensschwester,renntaufmichzuundumarmtmichstürmisch.
MitMarcellaverbindetmichseitAnbeginneineschwesterlicheFreundschaft,auchsieistItalienerin,auchsieistmitihrenElternindieSchweizemigriert,wodierosaroteBlasezusammenmitdendarineingepacktenTräumengeplatztist undsiesichunverhofft,zusammenmitihrerälterenSchwester,hierimIdaheimwiederfand.Niesprechenwirüberihre VergangenheitinItalien,spürenjedocheinestummeVerbundenheit,diesichwährendderganzenZeitmeinesAufenthalts hierinNäfelsnichtauflösenwird.
DieanderenKinderdrehenraschdieKöpfenachhinten, umsieebensoschnellwiedernachvornezudrehen,dorthin, wodasschwarzePferdFurygeradeReissausnimmtund schnaubendindiestaubigeLandschaftdavongaloppiert.
Nichtablenkenlassen,denkensie,sonstgibt’ swiederÄrger undSchwesterTheofridadrohtwiedermitihremSkapulier.
NunbinichalsowiederangekommeninmeinerStube, meinemSchlafsaal,beimeinerFreundin,beidenanderen MädchenundBuben,inmeinemHeim.Nunfühltsichdie Luftwiederkühlan,vielzuvielPlatzistda,einPlatz,der hallt,dersichausweitet,dersichmischtmitvielenStimmen undGerüchen,abervorallemmitvielkalterLuft,diemein GesichtstreiftundindenNackensinkt.Undniewiedervon dortweicht.Diemichsehnsüchtigmachtnachstrandwarmen FüssenundSandindenverstrubbeltenHaaren,nacheiner Luft,sosalzigundwarmwiebeimFischhändlerzurMittagszeit,wennerdieCalamariunddieGamberiimheissenÖl hüpfenlässt:«Vuoiassaggiare,bellabambina?»Sobleibt nurdieDecke,diemanbisüberdiekalteNasenspitzezieht. Vondortmöchtemangarnichtmehrherauskriechen,dort möchtemandienächstenJahreverbringen,warmeingepackt undimDunkeln,bismanendlicherwachsenistundden KieswegumdieEckeverlassenkann.
DerzweiteStockgehörtdenMädchen.Hierbefindensich nebstdenWasch-undToilettenräumenundderKammer desFräuleinMariezweiSchlafzimmer,indenenjesechs MädchenzwischenfünfundsechzehnJahrenuntergebracht sind.DieBettensindsoangeordnet,dassjeweilszweiMädchenentwederparallelgegenüber-oderhintereinanderliegen. SchlammgraueHolzwändeunterteilendenRuheraumund schaffensofürjedesMädcheneineArteigeneSchlafecke. Hierdürfenaufdemeinfachen,schmalenHolzregal,dasüber demKopfendedesBettesangebrachtist,Bücheroderkleine Sachenaufgestelltundaufbewahrtwerden.DiePuppesitzt breitbeinignebendemTeddybären,unddieseristanden BuchrückeneinesRomansvonFedericadeCescoangelehnt.
AneinemNagelhängtderfluoreszierendeRosenkranz,der nachtsunterderDeckefürvielzukurzeMinutendenTagin dieNachthinüberrettet.DasKinderbettwirdamMorgen nachdemLüftenmitdemLeintuchstraffbezogenundmit derDaunendeckeunddemKissenordentlichbedeckt.Und sobleibtes,nunmehrunangetastetundglattgestrichen,den ganzenTagüber,bisesZeitwird,wiederzuBettzugehen. «NichtdassmirjemandtagsüberinsZimmergehtunddas schöneBettwiederdurcheinanderbringt»,sagtdasFräulein MariejeweilsmahnendvordemFrühstück.
SchautmanausdemFensterdesSchlafsaalshinaus,erblicktmandiegrüneKuppeldesGlockenturmsmitseinen grossenZiffernblätterndermächtigenDorfkirche,diedem SanktHilariusgeweihtist.EristmitSanktFridolineinerder beidenHauptpatronevonNäfels.DieseBarockkirchespielt inmeinemLebenalsIdaheimlerinjederHinsichteinegrosse Rolle.ManmüssteauchnichtunbedingtausdemFenster
schauen,umzuwissen,dasssichinetwazweihundertMetern LuftliniederGlockenturmbefindet.Manhörtihn.Lautund hellläutenseinemächtigenGlocken,TagundNacht,alle Viertelstunden.DasAngelusläutenruftunseindringlichund ermahnendausdemBettundinsBettzurückundeinladend andenMittagstisch.Ohrenbetäubend,pompösundfeierlich schlägtamSonntagderKlöppelauchandiegrössteallerGlockenundlädtzurheiligenMesseein.Hellundfreundlich schlägtdieGlockezurFrühmessemitAnbetungundRosenkranz,klagendzurTotenmessemitProzessiondurchsDorf. DieGlockenderSanktHilariuskirchebegleitenmichdurch somancheNacht,wennderSchlafnichtkommenwill,weil dieKinderaugenund-ohreninderDunkelheitoffenund aufmerksambleiben,weilderTageinfachhinüberschwappt undmirkeineRuhelässt.ManerwartetallefünfzehnMinutendashörbareZeichenderVergänglichkeit,blossdieNacht willnichtvergehen,undsoliegtmanstilldaundweissnicht, wasmitderNachtanfangen.AberdieNacht,dieweiss,was miteinemanfangen.SiemachtAngst,breitetsichinjedem WinkeldesZimmersaus,legtsichaufdieDecke,versteckt sichunterdemBettundkriechtüberalldorthinein,wodas KindnichtgeradedieHanddraufdrückt.
DennichbinderHERR,deinGott, derdeinerechteHandfasstundzudirspricht: Fürchtedichnicht,ichhelfedir! (Jesaja41:13)
Ja,derliebeGott.DakannichdieAugennochsoaufsperren, ichseheihnnicht,denliebenGott,dermirinderNacht überhauptnichtlieb,sondernmächtig,unheimlichundunbegreifbarvorkommt.DamöchteichdochlieberdieMutter haben,diemeinerechteHandfasstundstreicheltunddie mirzuflüstert:HabkeineAngst,ichbinbeidir.Aberweder
amTagnochinderNachtistsiebeimir,sieistimfernen Zürich,eineArbeiterindesHörgeräteherstellersBommerAG, dieinsgelobteSchweizerlandgekommenistinderHoffnung aufGlückundWohlergehen,wohingegennureinharter ZwölfstundentagmitLötarbeitundToilettenputzenaufsie wartetundeinkleines,möbliertesZimmermitHerdplatte undLavabobeiderbiederenFrauMorf.Wennalsoweder derliebeGottnochdieMutterdieHandhält,werdann?
«Marianne,Marianne,wachauf!»IchstehedichtanihremBettundschüttlesieanderSchulter.«Ichkannnicht schlafen.»AufMarianneistVerlass.Sieistmirergeben.Also wirdsietun,wasichvonihrverlange.«ErzählmireineGeschichte!»
SobeginntMarianne,schlaftrunken,mitleiserStimme,eine ausdemSchlafaugenblickherauserfundeneGeschichtezuerzählenvonschönenPrinzessinnenundmutigenPrinzen, glänzendenundfunkelndenSchätzenundwunderbarenVerwandlungenineinerfernen,fernenWeltundZeit,wokein HauchvonFeindseligkeitundNiedertrachtdieMauerndiesesParadiesesdurchdringtundderSchleierderHarmonie undLiebenswürdigkeitsichhauchdünnundsanftaufdieblumentrunkenenTageundsternenbehangenenNächteniederlegt.Esdauertnichtlange,undmeineAugenwerdenschwer undversinkenindiesanfteundsamteneDunkelheitder Nacht.
DieMomente,indenenabendsderfluoreszierendeRosenkranzzumEinsatzkommt,sindleidervielzukurz.Nichtdass ichihnzumBetenbrauchenwürde – dastueichjazurGenügedenganzenTagüberundsonntagsinderKirche –, nein.DerRosenkranz,ganznahandieDeckenlampehochgehalten,dieFräuleinMarieunsnachBittenundBetteln –«Bitte,bitte,FräuleinMarie,nunuchchùùrz!» – fürein paarAugenblickenochanlässt,bewahrtfürkurzeMinuten dasaufgesogeneLicht,dasichbrauche,uminmeinemBuch einpaarSeitenweiterlesenzukönnen.TiefunterderDecke inmeinerkuscheligenHöhle,erhelltvomRosenkranz,geht dasAbenteuervonAnnaus DerroteSeidenschal weiter,und ichdichtdabei,jamittendrin,dieAugenweitgeöffnet,um denletztenhellenStrahlnocheinzufangen,dennichmöchte endlichwissen,wasnundiestrengeTanteAdeleimfernen ArizonamitderkleinenAnnimSinnhat,bisderRosenkranz seineStrahlkraftaufgibtundichdasBuchweglegenmuss.
DerRosenkranzwirdwiederanseinenNagelgehängt,und ichvergrabemeinenKopfinsKissen.ZumGlückistschon wiedereineViertelstundeverstrichen.
NungibtesaberauchNächte,dieabsichtlichunterbrochen werden,ausNeugierde,ausVerlangennachNäheundder LustaufVerbotenes,dieendlich,imSchutzederDunkelheit, ausgelebtwerdenwill.Dannwerdeichgewecktundander HandgenommenundineinfremdesBettgelockt.DieHand, diemichführt,istdieHandeineserfahrenenMädchens,das michoftnurinderNachtwahrnimmtundsichtagsüberlieberanderenzuwendet.AberinderNachtfälltdieMaskeund dasSpielbeginnt.Ichmachemit,ungelenk,befremdet, schamvoll,inderAngst,dassderliebeGottnunwiederalles sieht,auchwennesdunkelist,undesderSchwesterOberin berichtet,waswiederUnheilübermichbringenwird.Undso bleibtmeinSpielungeschicktundAnita,enttäuschtundverärgert,schicktmichwiederinmeinBettzurück.Beschämt verkriecheichmichunterdieBettdeckeundwarte,bisder AtemsichwiedervertrautanfühltundsichdieheissenWangenabgekühlthaben.Esistauchtraurig,dassdiesesgrosse Mädchen,dasfürmichschonfastwieeineFrauausschaut mitihrensichtbarenBrüstenundbreitenHüften,michnur inderNachtsehenmöchte.
DieweissenKniesocken
WerktagundSonntagsindbeiunsHeimkindernzweiverschiedeneWelten.UnterschiedlichwieTagundNacht,wie hellunddunkel,wieWeissbrotundRuchbrot.DerSonntag wieeineSchnitteWeissbrot,dickmitButterbestrichenund mitZuckerbestreut,einerare,himmlischeFrühstücksvariante,diewirKindergierigundmitverzücktemBlickverschlingen,wohingegen«unsertäglichBrot»mitButterundKonfitüreeinfachnurzurTilgungunseresstetsgrossenAppetits dient.
WerktagundSonntagsindabernichtnurdurchsichunterscheidendeFrühstücksschnittenklarvoneinandergetrennt, sondernauchdurchTätigkeitenundFunktionen,dieausgeführtundnachaussensichtbargemachtwerden.Daszeigt sichauchbeiderKleidung:EsgibtAlltagskleidungund Sonntagskleidung.WirKindertragenvonMontagbisSamstagbeijederWitterungeineWochelangimmerdiegleichen KleidermitdenimmergleichengrauenSocken.Undweilwir KinderimmerherumspringenmüssenundeinfachkeinGespürfürSorgfaltundReinlichkeithaben,mussdieKleidung sowohlvomMaterialalsauchvonderFarbehersehrsolide sein.BaumwolleistdasdominierendeMaterial,undwennes besonderskaltwird,kommtreineWollehinzu,diedann,als Pulloververstrickt,amHalsundandenArmenfurchtbar kratzt,denmanaberanbehält,weildasWettergargarstigist unddieInnenräumezuwenigbeheiztsind.DieHosender Bubensindausbraunem,beigemodergrauemCord,die KniepartiemehrfachmiteinemBlätzgeflickt,denndieHosensindentwedervererbtoderebentäglichgetragen,und weildieBubennochwenigerüberSorgfaltundReinlichkeit verfügenalswirMädchen,gibtesvoralleminderKniege-
gendundamHinterteiloftLöcherundabgewetzteStellenzu flickenoderauszubessern.DietapfereSchwesterTheofrida, diesichumdieBubenkümmernmuss,nähtdenBlätzim «Bügelzimmer»unterKopfschüttelnundleisemGeschimpfeüberdieLausbubenandieHose,wohlwissend,dassdies nichtdasletzteMalseinwird.
WirMädchentragenvorallemRöckeundKniesocken, undwennwirungeschicktfallen,soschürfenwirunsdirekt dieKniewund,undstattdesBlätzkommteinPflasterdrauf, begleitetvoneinem«Sopassdochauuuf!».Nun,auchwir MädchensindoffenbarschmutzigekleineKinder,dienieaufpassenkönnen,undsotragenwirüberRockundPullover eineSchürze,eSchooss.DieseSchürzeausBaumwolleund LeinenistmeistkariertodergestreiftundindezentenFarben angefertigtmiteinemschmalenBrustteilundeinembreiteren Bauchteil,aufdemeineTascheaufgenähtist,dietagsübermit allerleiKrimskramsgefülltwerdenkann.Dortverstecktsich schonmaleingestohlenerKaugummi,eineEichel,einTaschentuch,einErdbeersugus,zweiSpängeli,einAbziehbildli undeinigesmehr.DielangenBändelderSchürzeschlägtman überdieSchulternundkreuztsiehintenaufdemRücken. EinraffiniertesBindesystem,beidemdieBändeldurchzwei Schlaufeneingefädeltwerden,diemansichertastenmuss, weilmanhintenamKopfjakeineAugenhat,undübers Kreuzdurchzieht,biszuletzteineschöne,harmonischangeordneteSchleifegebundenwerdenkann.Esistganzwichtig, dasseseinesatteSchleifeist,denndieSchürzesolldenganzenTagübergetragenwerdenundunsereAlltagskleidungvor SchmutzundVerschleissschützen.ZudemistdieSchleifedas PrachtstückderSchürzeundfürallevonhintensichtbar.NatürlichlocktdieSchürzenschleifeunsereBubenanwieder süsseNektardieBienen.SiemachensicheinSpieldaraus, diesesgebundeneKunstwerkentwederbeimVorbeischlen-
dernunbemerktzulösen,sodassdieSchürzedanachschlapp herunterhängtwieeinnassesGeschirrtuch,oderausder SchleifeeinenKnopfzumachen,denmandannmühsam undunterEinsatzderFingernägelwiederöffnenmuss.Wenn mandenRotzbubenbeiseinerGemeinheiterwischt,gibtes einenspitzenSchreiundeinenheftigenGingginsFüdli,was derÜbeltäterjedochmiteinembreitenGrinsen – «Tss, Meitli!» – heldenhaftwegsteckt.
UnsereKleider,gewaschenundgebügelt,befindensichinunserenMädchenzimmernimschmalenKleiderschrank,dermit unseremNamenbeschriftetist.DasFräuleinMarie,dasfür unsMädchendieVerantwortunghat,wachtgenaudarüber, dasskeineUnordnungentstehtunddiePulloverschöngestapeltunddieUnterwäscheanständiggefaltetinderSchublade liegen.SiebestimmtjeweilsamSonntagabend,wasdieWochedaraufanzuziehenist,undweilvieleMädchenangezogen werdenmüssen,nimmtsieesmitderFarbkombinationnicht immersogenau.AberwirMädchensindschliesslichkeine Modelsundmodischnochnichtsoversiert,deshalbziehen wireinfachdasan,wassieunsaufunsereStühlenebendas Bettlegt.Wirdschonpassen,Hauptsache,dieGrössestimmt nochundderRockistnichtzukurz,denndannwürdedas FräuleinMarieherangeranntkommenundunswiederhoch insZimmerbegleiten,umetwasPassendereszufinden.Sie ahntjanicht,dasswir,kaumsindwirnachderKurveausser Sichtweite,denTaillenbundunsererlangenRöckeschnell mehrmalsumkrempeln,damitdieLängeauchbeiunsIdaheimlerMädchenmodernüberdemKnieist.
WiefreueichmichjeweilsamSamstagabendaufdenSonntag!Auchwennwirwiedernichtausschlafenkönnen,denn dieMessebeginntfrühunddaslaute,ohrenbetäubendeGe-
läutnochfrüher.Aberichdenkeaneinkleines,längliches, zusammengefaltetesPärcheninWeiss,dasinderSchublade inmeinemSchrankabteilaufmichwartet:meineweissen Kniesocken.Wunderschönsindsie!WeisswieSchnee,feierlichundblütenrein,miteinembreitenZopfmusteraufbeidenSeitenundeinerkunstvollverziertenBorte,diebisknapp untersKniehochgezogenwird.AufmeinerolivbraunenHaut machensichdieSockenwunderbar,sofestlich,sosonntäglich.Dazudieschwarzen,glänzendenHalbschuhe,undaus demkleinenIdaheimlerwirdeinekleinePrinzessin,diewürdevollundstolzzurKircheschreitetundaufpasst,dassja nichtsvondemStrassenschmutzanihreBeinekommt.VergessendasGraudesAlltags,abgelegtdieSchürze – derSonntagistdankmeinerweissenKniesockenstrahlendundfestlich.Damachtesmirauchnichtsaus,dassdieKnievom vielenreuigenDarniederknienaufderhartenKniebankrot undeingedrücktsindwiereifeTomaten – aufderSeite strahltvonuntenherdasZopfmustertapferganzinWeiss, undallesehenes.
DasAbeeodereinHeimfürKinder
EinKinderheimist – derNamesagt’ s – natürlicheinHeim fürKinder.FürHalb-oderVollwaisen,beideneneinoder beideElternteileverstorbensind.OderfürKinder,derenElternvomSchicksalnichtverschontwordensind,dieentwedergeschieden,getrenntoderfurchtbarunglücklichleben. AberauchfürKinder,derenElternesmitderFürsorgenicht sogenaunehmenundlieberimDorfoderinderStadtherumspazierenoderetwasmehrtrinken,anstattsichumdieFamiliezukümmern.DasKindsiehtdanndenVateroderdie MuttermitderWeinflascheundderZigaretteaufdemSofa liegen,stummundnichtansprechbar,sodassesnichtsmehr zuessenbekommtundeshungrigundinschmutzigenKleidernzurSchulegehenmuss.OderderVaterfindetdieMuttereinfachnurnochgrässlich,sodasserheftigaufsieeinschlägtundaufdasKindgraddazu,weilesdieganzeZeit herumplärrtundnichtslernenwill.DannwirddasFürsorgeamthellhörigundfindet,soeinLebenistnichtsfüreinkleinesKind.Eskommtaberauchvor,dassderVaterkrankist unddieMutteranseinerstattarbeitengehenmuss.Oderder VaterfindeteineandereFrauvielattraktiveralsdieeigene, verabschiedetsichausdemgemeinsamenHaushalt,unddie MutterbleibtmitdemKindalleinzurück,siemussarbeiten gehenundweissnicht,wohinmitdemKind.Siekannesja nichteinfachdenganzenTaginderWohnungeinsperren, dortwürdeesweinenunddieNachbarnwürdenstrengund forderndandieTürklopfen,damitdasGeschreiendlichaufhört.AuchhierhatdasFürsorgeamteineLösungparat:das Kinderheim.
FüreinkatholischesMilieuwiedasmeinesHeimatlandes ItaliengibtesnichtsBesseres,alsKinderneineaufdemka-
tholischenGlaubenunddenentsprechendenpädagogischmoralischenPrinzipienbasierendeErziehungangedeihenzu lassen.EinKinderheim,geführtvonIngenbohlerSchwestern – denBarmherzigenSchwesternvomheiligenKreuz –, imfernenLinthalgelegenundzwischendenGlarnerBergen versteckt,scheintderrichtigeOrtfürzweikleine,verlassene Italienerkinderzusein,findetdasFürsorgeamtinZürich,zumalesinderZwinglistadteinesolcheEinrichtungnichtzu gebenscheint.AlsomüssensichdieKindervonderMutter verabschieden,umzusammenmitzwanziganderenKindern unddreigestrengenkatholischenSchwesternundeinemledigenZugerFräuleineingutesundsorgenfreiesLebenunter demSternderNächstenliebezuführen.DieMuttersehendie KindereinmalimMonat,denVatereherweniger,dennder hatsichausbesagtemHaushaltverabschiedetundlebtsein LebenanderSeiteeineranderenFrau,hateinefragileGesundheitundmöchtenichtimmerdaranerinnertwerden, dassseinebeidenKindernunohneMutterundVateraufwachsen.
Esverstehtsichvonselbst,dasszwanzigKinderdasKinderheimfüllen,vonobenbisunten.Manbegegnetsichzwangsläufigimmerwieder,sitztbeisammen,teiltsichWaschräume undSchlafzimmer,StubeundEsszimmer,drängtsichinden Gängenaneinandervorbei,trifftsichbeimSpindimErdgeschoss,umdiekleinenFilzpantoffelnanzuziehenunddieJackenaufzuhängen.Nichtdassdasimmerunangenehmwäre. WelchesKindistschongerneallein?Esgibtimmeretwaszu erzählen,zutuscheln,zulachen,zuweinen,zuflüsternund zuschimpfen,mallaut,malleise,manspieltFangisundhüpft dieTreppehinunterundrenntindenGartenunterdiegrosseBuche – nein,keinKindwillaufDauerganzalleinsein. UndschongarnichtindiesemgrossenHaus.Unddoch:Es
gibtMomente,indenenmanlieberalleinwäre,mitsich selbst,inseinereigenen,kleinenWelt,mitseinenKinderfantasienundseinenKindersehnsüchten.
EsgibtnureineneinzigenOrtindiesemHaus,denman ganzfürsichalleinhat:dasAbeeimErdgeschoss.DieWCs indenoberenEtagensindGemeinschaftstoiletten,inmehrereEinzelabteileaufgeteilt,dieuntenundobenoffensind.Das istzwarnichtsointim,aberdurchauspraktisch,wennman demanderenetwasuntendurchreichenmöchte,eingeheimes ZettelchenzumBeispielodereinfachnurToilettenpapier. Abermanistdaebenauchnichtallein,hörtvomNachbarn, wasmannichtunbedingthörenmöchte,undgeniertsich fürchterlich,wennselbigeLauteausdemeigenenKabäuschen unterderWandhindurchzumNachbarndringen.Dann drücktmanschnelldieSpüleundverlässt,türschletzend, die Toilette,ohnesichdieHändezuwaschen.Wenndiesdas FräuleinMariesähe!Siewürdeganzfürchterlichschimpfen undmeinen,dieschmutzigenHändewürdeneinembeim nächstenMalganzbestimmtverfaulenunddannabfallen. «Jessesau!»
ImErdgeschossbefindetsichalsoeinganzspeziellesAbee, einEinzel-WC.EineeinsameInselimstürmischenMeer, einetrotzigeBurgaufhohemBerg,einedunkleHöhlemitten imUrwald.DiesesAbeeistmir,undniemandweissdavon, immerwiederHorteinsamenundverzücktenGlücks.Dann nämlich,wennichmichvomLärmunddemGewuselder KinderscharzurückziehenmöchteinmeineeigeneKinderwelt,womeineFantasienachaussendrängtundderenge RaumsichweitetinfantastischeSphären,grenzenlos,zeitlos.
MeinAbeealso.ManbetrittesdurchdieEingangstürund findetdenkleinenEingangsbereichabgetrenntdurcheine zweiteTür,hinterdersichdieWC-Schüsselundeinkleines, vergittertesFenstermitvorstehendemFenstersimsbefinden.
Wunderbar!EinekleineZweizimmerwohnungganzfürmich allein!Hierkannstdudicheinrichten,Myriam,hieristdeine Burg:VornedasgemütlicheWohnzimmermitausrollbarer MatratzefürdieNacht,hintendasBadezimmerundeinkleinerBalkonmitdunkelrotenGeranienundtiefgrünemEfeu, durchdessenGitterdieSonnehereinscheintundschöne,helleMusteraufdenschwarz-weisskariertenSteinbodenzeichnet.Esistzwarkalthier,dafürruhigundfriedlich,undich bindieHausherrinunddafürzuständig,dassallesordentlich undsauberist.«NochetwasTeeoderKaffee?Bittesehr!» Herrlichistes,hierzuverweilen,zuträumen,nichtsmehrzu hörenalsdasaufgeregteSchlagendesHerzensunddaswellenartigeRauschendesBlutesimKopf.Allesistweitweg,das SkapulierderSchwesterTheofridaunddasFallbeilder SchwesterOberin,dielangen,dunklenNächtealleinimBett unddasendloseWartenaufdienächstenSommerferien.Ein vollkommenerMomentderRuheunddesFriedenshierauf meinerAbee-Insel.
DiesesuntereAbeeistauchalsGästetoilettefürdieEltern oderdenVormundgedacht,fallssiedochmalvorbeischauen, umzusehen,wieesdemKindoderdemMündelimfernen Glarnerlandergeht.Siebleibennichtlange,dennesgibtimmernochetwasandereszutun,unddannistdanochder StauaufderRückfahrt.DiesesWCwirdauchvonunserer stetsübellaunigenKöchin,SchwesterPosidia,benutzt,deren KücheundVorratskammersichebenfallsimErdgeschossbefinden.
AuchsieistkeinEngel,sonderneinMenschausFleisch undBlutundhatirdischeBedürfnisse.Dassageichjetzt, nacheinemunsäglichen,schockierendenErlebnismitselbiger Schwester,alsdiesenämlichvergessenhatte,dieTürzum WCabzuschliessen.EineWeltbrachinjenemAugenblick
fürmichzusammen.WirKinderhättennieimTraumdaran gedacht,dassKlosterfrauenebenauchFrauensind – miteinemFrauenkörperundFrauenbedürfnissen.Mitihrenlangen schwarzenNonnengewändernschwebenundrauschensie durchdieGängeundindieRäumehineinundwiederhinaus, raschelnaneinemvorbei,ohnedassmangenauweiss,wiesie dasmachen,soohnerichtigeBeine.
AlsichnuneinesTages«mein»Abeeaufsuchenwollte undSchwesterPosidiainunwürdiger,gekrümmterHaltung aufderWC-Schüsselsitzensah,dasschwarzeOrdensgewand überdieKniegezogenunddienackten,aufgedunsenenBeine blassunddichtbehaart,dahatsichderHimmelübermirzusammengezogenundalleEngelinsicheingeschlossen.Mir entfuhreinspitzerSchreiausderKehleundSchwesterPosidiaeindumpfesSchnauben:«Usemitdir!» ErschrockenundverwirrtverliessichrennenddiesennunmehrentweihtenRaum.DasGeheimnisrundumdenunterenInhaltdeslangen,schwarzenNonnengewandeswarein füralleMalgelüftet:«NonnenhabenebendochBeine!» UnddasBestedaran:IchsollteniewiederSchwesterPosidia mitihrenunberechenbarenWutanfällenfürchten.
Die etwa zehnjährige Myriam schildert mit kindlicher Unschuld und zugleich scharfsinnigem Blick ihren Alltag im Idaheim in Näfels. Sie beschreibt die strengen katholischen Rituale, die Machtdynamiken unter den Kindern und die emotional teils schwierigen, teils heiteren Besuchstage. Mit einer Mischung aus persönlichen Erinnerungen und Reflexionen über ihre italienische Herkunft und die schweizerische Kultur, aber auch über die damalige Erziehungspraxis in dieser katholischen Institution entfaltet sich ein frisches und kraftvolles Porträt einer Kindheit zwischen zwei Welten. Einfühlsam und mit feinem Humor erzählt, gewährt dieses Buch einen faszinierenden Einblick in das Leben eines Mädchens, das trotz aller Widrigkeiten seine innere Stärke bewahrt.