

Sophias Feld Pascal Stäuber
Roman
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Pascal Stäuber
Sophias Feld
An einem Montag im Herbst saß Bucher beim Frühstück, vertieft in einen Roman, wie er es jeden Morgen tat. Es hatte etwas Tröstliches, in die Welt der Bücher einzutauchen, in der andere die großen Fragen des Lebens ergründeten, während er mit einer Tasse Kaffee ihr Scheitern beobachten konnte.
Die antike, runde Wanduhr zeigte sieben Uhr. Er hatte noch Zeit. Sein Weingeschäft öffnete er selten vor neun, besonders nicht an einem Montag. Die Öffnungszeiten, die auf der Eingangstür angebracht waren, verstand er ohnehin nur als Richtwerte.
Er nahm einen Schluck vom frisch gebrühten Kaffee und versank wieder in seiner Lektüre. Nur noch dieses eine Kapitel.
«Scheitern muss eine universelle Kunst sein», dachte er, als er schließlich das Buch zuklappte.
Er ließ in der Küche alles stehen und liegen und begab sich in zögerlichen Schritten ins Badezimmer. Im strengen Licht der Leuchtstofflampe drückte er aus einer gelben Tube eine erbsengroße Menge Haargel in die Hand und verteilte diese auf den Handflächen. Ein Friseur hatte ihm das genau so vor über vierzig Jahren gezeigt. Damals war die Tube allerdings weiß mit neonfarbenen Tupfen gewesen und die Kraft des Gels um Welten besser, wie er fand.
Mit beiden Händen fuhr er durch sein braunes Haar und versuchte die dicken Wellen zu glätten. Die eine oder andere Strähne sträubte sich jedoch gegen diese Uniformität und floh, in geradezu rebellischer Manier, senkrecht von der Schläfe, die hier und da schon graue Stellen aufwies, in die vermeintliche Freiheit. Geduldig wies er die Haarbüschel in
ihre Schranken, wusch sich die Hände und strich mit den noch nassen Zeigefingern über die buschigen Augenbrauen, um auch diese in ordentliche Bahnen zu lenken.
Er war sich der Absurdität dieser Routine sehr wohl bewusst, und doch sah er das Haargel als einzigen Klebstoff, der ihn morgens zusammenhielt.
Dem Spiegelschrank über der weißen Keramikspüle entnahm er einen Flakon mit durchsichtiger Flüssigkeit und sprühte sich davon etwas an den Hals. Ein Duftbouquet von japanischer Pflaume, Agarholz, Zimt und Vanille erfüllte den Raum und gab ihm das Gefühl, sich dem Tag stellen zu können.
Als er einen letzten Kontrollblick in den Spiegel warf, sahen ihn zwei graublaue Augen erwartungslos an. Er erkannte Müdigkeit in ihnen. Die schlaflosen Nächte hatten eine tiefe Furche zwischen seine Augenbrauen gegraben und offenbarten eine düstere Agonie. Im deutlichen Kontrast dazu standen die vielen fröhlichen Fältchen um die Augenwinkel, welche von einer Heiterkeit zeugten – wenn auch von einer längst vergangenen.
Er löschte das Licht im Badezimmer und begab sich zur Garderobe. Ein paar kleine Löcher in der Wand neben dem Kleiderständer deuteten darauf hin, dass hier einst Bilder aufgehängt waren. Bilder von ihm und Sophia, wie sie sich vor dem Pantheon in Paris küssten, vor der Westminster Abbey umarmten oder am Ufer des Lac Léman Hand in Hand flanierten.
Heutzutage bevorzugte er eine schlichte, nackte Wand. Es war leichter, so zu leben. Obwohl «leichter leben»eine Art Antithese in diesem Lebensabschnitt war. Etwas, das sich nicht vermischen wollte. Wie Öl und Wasser.
Bucher zog den dunkelgrauen Kittel über den schwarzen Rollkragenpullover und setzte seinen Fedora auf. Ein Stück Würde, auch an einem Montag.
Merlot, ein rotbrauner Labrador, schwänzelte aufgeregt vor der Tür. Seine Vorfreude auf einen morgendlichen Spaziergang wurde jedoch gedämpft, als Bucher vergeblich nach dem Schlüssel auf dem mit Intarsien versehenen Beistelltisch suchte.
Gefolgt vom Hund ging er nochmals zurück ins Badezimmer und in die Küche, seine letzten Aufenthaltsorte. Doch da war kein Schlüssel. Er untersuchte das Sofa im Wohnzimmer, den Nachttisch im Schlafzimmer, den Schreibtisch im Büro und erneut das Tischchen bei der Tür. Wieder nichts. Er klopfte sich mit beiden Händen von oben nach unten ab und fand ihn schließlich in der Hosentasche seiner dunkelblauen Jeans.
Kaum hatte Bucher die Wohnungstür hinter sich abgeschlossen, drehte er den Schlüssel wieder in die entgegengesetzte Richtung und betrat abermals die Wohnung. Das eine Mal, um sein Telefon zu suchen, das andere Mal, um seine Schuhe anzuziehen.
Eine kalte Bise wehte an diesem frühherbstlichen Morgen durch Luzern. Die gelben Blätter an den Bäumen entlang der Straße leuchteten in der zarten Morgensonne. Bucher atmete tief ein, füllte seine Lungen mit der kühlen Stadtluft und vertrieb die letzten Geister der Nacht. Es war, als lebte er zwei Leben:eines, in dem die Nacht ihren Mantel der Dunkelheit über ihn warf, und eines, in dem es ihm gelang, diesen Mantel abzustreifen und sich – so gut es ging – als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu inszenieren.
Er ging die Hauptstraße entlang, vorbei an den Wohnblocks aus den Sechzigerjahren, vorbei an einem mit Graffiti
übersäten Fabrikgebäude aus den Siebzigerjahren, vorbei an einem Tattoostudio, einem Nagelstudio. Die Lieferwagen der Handwerker reihten sich in der Straße ein, gemeinsam mit den Pendlern, den Bussen und den Lastwagen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo gerade ein neuer Wohnblock hochgezogen wurde, fraß sich eine Fräse kreischend durch den Beton und vermischte sich mit dem Verkehrslärm.
Bucher verzog das Gesicht. Er hatte sich stets als weltoffenen Mann gesehen – aufgeklärt und tolerant, daran hegte er keinen Zweifel. Doch Weltoffenheit bedeutete für ihn nicht, jeden Eingriff in die Stadt einfach hinzunehmen. Dieses Zubetonieren stand für ihn sinnbildlich für den kulturellen Zerfall, als hätten die Architekten bewusst jeglicher Schönheit und Eleganz abgeschworen.
Mit einem Kopfschütteln überquerte er die Straße und betrat einen Platz, dessen Kastanienbäume mit herbstlichem Laub geschmückt waren. Der Wirt des Helvetia kehrte die bunten Blätter mit gemächlichen Bewegungen zu einem Haufen zusammen.
«Guten Morgen», grüßte Bucher und hob seinen Hut.
«Guten Morgen, Nik», sagte der Wirt und stützte sich am Besen ab. «Der Winter sitzt uns schon im Nacken.» Er deutete mit dem Kinn auf das Laub.
«Zunächst genießen wir aber den Herbst», entgegnete Bucher.
«Mach das!Ich rufe dich später an. Ich brauche noch Wein», sagte der Wirt und begann wieder zu kehren.
«Sehr gerne.» Bucher hob den Hut erneut und setzte seinen Weg fort.
Er ging an der Kantonalbank vorbei zum Franziskanerplatz, wo Merlot sich erleichterte. Dass dies im Hinterhof zweier ehrwürdiger Kirchen geschah, brachte ihn keineswegs ausder Ruhe.Bucherzog einenPlastikbeutel aus seiner Jacken-
tasche,bücktesichund entsorgte Merlots Hinterlassenschaft.
Das Bücken fiel ihm nach wie vor leicht, obwohl er sich nie viel aus Sport gemacht hatte und weder Muskeln, Kondition noch ein starkes Rückgrat trainierte.
Als Kind war er etwas rundlicher als heute gewesen und wurde deswegen von Mitschülern und seinen durchwegs männlichen Lehrern gleichermaßen gehänselt.
«Ein Mann sollte immer trainieren. Diszipliniert. Die Frauen werden es dir danken.»
Die Worte seines Sportlehrers hallten immer noch in ihm nach, selbst Jahrzehnte nach dessen viel zu frühem Tod.
Sport war nicht Buchers Welt. Bevor Sophia in sein Leben getreten war, waren für ihn hauptsächlich Bücher und Musik von Bedeutung gewesen. Und Kunst. Später gewann der Wein an Stellenwert. Wein war für Bucher nicht einfach ein alkoholisches Getränk unter vielen;vielmehr sah er darin ein aus Trauben gekeltertes Kulturgut. Jeder Wein hatte eine Geschichte, und mit jedem Glas konnte eine neue beginnen.
Bucher setzte seinen Weg in die Kleinstadt, einem der ältesten Stadtteile von Luzern, fort und bog in die Burgerstraße ein, die mehr Gasse als Straße war. Am Blumengeschäft blieb er kurz stehen. Durch das Schaufenster spähend, entdeckte er hinter den vielen Blumensträußen die Besitzerin des Ladens, Isabella, wie sie vor einem Regal mit bunten Vasen ein Bouquet aus violetten und weißen Dahlien zusammenstellte. Als sie ihn bemerkte, legte sie die Blumen beiseite und winkte ihm zu. Bucher hob freundlich grüßend den Hut.
Um kurz vor zehn öffnete er die Tür seines Geschäfts und trat ein.
Am Ende der Burgerstraße, wo die Reuss stets rauschend über die Stufen des Nadelwehrs hinwegfloss, befand sich ab fünf Uhr nachmittags bei gutem Wetter ein kleiner, alter Holztisch, umringt von vier abgenutzten Stühlen, welche von drei mehr oder weniger abgenutzten Herren im besten Alter und einer lebhaften jungen Frau besetzt waren. Stets standen vier Gläser und zwei Flaschen Wein auf dem dunkelbraunen Tisch. An diesem Herbsttag waren es ein gekühlter Chasselas aus der Waadt und ein Pinot Noir aus dem Luzerner Seetal. Manchmal gesellte sich noch eine Karaffe mit kaltem Leitungswasser dazu.
Es war ein Fleckchen in Luzern, das mehr vom Strom der Reuss als von jenem der Touristen geprägt wurde. Dennoch verirrte sich ab und an auch mal ein Fremder hierhin. Mitunter sogar absichtlich, denn der einfache Holztisch stand vor Buchers Weinhandlung.
Sein Geschäft befand sich in einem Fachwerkhaus mit schwarzen Riegeln und war bis unter die Decke gefüllt mit Pinot Noir aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich. Nun mag es ein Klischee sein, dass Weinkenner eine Vorliebe für den edlen Pinot Noir hegen, genauso wie für den weißen Riesling. Doch Letzteren mochte Bucher nicht, weshalb man vergeblich nach Weinen dieser Rebsorte in seinem Laden suchte. Überhaupt schien die Auswahl für Kenner recht eigenwillig. Riesling fand man ebenso wenig wie Amarone, Primitivo oder Rioja. Stattdessen entdeckte man seltene Weine wie Cornalin aus dem Wallis oder Areni aus Armenien.
Aufgrund seines eigensinnigen Sortiments hatte Bucher schon den einen oder anderen Kunden vergrault. Aber das
kümmerte ihn wenig. Er verkaufte, was gut war, und was das war, bestimmte er.
Der Wein musste ihm schmecken, und er musste bezahlbar sein. Natürlich konnte man darüber streiten, wo die preisliche Grenze für eine Flasche Wein liegen sollte, und darüber wurde am Holztisch draußen viel gestritten.
«Dusolltestamerikanische Weineins Sortimentaufnehmen. Dieaus demNapaValley!», sagteHuber,einer derHerrenamHolztisch,nacheinem kräftigenSchluck Chasselas.
«Hab ich», erwiderte Bucher knapp und zuckte mit den Schultern.
«Nicht die billigen. Die teuren!» Huber leerte sein Glas mit einem geräuschvollen Schluck und stellte es mit einem Knall auf den Tisch. «Der Zürcher in der Neustadt verdient sich eine goldene Nase. Zwischen sechshundert und tausend Franken verlangt er für die Cabernets.»
«Ist mir zu viel», entgegnete Bucher. «Ich bin Weinhändler, kein Anlageberater.» Sein leicht desinteressierter Gesichtsausdruck verriet, dass er diese Diskussion nicht zum ersten Mal führte.
«Aber stell dir mal den Gewinn pro Flasche vor. Die Marge liegt bestimmt bei fünfzig Prozent oder mehr», sagte Huber und legte die Hände in Gebetshaltung auf seinen Bauch, der locker auch ein Kleinkind hätte beherbergen können.
«Ich will ehrliche Weine.» Diesmal lag etwas mehr Nachdruck in Buchers Stimme.
«Wer zum Teufel kauft so was überhaupt?», mischte sich nun Hannah ein, die junge Frau in der Runde, ehe sie einen Zug von ihrer Zigarette nahm.
«Schöne und Reiche», antwortete Huber.
Abschätzig blies sie den Rauch aus. «Wohl eher Operierte und Gauner.»
Huber lachte laut auf, ein Grunzen, das an ein Nilpferd erinnerte und die Flaschen auf dem Tisch zum Zittern brachte. «Unsere Weinprinzessin», sagte er schließlich. «Nicht jede ist mit solch makelloser Schönheit gesegnet wie du. Da fällt mir ein:Ich habe heute Abend noch kein Rendezvous. Wie wär’ s?»
«Träum weiter!» Hannah schüttelte den Kopf und schenkte ihm nach. Für sie war er einfach Huber:groß, laut und so durchschaubar wie das Wasser in der Karaffe. Es war ihr egal, wenn er sie aufzog.
«Sehr schade», sagte Huber mit gespielter Trauer. «Da muss ich wohl eine meiner kalten Liaisons aufwärmen, wenn du verstehst, was ich meine.»
«Glaub mir, ich verstehe immer, was du meinst. Männer sind da nämlich recht simpel», sagte Hannah und nahm einen Schluck Wein. «Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass ich dich noch nie im Beisein einer weiblichen Begleitung gesehen habe?», fragte sie dann mit einem süffisanten Lächeln.
Huber hob die Schultern, lächelte verschmitzt und drehte seinen Kopf zu Castelli, dem Vierten in der Runde.
«Gauner!», meinte dieser, mehr zu seinem Glas als zu den anderen.
«Wer?Der Zürcher?», fragte Huber.
«Der sowieso», antwortete Castelli und blickte auf.
«Und wer noch?»
«Ich mein ja nur:Kein Mensch mit ehrlich verdientem Geld gibt tausend Franken für eine Flasche Wein aus.»
Huber zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Was sind wir heute aber auch alle ehrlich. Ehrliche Weine, ehrliches Geld, was noch?», fragte er mit einem spöttischen Ton in der Stimme. «Esgibt viele Expats aus den USA, die sich diese Weine leisten können und wollen.»
«Eben. Gauner», wiederholte Castelli. «Die sind wie Wanderheuschrecken. Ausbeuten und weiterziehen.»
«Dumeinst, dein Lehrerberuf ist viel ehrlicher?Endlose Wochen Zeit zur Vorbereitung, um dann pünktlich zum Schulbeginn die Unterlagen vom Kollegen zu übernehmen, der seit zehn Jahren pensioniert ist.»
«Dozent», korrigierte Castelli trocken.
«Noch schlimmer.»
Die kleinen, täglichen Auseinandersetzungen zwischen Huber und Castelli waren beinahe ritualisiert, so unterschiedlich, wie sie waren. Huber war groß, laut und fleischig, während Castelli klein, bedacht und drahtig wirkte. Huber verdiente sein Geld mit Immobilien, Castelli war Dozent für Romanistik. Setzte sich Castelli für ein autofreies Luzern ein, erntete er nur Spott von Huber. Schwärmte dieser von der elsässischen Gänseleber, konterte Castelli mit einem Vortrag über artgerechte Tierhaltung. Doch gemeinsam teilten sie die Überzeugung, dass die Welt ein viel besserer Ort wäre, wenn es doch nur mehr Menschen wie sie gäbe.
Und dann war da noch Hannah. Sie war intelligenter als alle drei zusammen, rund halb so alt und genoss es, bei einer Zigarette den beiden Streithähnen zuzusehen. Ihre klugen, schwarzen Augen glänzten ebenso wie ihr langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Sie hatte ein feines, graziöses Gesicht, das nicht immer zu ihrem bodenständigen Bündner Dialekt und der gelegentlich rustikalen Wortwahl passte. «Was haltet ihr von diesem Chasselas?», fragte Bucher und versuchte, wie so oft, das Gespräch beschwichtigend auf den Wein zu lenken.
Er wunderte sich manchmal, wie man so überzeugt davon sein konnte, immer recht zu haben, in einer Zeit, in der selbst mathematische Gesetze zur Ansichtssache wurden.
«Top!», antwortete Huber und streckte selbstgefällig seine Unterlippe hervor. «Waadt?»
«Ja, Lavaux.»
«Viel können sie ja nicht dort. Aber Chasselas können sie.
Das muss man ihnen lassen.»
Huber schenkte sich noch einmal ein gutes Glas nach.
«Pack mir einen Karton ein, Dominik, oder besser gleich zwei.»
Bucher schob seinen Stuhl zurück und begab sich in den Laden. Merlot, der meist unter dem Tisch lag, trottete ihm hinterher, ließ sich jedoch nach vier müden Schritten mit einem zufriedenen Murren auf dem Fußabtreter nieder.
Am Tisch entbrannte eine Diskussion über die Eigenschaften des Weißweins. Für Hannah war der Abgang zu kurz.
«Etwas spritziger dürfte er sein», meinte Castelli. Huber erwiderte, dass Chasselas nie viel Säure habe.
Hannah schnupperte an ihrem Glas. «Interessante Nase.»
«Angenehm fruchtig», fügte Castelli hinzu. «Aber nicht aufdringlich.»
«Ein Apérowein mit einem vernünftigen Preis-LeistungsVerhältnis», sagte Huber und schwenkte das Glas vor seinen prüfenden Augen.
«Bio?», fragte Hannah und warf einen Blick auf das Etikett.
«Ich befürchte ja», meinte Huber. «Macht ihn unnötig teuer.»
«Was hast du nur gegen Bio?», fragte Castelli. «Nichts. Nur gegen den Preis habe ich was.»
«Bio ist aber gesünder und umweltfreundlicher dazu.»
Castelli begann eine Laudatio über Bioanbau im Allgemeinen und Bioweine im Besonderen zu halten. Hannah rauchte genüsslich eine Zigarette, während Huber seinen Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken legte, um die letzten
Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Castellis Worte schwebten über ihre Köpfe hinweg zur Reuss, wo sie im sanften Rauschen davongetragen wurden. Sie waren ihnen so vertraut, dass sie sie im Schlaf hätten murmeln können. Castelli war wie die Nadel eines alten Plattenspielers, die in der Rille hängen blieb und immer wieder dieselbe Stelle spielte.
Bucher kehrte mit den beiden Kartons zurück. «Ich setze es auf deine Monatsrechnung», sagte er.
Huber lächelte zufrieden und erhob sich. Er war einer jener Menschen, deren wahre Größe sich erst im Stehen offenbarte. Ein wahrer Riese, mit einer beeindruckenden Statur, die nicht zuletzt durch das etwas verloren wirkende Haarbüschel auf seinem Kopf an einen Bären aus Kindergeschichten erinnerte. Mit seiner großen Hand, die einer Pranke glich, klopfte er Bucher auf die Schulter.
«Vielen Dank, mein Freund!» Die beiden Kartons verschwanden unter seinen Armen. «Man sieht sich.» Huber grinste und zwinkerte, bevor er pfeifend die Burgerstraße hinunterschlenderte.
Bucher begab sich zurück in den Laden, zufrieden, dass die Runde wieder in Harmonie versunken war. Zumindest für den Moment.
«Ich kann nicht verstehen, dass du rauchst. Gerade als Vegetarierin», sagte Castelli und blickte Hannah über seine kreisrunde Brille hinweg an.
«Was hat das eine mit dem anderen zu tun?»
«Esist nicht gesund.»
«Ich bin nicht aus Gesundheitsgründen Vegetarierin.»
«Warum dann?», fragte Castelli. «Esgibt auch ökologisch nachhaltig produziertes Fleisch.»
«Ich will keine Tiere töten.»
«Musst du ja auch nicht.»
«Eben.»
«Verstehe ich nicht. Passt für mich nicht zusammen.»
«Nerv mich nicht.»
Hannah fischte eine weitere Zigarette aus ihrer lila Handtasche aus Kunstpelz, die kaum größer als ein Meerschweinchen war, zündete sie an und nahm einen genussvollen Zug. «Siehst du, geht doch ganz gut.»
Castelli verzog das Gesicht und goss sich und Hannah nun etwas Rotwein ein.
«Hast du eigentlich einen neuen Freund?»
Hannah schüttelte den Kopf. «Ich kuriere noch den letzten aus.» Sie nahm einen weiteren Zug, das Ende der Zigarette glomm auf.
«Was war mit ihm?»
Ihr Blick verfinsterte sich. Langsam blies sie den Rauch aus. «Ein verlogenes Stück Scheiße.»
Castelli presste die Lippen zusammen und schwieg. Hannahs direkte Sprache überforderte ihn schnell. Nach einer Stille, die ihm ewig vorkam, fragte er:«Wie findest du diesen?» Er deutete auf den Rotwein.
Hannah schwenkte das Glas und betrachtete die Farbe. Dann führte sie es zur Nase, schnupperte kurz, die Augen geschlossen.
«Schönes Bouquet.» Sie roch noch einmal. «Himbeeren. Etwas Gewürznelke.»
Sie ließ den Wein über ihre Lippen in den Mund fließen und schlürfte geräuschvoll, damit die Aromen sich entfalten konnten.
«AuchimGaumenroteBeeren. Runder undleichterKörper. Gefälltmir.Ein unkomplizierter Pinotfür denSommer.»
Castelli nickte. «Und das aus dem Luzerner Seetal.» Er stellte das Glas wieder hin und schob es mit zwei Fingern von sich. «Gehen wir noch was essen?»
«Nein, danke. Ich muss noch an einem Vortrag arbeiten.»
«Vortrag?» Castelli runzelte die Stirn.
«Ja, wir haben morgen eine Weiterbildung im Büro, und ich habe mich dazu verdonnern lassen, etwas über die MonteCarlo-Simulation zu erzählen.»
«Monte Carlo?»
Hannah erklärte ihm, dass es sich dabei um ein mathematisches Verfahren zur Schätzung von möglichen Ergebnissen eines ungewissen Ereignisses handle. Castelli starrte sie an, als hätte sie gerade angefangen, in einer fremden Sprache zu sprechen.
«Egal. Ich möchte dich mit meiner Arbeit nicht langweilen», sagte sie schließlich und winkte ab.
Hannah warJuniorRiskManagerin bei einerbekannten Versicherung in Zürich.Oft arbeitetesie jedochvon ihrerAltbauwohnung aus, dieunweitvon BuchersWeingeschäftlag.
Für Castelli steckten Versicherungen und Banken unter ein und derselben kapitalistischen Decke. Trotzdem mochte er Hannah. Ihre Intelligenz, ihre Direktheit, ihre Ausstrahlung und unkonventionelle Schönheit erinnerten ihn an seine Schwester, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
«Wieso gehst du nicht mit Dominik was essen?», fragte Hannah.
«Dukennst ihn ja. Der ist abends lieber allein.»
«Hm. Er ist immer noch nicht über Sophia hinweg, oder?»
Castelli schüttelte den Kopf. «Manchmal denke ich, es wird eher noch schlimmer.»
«Ersollte unter Menschen kommen. Das Alleinsein tut ihm nicht gut. Morgen wieder hier?» Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
«Klar.»
«Nadann.» Sie stand auf, zupfte ihren schwarzen Rock zurecht und gab Castelli eine schnelle Umarmung. «Ciao,
Dominik», rief sie in den Laden und zog los. Ihr Pferdeschwanz pendelte selbstbewusst hin und her.
Bucher kehrte zum Tisch zurück und winkte Hannah zum Abschied hinterher.
«Dominik, mon cher, ich muss jetzt auch los. Vielen Dank für den Wein.»
Die beiden Männer umarmten sich.
«Ciao, Marco», sagte Bucher.
Nachdem Castelli gegangen war, räumte Bucher den Tisch ab und brachte ihn zusammen mit den Stühlen zurück in den Laden.
Sein Geschäft war stilvoll und schlicht eingerichtet. Gegenüber dem Eingang stand eine schwarze Theke vor einer freigelegten Steinmauer, während die dunklen Stahlregale entlang der Wände einen modernen Kontrast dazu bildeten. Auf der Theke waren zahlreiche, mit Lichterketten verzierte Weinflaschen verteilt, die im Winter eine weihnachtliche und im Sommer eine gemütliche Gartenparty-Stimmung verbreiten sollten, was aber niemand honorierte, da die Lichter das ganze Jahr über leuchteten. Über allem thronte ein pompöser, goldener Kronleuchter an der Stuckdecke und ignorierte die beengten Raumverhältnisse.
Die Präsentation der Weine war so eigenwillig wie das Sortiment. Der Cornalin lag beispielsweise im selben Regal wie der Areni. Ein Merlot aus dem Tessin konnte neben einem Pomerol aus dem Bordeaux oder neben einem Roten aus Deutschland in einem ganz anderen Regal liegen. Trotz dieser scheinbaren Willkür herrschte jedoch keine Unordnung im Laden. Im Gegenteil, jede Flasche schien ihren persönlichen Platz gefunden zu haben.
Tatsächlich glaubten manche Kunden, Bucher verleihe den Weinen eine eigene Persönlichkeit. Sein Umgang mit den Flaschen war von sanfter Natur, und gelegentlich sprach er
sogar mit ihnen. Es wurde behauptet, er spreche womöglich mehr mit den Weinen als mit seinen Mitmenschen.
Im Nebenzimmer lag Buchers Büro. Das Administrative verschob er gerne auf das Ende des Tages. Wie so oft in den letzten Monaten gab es aber auch heute nicht viel zu erledigen. Das Geschäft machte nicht viel Umsatz.
Nachdem er den Computer heruntergefahren hatte, begab er sich zum Ausgang. Merlot streckte sich, wedelte zweimal mit dem Schwanz und gähnte zufrieden. Bucher kraulte den Hund hinter dem Ohr, löschte das Licht und verriegelte die Tür.
«Komm, mein Junge.»
Zusammen gingen sie die Burgerstraße entlang und entfernten sich von der Reuss, die noch immer sanft plätscherte. Der Optiker Hartmann, dessen Geschäft etwas weiter die Straße hinunter auf der anderen Seite lag, räumte die Werbetafel herein und nickte Bucher zu.
«Bis morgen», meinte dieser und hob freundlich seinen Hut.
«Wenn ich noch da bin.»
Der Optiker beklagte sich wie üblich über das schlecht laufende Geschäft. Er könne nicht mehr lange mit den großen Ketten mithalten. Bucher hörte dem Mann einige Minuten lang zu, neigte dabei mitfühlend den Kopf. Er kannte die Probleme nur zu gut.
Als er am Blumenladen vorbeikam, kehrte Isabella gerade den Eingangsbereich mit einem Strohbesen. Sie trug heute Ohrstecker, die aussahen wie ihre Augen:groß, rund und türkisfarben. Eine weiße Bluse hing luftig über ihren blauen Jeans. Ihr braunes, welliges Haar reichte bis zu den Schultern, wo ihr Dekolleté mit den Sommersprossen begann. Ein Lächeln zierte ihre roten Lippen, als sie Bucher erblickte. «Genug für heute?»
«War nicht viel los. Vielleicht läuft morgen mehr», antwortete Bucher. «Bei dir?»
«Ich kann nicht klagen;eskam eine große Bestellung für eine Hochzeit rein», erklärte Isabella, die nun zu kehren aufhörte und sich ganz Bucher zuwandte.
«Gib mir Bescheid, falls die Gesellschaft noch Wein braucht», scherzte Bucher, hob den Hut und setzte seinen Weg fort.
Dass Isabella ihm noch nachsah – so wie sie es jeden Abend tat –,bemerkte Bucher nicht.
Das Sonnenlicht hatte sich verändert. Vorein paar Wochen war es noch grell und aufdringlich gewesen. Nun war der Weg der Sonnenstrahlen durch die Atmosphäre länger, und das Licht wirkte müder. Auch die Luft hatte sich verändert und fühlte sich leichter an. Der Geruch von Abgas, Schweiß und billigem Parfum, den die Stadt während des Tages ausdünstete, blieb abends nicht mehr in den Straßen hängen. Die Stadt konnte wieder atmen.
Merlot kam das herbstliche Wetter jedenfalls entgegen. Den Kopf hielt er ein klein wenig höher, seine Schritte waren fast beschwingt. Buchers Kopf hingegen schien mit jeder Jahreszeit tiefer zwischen die Schultern zu sinken.
In der Nähe seiner Wohnung betrat Bucher einen kleinen Supermarkt. Der Duft von Käse und frisch gebackenem Brot hing in der Luft. Ein behaglicher Geruch, der ihn in seine Kindheit zurückversetzte, als er noch an der Hand seiner Mutter einen ähnlichen Laden aufsuchte. Es war ein Quartiersladen am Ende der Bernstraße, oben am Hügel zur damaligen Stadtgrenze. Die Regale erschienen ihm damals unerreichbar hoch, gefüllt mit Dingen, deren Zweck ihm als Kind ein Rätsel war. Das Leben hielt zu jener Zeit noch so viele Geheimnisse bereit.
Er füllte seinen Einkaufskorb mit frischem Brot, Milch, etwas Aufschnitt, einem Kopfsalat und einem Stück Brie. Auf dem Weg zur Kasse legte er noch eine Tafel Milchschokolade dazu. Das Brot war weich und luftig wie frischer Toast, und die Schokolade schmolz im Mund, denn Frau Ziegler, die zwei Stockwerke unter ihm wohnte, hatte bereits ihre dritten Zähne, und die saßen nicht mehr so fest.
Manchmal bemerkte sie erst nach Stunden, dass ihre Zähne rausgefallen waren. Dann rief sie Bucher an, er möge ihr doch bitte beim Suchen helfen. Frau Ziegler liebte Hunde, weshalb Bucher anfangs noch Merlot mit zu den Besuchen nahm. Seit dieser jedoch einmal ihre Zähne als Erster entdeckt hatte und schwanzwedelnd mit ihnen angerannt gekommen war, ließ er ihn lieber zu Hause.
Bucher ging mehrmalsinder Wochefür Frau Zieglereinkaufen.Anihrer Türschwelle stritten siedannjedes Malüber dieBezahlung.FrauZiegler versuchteihm zwanzigFranken zuzustecken,und Bucher lehnte wieimmer ab.Das setzte sich fort,bis Bucher schließlichsagte:«Lassen Siegut sein, Frau Ziegler. Ichkomme gernewiedereinmal auf einenKaffeezu Ihnen.»
Frau Ziegler war wahrscheinlich über neunzig Jahre alt, genau wusste er es nicht. Obwohl sie ihre Einkäufe nicht mehr selbst tragen konnte, unternahm sie täglich einen längeren Spaziergang und liebte es, Gäste zu empfangen. Da ihr Gehör nicht mehr so richtig wollte, sprach sie mit ihrem Besuch so laut, dass Bucher ihre Stimme bereits beim Betreten des Hauses hören konnte. Er hörte dann auch sofort, ob sie ihre Zähne trug – oder ob sie sich bald bei ihm melden würde.
Die Schlange an der Kasse erstreckte sich heute wieder bis nach hinten zu den Kühlregalen. Er hasste dieses Anstehen. Es war nicht so, als hätte er einen vollen Terminplan und wäre deshalb in Eile. Tatsächlich führte er nicht einmal einen
Kalender. Und wenn er einen hätte, dann stünden darin höchstens die vorgedruckten Feiertage – und die waren seit Jahrzehnten unverändert.
Möglicherweise waren es die Gespräche, denen er lauschen musste – ob er wollte oder nicht –,die das Anstehen so unerträglich machten. Irgendjemand beklagte sich immer über irgendwelche Gebrechen. Das Knie wollte nicht mehr, der Rücken schmerzte oder die Blase leckte. Das Gegenüber antwortete dann ausnahmslos mit der Plattitüde, dass man schließlich nicht jünger werde. Oder jemand beklagte sich über die hohen Preise. Dieses und jenes sei unverschämt teuer geworden, man nehme es ja von den Lebenden. Und aus unerklärlichen Gründen wurden diese Missstände immer den vielen Ausländern angelastet.
Endlich an der Kasse angekommen, kramten dann dieselben Leute, ganz überrascht ob der Tatsache, dass hier bezahlt werden musste, nach Kleingeld und beschwerten sich gleichzeitig bei der Kassiererin aus Südosteuropa, dass die Milch wieder fünf Rappen teurer geworden sei, als ob diese persönlich den Gewinn der Supermarktkette abschöpfte.
Und dann diese Kinder. Kinder, die sich schreiend am Boden wälzten, sodass sämtliche Kunden und Angestellte Gefahr liefen, sich einen chronischen Tinnitus einzufangen.
Er hätte natürlich auch am Self-Checkout bezahlen können. Tatsächlich hatte er dies schon zweimal probiert. Beim ersten Mal endete der Versuch damit, dass er aufgrund einer Verkettung von Missverständnissen einen Alarm auslöste. Die gesamte Belegschaft ließ alles stehen und liegen und eilte herbei, als hätte er gerade ein Feuer entfacht. Beim zweiten Mal fielen ihm sämtliche Einkäufe von der viel zu kleinen Ablage neben dem Scanner auf den Boden, um schließlich unter einem Zwölferpack Eier begraben zu werden.
Heute gab es keine schreienden Kinder in der Schlange. Bucher beobachtete mit einer gewissen Genugtuung, dass ein glatzköpfiger, älterer Herr am Self-Checkout wiederholt ein rot leuchtendes Warnsignal auslöste und immer wieder von vorne beginnen musste. Die Dame hinter ihm beschwerte sich bei der Frau hinter ihr, dass sie seit Tagen nicht mehr auf die Toilette könne und deshalb Ende der Woche zum Arzt müsse. «Denken Sie, er macht mir einen Einlauf?»
Der ältere Herr vor ihm mit dem nikotingelben Haar streckte ihm eine 1,5-Liter-Flasche Weißwein für 3Franken 50 vor das Gesicht und meinte, dass es hier noch viel Wein für wenig Geld gäbe, im Gegensatz zu diesen SchickimickiWeingeschäften, die nur auf Gewinn aus seien.
Endlich war er an der Reihe. Erst als die Kassiererin fragte, ob er bar oder mit Karte zahlen wolle, bemerkte Bucher, dass seine Kreditkarte nicht im Geldbeutel war. Er lächelte verlegen und begann nervös, sämtliches Bargeld aus seinen vielen Taschen zusammenzukratzen.
«Das hätten Sie auch früher tun können!», fauchte die Dame mit Verstopfung hinter ihm.
Der Supermarkt lag gleich um die Ecke von Buchers Wohnung. Er musste nur noch die Hauptstraße überqueren und entlang dieser ein paar Häuser hinter sich lassen, dann war er endlich zu Hause. Die Nacht fiel bereits von Osten über Luzern herein. Den Tag hatte er geschafft. «Einer weniger», dachte er.
Vordem Jugendstilhaus setzte er die Einkäufe ab und kramte den Hausschlüssel aus seiner Jackentasche. Als er die Holztür mit den geblümten Verzierungen aufschloss und das kühle, dunkle Treppenhaus mit den hohen Decken betrat, wirkte er auf einmal ganz klein.
In der Altbauwohnung im dritten Stock öffnete Bucher in der Küche mit den geometrisch gemusterten Fliesen eine Flasche Rotwein aus dem Bordeaux. Eines seiner kleinen Rituale, die das Leben erträglicher machen sollten. Konzentriert schnupperte er am Korken und schenkte sich, sichtlich zufrieden mit dem Duft, ein Glas ein.
Buchers Wohnung war stets aufgeräumt und sauber. Dafür sorgte Frau Alves, seine Reinigungshilfe. Einmal in der Woche räumte sie auf, putzte und bügelte für ihn. Ständig in Sorge, er würde zu wenig essen, behandelte sie Bucher eher wie einen renitenten Sohn als wie einen Klienten. Oft brachte sie ihm selbst gemachte Tomatensugo oder Blätterteigtörtchen mit. Beides hatte er kürzlich verputzt, und so stand er ratlos mit dem Glas in der Hand vor den leeren Regalen des Kühlschranks.
Er war zwar für Frau Ziegler einkaufen gegangen, hatte dabei aber nicht an sich gedacht. Das passierte ihm in letzter Zeit häufig. Und weil heute wieder einer dieser Tage war, an denen er die Wohnung am liebsten überhaupt nicht verlassen hätte, hatte er die Mittagsstunde allein mit einer Tasse Kaffee und einem Roman im Büro verbracht. So hatte er außer einer Scheibe trockenen Brots zum Frühstück noch nichts gegessen.
Sein Magen knurrte. Im Türfach des Kühlschranks fand er schließlich noch ein in Papier eingewickeltes Stück Gruyère. Zum Käse gesellten sich die Reste des Brotes, das nun noch trockener war, und eine fleckige Birne, die schon länger einsam in der Obstschale lag und nun fröhlich vor sich hin gärte.
Mit dem Wein und seinem Abendbrot auf dem Teller begab sich Bucher, begleitet vom Knarren des Parkettbodens, ins Zimmer nebenan – in sein Büro. Merlot, der mit hochge-
haltener Nase sein Interesse für den Käse kundtat, folgte ihm auf Schritt und Tritt.
Dies war der einzige Ort in der Wohnung, den Frau Alves nicht betreten, geschweige denn aufräumen durfte. Der Raum roch muffig und bedurfte dringend frischer Luft. Überwuchert von Büchern, die im Laufe der Jahre die Wände, den Boden und den Couchtisch samt Chesterfield-Sessel wie Efeu erobert hatten, glich das Büro einem verlassenen, von der Natur zurückeroberten Bungalow an den Bayous des Mississippi. Ein müder, stummer Zeuge der Zeit.
An der Stirnseite des Raums, vor einem zweiteiligen Flügelfenster, stand ein Arbeitstisch. Darauf stellte er Teller und Glas ab, bevor er sich in den Stuhl sinken ließ. Neben vielen Büchern befanden sich auf dem Tisch eine kleine bronzene Lampe mit einem marmorierten Glasschirm, ein gebrauchtes Rotweinglas vom Vorabend und ein violetter Füllfederhalter. Links vom Tisch stand ein schwerfälliger Aktenschrank, dessen Inhalt so unordentlich war, dass er allein das Gleichgewicht zur Ordnung im Rest der Wohnung wiederherstellen konnte.
Der Schrank barg eine Vielzahl von Dingen, von denen sich Bucher nicht trennen konnte:Postkarten, vergilbte Magazine, sorgfältig herausgerissene Kochrezepte, alte Pässe mit zahlreichen Stempeln, Fotos, handgeschriebene Briefe, Korken seltener Weinflaschen, unvollendete Bleistiftzeichnungen, englischer Pfeifentabak in einem Wickelbeutel und vieles mehr.
Bucher blickte aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Die Sonne hatte sich bereits hinter das Pilatusmassiv verzogen und ihren Platz der Nacht vermacht. Apathisch kaute er den Käse. Sein Blick verlor sich, bis er die Fußgänger, Fahrräder und Autos auf ihrem Heimweg nicht mehr wahrnahm. Die Geschehnisse des Tages hatten sich aufgelöst und ein Vaku-
um, ein Nichts in seinem Kopf hinterlassen. Doch da war noch dieser Schatten, und ein Schatten war nicht Nichts. Er wurde von etwas geworfen, und dieses Etwas bildete einen Damm gegen die absolute Resignation. Der Damm war alt und brüchig, die Wellen wogten immer höher, aber noch hielt er, und so würde er ihr heute erneut einen Brief schreiben.
Das Licht der Laterne unten an der Straße flackerte unruhig. Er öffnete eine der Schubladen des Schranks, und ein modriger Geruch vergangener Zeiten breitete sich aus. Während er nach neuem Briefpapier suchte, stieß er auf ein leicht vergilbtes, zusammengefaltetes Papier. Durch das dünne Blatt hindurch erkannte er Sophias Handschrift. Bucher schluckte schwer und nahm es nach kurzem Zögern heraus. Vorsichtig, als handle es sich um ein jahrhundertealtes Pergament, entfaltete er das Schriftstück. Ohne es aus den Augen zu lassen, tastete er nach seiner Brille und setzte sie auf. Sein Herz schlug schneller. Er nahm einen tiefen Atemzug und begann zu lesen.
Ich bin das Universum
In mir selbst
Ein Regentropfen im Ozean
Aufgelöst
Im schimmernden Sternenzelt
Losgelöst von meinem Schatten
Befreit von Zeit und Raum
Treibe ich in mir aufgehend
In den unendlichen Traum
Die Antworten, die ich suchte Weisheit, die ich versuchte
Zu erzwingen nicht erreichte
Wurden mir beschert
Als der Tag sich neigte
Keine Blume und kein Tier
Mensch bin ich nicht mehr
Schwimme ich hüllenlos dahin
Im größer werdenden Seelenmeer
War schön mit dir, Dominik!
Ich liebe Dich, Bisous Paris, 1989
Er blickte auf. Die Welt um ihn verschwamm vor den feuchten Augen und verschwand dann gänzlich hinter den geschlossenen Lidern. In der Dunkelheit sah er es vor sich:Paris. Sie flanierten entlang der Seine an einem heißen Mainachmittag. Die Bäume und Sträucher trugen ein üppiges Grün, und die Luft war erfüllt vom Duft der blühenden Blumen. Unter der gusseisernen Brücke Pont de Sully hatten sie sich geküsst.
Ihm erschienen auch ihre Augen. Diese geheimnisvollen, intelligenten Augen, die so viel Wärme und Zuversicht ausstrahlten. Er sah die dicken, schwarzen Augenbrauen, die vollen, roten Lippen und die elegante, aquiline Nase vor sich. Ihr Lächeln verströmte eine solche Leichtigkeit und ein Selbstbewusstsein, dass es ihm auch jetzt noch, Jahre später, den Atem raubte.
«Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?», hörte er sie leise fragen, während ihre Finger sich mit seinen verschränkten. Ihre Hände bewegten sich sanft hin und her, fast wie Foucaults Pendel, das stets seine Bahn zieht, unbeeindruckt vom Geschehen der Welt. Sie reckte ihr Gesicht in die warme
Sonne, schloss die Augen und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.
Bucher zögerte. «Ich weiß nicht, Sophia. Oft denke ich, dass das Ende einfach nur das Ende ist.» Er spürte ihre gelassene Ausstrahlung, die Ruhe, die sie immer umgab. «Und du?Glaubst du daran?»
«Ja»,sagte sie, und ihre Stimme klang fest und überzeugt.
«Bist du religiös geworden?»
Ein leises Lachen entkam ihr, als sie die Augen öffnete und ihn direkt ansah.
«Nein, nicht im traditionellen Sinn. Es ist Physik:Teilchen, Energie, Information … Nichts davon verschwindet einfach mit dem Tod. Unsere ganze Existenz bleibt in gewisser Weise erhalten.»
Diese Gedanken hatte er fast vergessen, ebenso wie das Gedicht. Sophia war beseelt gewesen von der Vorstellung, dass das menschliche Dasein über den Tod hinaus Bestand hatte. Buchers Blick haftete an der flackernden Laterne draußen. Ein Schluck Rotwein brachte weitere Erinnerungen zurück, spülte sie durch seinen Geist wie Wellen an einen menschenleeren Strand.
«Sowie Energie nicht vernichtet werden kann, bleibt auch Information erhalten. Ein grundlegendes physikalisches Gesetz. Das Gedachte, das Geträumte, das Gefühlte – es bleibt bestehen», erklärte sie. Nur welche Form der Tod annehmen würde, blieb für sie ein Rätsel. «Inder Physik beschreiben Felder nicht nur Kräfte, sondern bringen auch Masse und Licht hervor. Teilchen. Angenommen, es existiert so etwas wie eine denkende Seele, ein Geist», sinnierte sie, «warum nicht auch ein Feld für unsere Gedankenwelt?Etwas, das unser Denken hervorbringt und in das es zurückkehrt.»
Alle Lebewesen, alle Planeten und Sterne seien aus Quantenfeldern entstanden, argumentierte sie. Diese Felder seien immer und überall. Sie glaubte an die Naturwissenschaft, war aber ebenso davon überzeugt, dass deren Gesetze noch lange nicht zu Ende gedacht waren.
«Und die Liebe?», fragte er, als wollte er testen, ob auch sie in Sophias Weltanschauung Platz fand.
«Unbedingt. Ich glaube, mit dem Tod fallen wir wie ein Wassertropfen in den Ozean, aus dem wir kommen. Da ist auch die Liebe. Das Universum, das sind wir. Verstehst du?
Das ist Physik.»
Bucher nickte. In ihrer Ruhe schwang Klarheit und Überzeugung mit.
«Man könnte es das L-Feld nennen», fügte sie hinzu.
«L wie Liebe?», fragte er.
«L wie Logos», sagte sie.
Sie war die Expertin. Ihre Leidenschaft für Physik hatte sie von der ETH nach Paris und schließlich ans CERN geführt, wo sie über die Geheimnisse der Teilchenphysik forschte: Über spontane Symmetriebrechung in der Quantenfeldtheorie, oder so ähnlich, erinnerte sich Bucher.
«Glaubst du an Gott?», fragte Bucher.
«Ich weiß nicht. Ich glaube nur, dass die Annahme, der Tod sei das Ende von allem, nicht plausibel ist.»
«Das heißt, du glaubst nicht an Gott, aber an ein Leben nach dem Tod?»
Sophia nickte.
Sie hatte gelächelt. Er hatte sie geküsst.
«Würde dann nicht das reinste Chaos herrschen?Indeinen Feldern, meine ich.»
«Vielleicht übersehen wir auch etwas. Eine Kraft, die alles lenkt und zusammenhält.»
«Wie Gott?», fragte er.
Bucher hatte sein Philosophie- und Literaturstudium zwar kurz vor dem Lizentiat abgebrochen, doch die Werke der großen Denker hatte er regelrecht verschlungen:von Platon über Descartes und Kant bis zu Arendt, Wittgenstein und Feyerabend. Der Tod war ein Thema, das sie alle beschäftigte. Auffällig viele moderne Philosophen waren sich einig:Mit dem Tod endete alles. Eine Annahme, die Sophia nie zufriedengestellt hatte.
Vielleicht lag darin nur die Bequemlichkeit der modernen Philosophie, hatte er überlegt. Die Annahme, der Tod sei das Ende, war die einfache Flucht vor einem unerreichbaren Verständnis des Daseins.
Vielleicht waren sie aber auch des ständigen Kampfes gegen die Allmacht der Kirche müde. All die Kriege, Gräueltaten, Hexenverfolgungen, Kindesmissbrauchsfälle und terroristischen Akte hatten ihre Spuren hinterlassen. Wie sollte man dagegen ankämpfen?Man tötete nicht nur Gott, sondern auch die Idee eines Lebens nach dem Tod, um zu verhindern, dass eine neue Autorität die Macht ergreifen konnte, indem sie behauptete, zu wissen, was nach dem Tod kommt und, noch wichtiger, was im Hier und Jetzt zu tun ist, um das ewige Leben zu sichern.
«Oder die Liebe», hatte sie geantwortet.
Er erinnerte sich, wie leidenschaftlich Sophia über diese Themen gesprochen hatte. Ihre schwarzen Augen funkelten, während sie pausenlos philosophierte und gestikulierte, fast so, als vergesse sie dabei zu atmen. Als wollte sie das gesamte Universum in einem Atemzug erklären. Es war dieser unbändige Geist, der ihn damals genauso gefesselt hatte wie heute, in seiner Erinnerung.
Bucher las erneut die letzte Zeile ihres Gedichts und spürte, wie sich eine Träne ihren Weg über seine Wange bahnte. Er wischte sie mit dem Handrücken fort. Das Fenster er-
schien inzwischen schwarz und spiegelte das warme, gelbe Licht der Schreibtischlampe wider, welches auf die rechte Hälfte seines Gesichts fiel. Die linke Hälfte wurde allmählich von der Dunkelheit verschluckt.
Woher kamen bloß all diese Erinnerungen?Ein einziges Bild eines Bistros genügte, und schon überschwemmten ihn weitere Bilder, Geschichten, ja, ganze Filme, die sich in seinem Kopf abspielten.
Ihre Worte lagen vor ihm, greifbar nah. Er konnte sie fast fühlen, als er sanft mit einem Finger über die Tinte auf dem Papier strich. Sophia hatte das geschrieben, irgendwo in diesem Raum-Zeit-Kontinuum. Und jetzt, dachte er, jetzt war sie fort.
Aber dieses «Jetzt»war bloß eine Illusion, schoss es ihm durch den Kopf. Das war spätestens seit Einstein klar. Zeit war relativ. Es musste eine Raumzeit in diesem Universum geben, in der Sophia noch existierte. Wenn er sie nur erreichen könnte. Wieso war es möglich, sich durch den Raum, aber nicht durch die Zeit zu bewegen?Ein sonderbar Ding ist die Zeit, dachte er, als sein Blick auf ein dickes, ledergebundenes Werk von Hugo von Hofmannsthal fiel.
Bucher seufzte. «Sophia, wo bist du nur?»
Es war genau diese Frage, die ihn wie ein Gejagter durch die Nächte trieb.
Er zog aus der Schublade ein unbeschriebenes Blatt Papier heraus und griff nach dem violetten Füllfederhalter. In diesem Moment fühlte er sich ihr näher. Die Tinte schien eine Brücke zwischen ihren Welten zu bauen.
«Vielleicht ist das biologische Leben, wie wir es kennen, nur eine Störung dieses Feldes, ein kurzes Feuerwerk», hatte sie spekuliert. «Ich glaube, wir entspringen diesem Feld und fallen nach dem Tod wieder dahin zurück, wie ein Tropfen in einen Ozean. Das Universum, das sind wir. Alles ist eins, verstehst du?»
Der Weinhändler Dominik Bucher trauert um seine Frau Sophia, eine leidenschaftliche Physikerin, die bei einem Unfall ums Leben kam. In seiner Verzweiflung klammert er sich an eine Idee aus der Quantenphysik: die Vorstellung, dass ein Teil von uns nach dem Tod weiterexistiert – jenseits der Grenzen unserer Wahrnehmung. Während er versucht, ihrer Präsenz auf ungewöhnlichen Wegen näherzukommen, entdeckt er einen Brief, der auf einen Schlag alles verändert. War Sophias Tod wirklich ein Unfall?