Judith Stadlin: ‹Ein Quantum Toast›

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JUDITH STADLIN

EIN QUANTUM TOAST

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MIX

Papier aus verantwortungsvollen Quellen

FSC® C083411

© 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angelia Schwaller

Korrektorat: Jakob Salzmann

Covergestaltung: Monica Kummer

Satz: Andreas Färber, mittelstadt 21

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-7296-5121-0

www.zytglogge.ch

®

Ein Quantum Toast Spoken Word zum Lesen und Schauen

Judith Stadlin
«Mit Humor kannst du’s nicht länger, aber besser!»
Tyduj Nildaz
Inhalt Lizenz zum Lachen (quasi das Vorwort) ..................... 9 Piotrchens Mondfahrt (Fassung Zuger Dialekt) ......... 13 Piotrchens Mondfahrt (Fassung deutsch) .................... 19 Follow the Mami ................................................................ 26 Badiguard ............................................................................ 28 Hundert Jahre Eitelkeit ..................................................... 30 Der Star Wars ...................................................................... 32 Club der guten Dichter ...................................................... 35 Aristomaus ........................................................................... 38 Die Nebel von Anderswo .................................................. 42 Münz und Vorurteil .......................................................... 45 Wer mit dem Holz tanzt .................................................. 48 Mischen impossible ............................................................ 52 Frucht der Karibik .............................................................. 55 Jahrmarkt der Etiketten .................................................... 60 Am besten nichts Neues .................................................... 67 Der Name der Hose ........................................................... 72 Das grosse Diktat ................................................................ 77 Das Wunder von Imperia (Ein Stummfilm) ............... 80 Blöde Runner ...................................................................... 82 Die Frau mit dem Fagott ................................................... 86 Wortes Bruder .................................................................... 88 Wir Kinder von der Bahnhofstrasse ............................... 94 Und jährlich grüsst der Tannenbaum ........................... 98 Finding Mario ..................................................................... 100 Auf der Suche nach dem verlorenen File ........................ 104
8 Gottes Werk und Teufels Technik .................................. 109 Das Alte muss an die frische Luft ................................... 111 Spiel mir das Leid von der Hotline ................................. 113 Ein Quantum Toast. E 1.-Auguscht-Aasproch ............. 119 Ein Quantum Toast. Eine 1.-August-Ansprache ........ 125 Die Fögel ............................................................................... 132 Madame Bowäärli ............................................................... 137 Chercher la forme .............................................................. 139 Die Schönen und das Crocodail ..................................... 145 Tuntenherz .......................................................................... 148 Burn after Learning .......................................................... 151 Wurms Anatomy ................................................................ 157 Homo Fahrer ....................................................................... 159 Ich war dann mal weg ........................................................ 169 Sau(f)park ............................................................................ 171 Die Schweizerlacher ........................................................... 176 Die unendlichen Gewichte ............................................... 179 Herrin der Augenringe ...................................................... 181 Fack Ju, Leo ......................................................................... 184 Die unerwartete Leichtigkeit des Steins ........................ 190 Das Leben beim Wandern ................................................ 196 Schein, der Weg ins Nichts ............................................... 201 Und Elvis ging zum Regenbogen ..................................... 207 Ade caluups now – Dialektfassung ................................. 210 Ade caluups now – Deutsche Fassung ............................ 211 Bonusmaterial ...................................................................... 212 Weiteres Bonusmaterial ..................................................... 213 Das grosse Danke ................................................................ 214

Lizenz zum Lachen (quasi das Vorwort)

Liebe Leserin bis Leser. Sie haben dieses Buch aufgeschlagen, denn Sie möchten sich unterhalten lassen. Von mir und meinen Texten. Sehr gerne werde ich Sie unterhalten!

Weil das Wort Unterhaltung das Unten in sich drin hat, meinen manche Leute, Unterhaltung sei minderwertig. Sobald etwas unterhaltsam sei, sei es fragwürdig. Das ist Unsinn! In einem Buch und auf der Bühne kann es nie zu viel Unterhaltung geben. Höchstens zu wenig!

Das, was in diesem Buch erzählt wird, sollen Sie verstehen, ohne vorgängig sieben Workshops absolviert zu haben …

Weil Unterhaltung niederschwellig ist, wird sie gerne mit tiefem Niveau gleichgesetzt. Ja, einer Kunst, die Spass macht, wird gerne nachgesagt, sie sei keine Kunst.

Doch wissen Sie was?

Kunst ist umso besser, je unterhaltender sie ist, und sie ist umso unterhaltender, je besser sie ist!

Denn die Tatsache, dass es viel fragwürdige Unterhaltung gibt, macht die Unterhaltung an sich nicht fragwürdig!

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Selbst der grosse Molière sagte: «Ich besitze keinen höheren Ehrgeiz, als mein Publikum zu unterhalten.» Und der Herkunfts-Duden meint: Unterhalten bedeute, die Existenz einer Person oder einer Sache sichern.

Sehen Sie, indem ich Sie unterhalte, sichere ich Ihre Existenz!

Und das Tolle: Sie unterhalten mich auch! Wirklich!

Selbst wenn Sie die allergrössten LangweilerInnen wären. Sie sichern meine Existenz, indem Sie meine Geschichten lesen oder ihnen lauschen, – und indem Sie dafür bezahlen.

Was kann es Besseres geben: Ich sichere Ihre Unterhaltung und Sie sichern meinen Unterhalt! Eine klassiche Win-win-Situation. Herrlich!

(PS : Was denken Sie, wie oft kommt in diesem Text der Wortteil unterhalt vor?

Die Antwort lautet: 20-mal.

Beim Schreiben vertippte ich mich allerdings 20-mal! Ich schrieb immer: unterhla t.

Doch nur 18-mal habe ich es korrigiert.)

Somit wünsche ich Ihnen nun:

Gute Unterhla tung!

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Und hier finden Sie dieses Vorwort als Film: Einfach mit der Kamerafunktion vom Smartphone drauf gehen, ganz ohne App. Und zack, im Browser öffnen!

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Piotrchens Mondfahrt

(Fassung Zuger Dialekt)

Chönd Si Russisch? Ich leider nid. Ich cha verhältnismässig wenig Sproche.

Uf dere Wält gäbs schyns nämmli momentan 7097 gsprochni Sproche. Früener, i de Urzyt, sygids no 20 000 Sproche gsy.

Wäg dere Abnahm vo de Sprochevillfalt hed d UNESCO de «internationali Tag vu de Muetersproch» erfunde – «zur Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit».

Muetersproch?

Das Wort gohd devo uus, dass d Mueter diheimen isch –und redt. Und de Vatter uf d Pirsch gohd – und schwygt.

Si gsehnd, s Wort Muetersproch isch liecht tendänziös, so i Sache Glychstellig und Rägebogegsellschaft und Diversität und Villfalt. Drum hed mers dur de Begriff Erschtsproch ersetzt. Wils cha sy, dass emol d Mueter uf d Jagd gohd (nach wilde Tier oder Ehr oder Gäld) und schwygt, und dass de Vatter diheime au emol öppis seid zu de Chind.

Bi dene guet 7000 Sproche, wos no gid, weis ich nid, öb do alli Dialäkt, nume scho die vo de Schwiiz, mitzellt sind. Ich vermuete, si sygid nid deby.

Und de isch natürli d Frog, öb Schwiizerdütsch überhaupt e eigni Mueter-, aso Erschtsproch syg. Oder öb si eifach zum Dütsche ghöri.

– Die Frog chönd d Wüsseschaftler schyns nid klar beantworte.1

1 Und au d Wüsseschaftlerinne wüssids schyns nid!

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Ich meinti aber, wenn jede Dialäkt i allne Länder uf de Wält als eigni Erschtsproch definiert wäri, de chiemtid mer uf wyt meh als 7097 Sproche.

Anyway. Uf jede Fall sygis eso, dass vu dene no gredte Sproche d Hälfti au scho wider vom Uusstärbe bedroht sygi!

Do dezue ghörid jetz hundertpro au alli üsi Dialäkt!

A dere Entwicklig bin ich sälber tschuld, gnau wie au Si!

Säg ich öppe im Sportgschäft a de Zürcher Bahnhofstrooss, ich suechi e grüene Baueletampf ?

Hoischid Si z Basel im Hiltl e Portion Gumelstunggis?

Kei Ahnig, was Si serviert überchiemtid, aber allwäg chuum e Täller Härdöpfelstock … und mich füerti de Sportartikelverchäufer dänk au nid straight zum Gstell mit de Zipfelchappe. Wil … mer verstöcht üs eifach nid, wemmer i de Schwiizer Grossstadt settigi lokali Wörter bruuchti! Drum probierid mers dete gar nid erscht mit üsne Dialäktuusdrück.

Und gnau drum machid mier immer wider de Spagat zwüsched em Dialäkt-Dänke und de verbale Simultanübersetzig is Quasi-Dütsche. Oder is allgemein verständliche Swinglisch 2 .

Wemmer redid, wämmer nämmli vor allem verstande wärde und nid hauptsächlich üsi Härkumft betone oder uf eme Dialäktuusdruck umeryte. Drum passid mier alli (wie die meischte Mänsche uf de Wält) üs de Sproch vom Stärchere, vom Grössere aa. Und das, wo mer jede Tag z Züri sägid, öppe «Wohnzimmer» statt «Stube», «foode» statt «z Mittag ässe» und «google» statt «überlegge», das sägimer de mit de Zyt au diheime z Gräche, z Steine oder z Arbon. Und sogar z Zug, wo einewäg e grosse Teil vom Volch Änglisch oder Russisch redt.

2 E Mischig zwüsched Schwiizerdütsch und Änglisch.

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Die Aapassig und Vereinheitlichung passiert uf de Wält zwar mängisch mit Gwalt 3 , meischtens passiert die Aapassig a ne Sproch aber ohni Zwang.

Ja: Grossi und starchi Natione füerid zu sprochlicher Homogenität! Drum redid hüttzutags d Hälfti vu de Mänsche uf de Wält eini vu de zäh meischtgredte Sproche! Mier Mänsche sind Härdetier und sicher hilft au d Digitalisierig und d Globalisierig mit, die sprochlichi Kommunikation z vereinheitliche.

Di drüü meischtgredte Sproche uf de Wält? Änglisch, Mandarin-Chinesisch und Spanisch. Dütsch erschynt erscht a 13ter Stell und Italiänisch a 19ter.

Jetz chönnt mer vermuete, eini, wo Zugerdütsch schrybt, so wien ich, heig e Mission. Mer chönnt vermuete:

… Ich weli d Globalisierig stoppe! … De chinesischi Wältmärchtvormarsch torpediere! … Ich weli, dass weder Google no Facebook myni Dialäktsätz tscheggid! … Dass d CIA mich digital nid chöng überwache!

– Ja, klar, das wäri als Näbeneffekt vom Dialäktschrybe gar nid schlächt. 4 Aber de Grund für myni Dialäktstorys isch das nid.

Ich wett nämmli Gschichte verzelle – und deby verstande wärde!

3 Wie öppe z Pakistan, wo 1952 nume drüü Prozänt vo de Lüüt Urdu als Erschtsproch gredt händ und d Regierig Urdu zu de alleinige Amtsproch erchlärt hed. D Folg devo sind Demos und Polzeiysätz gsy, und s hed sogar Toti ggä!

4 Aber es verhebti dänk nid, wil grad geschter han i gläse, dass die Künschtlich Inteligänz schyns sogar scho chöng Dialäktteggscht entschlüssle! Öb das stimmt, wett ich im Momänt no starch bezwyfle … Lisid Si eifach wyter im Teggscht, de wüssid Si, werum.

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Wie chiems ächt use, wenn d CIA myni Teggscht würdi übersetze? Oder de russisch Gheimdienscht?

Für ne möglichi Antwort mues i churz echli uushole:

Es gid e zugerdütsche Teggscht vo mier, de heisst «Bi Wädelmond»5 . Es isch es Gschichtli über zwee Manne – e Ruech und e Süffel – wo bi Vollmond Chritz mitenand überchömid. 6

Won ich letschti emol de Film mit dere Gschicht uf em Netz gsuecht ha zum de Link wyterschicke, bin ich zuefelig uf ne Syte cho, wo gheisse hed «Deutsche Sprache.ru». Jesses, ich ha nid schlächt gstuunnet: Det isch myn Zugerdütsch-Teggscht schriftlich übersetzt gsy uf Russisch!

Ich verstohne jo äbe leider keis Wort Russisch. Aber, keis Problem – wil praktischerwys isch det de russisch Teggscht wider zruggübersetzt gsy – uf Hochdütsch!

Zum Erfahre, was ich de Russinne und Russe do für nes Gschichtli verzellt ha, hätt ich eigentlich nume müesse d Zruggübersetzig uf Dütsch läse.

Gnau das han ich probiert! Und bi verschrocke:

Wow, ich säge Ihne! Won ich die Übersetzig vom Russisch zrugg is Dütsche gläse ha, han ich gemerkt, was die Story über de Wädelmond für nes rysigs … sägimer «Interpretationspotenzial» hed!

5 «Wädelmond» isch übrigens s zugerdütschi Wort für Vollmond. Dee Teggscht isch i mym Buech HÄSCHTÄÄG ZUNDEROBSI (au im Zytglogge Verlag erschine, 2020).

6 Dee Teggscht gfindt mer, vorgläse vo mier, als Film uf Play SRF.

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Es Byspil: De eifachi Dialäktsatz

«De Schlawyner isch überstellig worde und hed de Gütterler verhündelet und gmöögget, er söll kei Spargimänter mache»7 hed dur d Übersetzig unfassbari Dimensione aagno. D Übersetzig isch nämmli eso usecho: «Schlawyner hätten wie Monster, so Ricardo. Flut die Politik Müll!

Für Oslo passiert sie Kabinettsumbau Ringsgwandl, was in der Folge schlief.»

Momänt emol! … Chömid Si no druus? Oder ehnder nid? –Wüssid Si was? Ich au nid! Und das isch zimmli erstuunlich, wil schliesslich bin ichs, wo de Ursprungstext gschribe ha …

Obacht, im nögschte Byspil wirds grad no tragisch: «Eine Freundin ging dank billiger Chemicals inc. in eine Steckdose.»

Gsehnd Si s au?

I mym Teggscht steckt meini – das han ich dank dere Second hand-Übersetzig erchännt – Induschtriekritik, tragischi Liebi, Kunscht-, Politik- und Gsellschaftskritik und au no Religiös-Spirituells.

Churz: luuter Theme, won ich kei grossi Ahnig ha devo. Dezue chund kunschtvoll verklausulierti Symbolik, Sport, Filmgschicht und Sience Fiction! 8

7 Uf Dütsch: «Das Schlitzohr wurde übermütig, verhöhnte den Trunkenbold und rief, er solle keine Flausen machen.»

8 Dee Teggscht isch eso kryptisch, dass ich ächti Chancen hätti, e Literaturprys demit z gwünne!

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Do nomol en Uusschnitt us de automatische Übersetzig vom Zugerdütsche – via Russisch – is Hochdütsche. Lönd Si sich die Logarhithmus-Poesie uf de Zunge vergoh: «Der Grosse stösst im Capital ab und der letzte Brief verkörpert ist der kleine. Verbrechen oder vertrieben – das Spenderherz ist Courage! Und reinigten sie die Akuten, dass es nur so kracht.»

Sünd und schad isch nume, dass settigi interessanti Sätz kei Mänsch verstohd! 9

Dass mier das nid passiert han ich mich entschlosse, i dem Buech e Grossteil vo de Gschichte uf Dütsch z schrybe. Es paar Gschichte chammer i beidne Sproche läse, und es paar sind nume uf Dialäkt druckt.

Wil wie gseid: Ich würd scho no gärn vo möglichscht villne Läserinne und Läser verstande wärde!

(Und nid öppen eso:

Geführt wird und reinigt war es Peter! Und der heillos von der Mondfähre.)

… Alls klar?

… Nid?

Guet, denn bin i beruiget!

9 Bösi Zunge bhauptid, die Übersetzig vo mym Teggscht sygi komplette Nonsens. – Banause! Verstönd null vo wohrer Kunscht.

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Piotrchens Mondfahrt

(Fassung deutsch) Sprechen Sie Russisch? Ich leider nicht. Ich spreche verhältnismässig wenige Sprachen.

Auf dieser Welt gebe es nämlich momentan 7097 gesprochene Sprachen. Früher, in der Urzeit, sollen es noch 20 000 Sprachen gewesen sein.

Aufgrund dieser Abnahme der Sprachenvielfalt erfand die UNESCO den «internationalen Tag der Muttersprache – zur Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit».

Muttersprache?

Dieses Wort geht davon aus, dass die Mutter zu Hause ist –und spricht. Und, dass der Vater auf die Pirsch geht – und schweigt. Sie sehen: Das Wort Muttersprache ist leicht tendenziös, so in Sachen Gleichstellung und Regenbogengesellschaft und Diversität und Vielfalt. – Deshalb hat man es durch den Begriff Erstsprache ersetzt. Weil es denkbar ist, dass die Mutter auf die Jagd geht (nach wilden Tieren oder Ehre oder Geld) –und schweigt, und dass der Vater zu Hause auch mal was sagt zu den Kindern.

Ich weiss nicht, ob bei diesen gut 7000 Sprachen, die noch gesprochen werden, alle Dialekte – nur schon diejenigen der Schweiz – miteingerechnet sind. Ich vermute, sie sind nicht mitgezählt.

Und dann taucht natürlich die Frage wieder auf, ob das Schweizerdeutsche überhaupt eine eigene Mutter-, … ich meine Erstsprache sei. Oder ob es einfach zum Deutschen gehört.

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Diese Frage können die Wissenschaftler nicht eindeutig beantworten.1

Ich denke jedoch, wenn jeder Dialekt in allen Ländern der Welt als eigene Erstsprache definiert wäre, dann kämen wir beim Zählen auf weit mehr als auf 7097 Sprachen.

Wie auch immer. Auf jeden Fall sei es so, dass von diesen noch gesprochenen Sprachen die Hälfte bereits wieder vom Aussterben bedroht sei!

Dazu gehören hundertprozentig auch alle unsere Schweizer Dialekte.

An dieser Abwärtsentwicklung bin ich selber schuld, genau wie auch Sie.

Sage ich etwa im Sportgeschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse, ich sei auf der Suche nach einem grünen Baueletampf ?

Bestellen Sie im Basler Restaurant Hiltl eine Portion Gumelstunggis?

Keine Ahnung, was Sie aufgetischt bekämen, aber wohl kaum einen Teller mit Kartoffelstock … Und mich würde der Zürcher Sportartikelverkäufer sicher nicht direkt zum Gestell mit den Zipfelmützen führen. Denn … man würde uns schlicht und einfach nicht verstehen, wenn wir in einer Schweizer Grossstadt derlei lokale Wörter gebrauchen würden! Deshalb versuchen wir es dort gar nicht erst mit unseren Dialektwörtern.

Und exakt deshalb wagen wir immer wieder den Spagat zwischen dem Dialekt-Denken und der verbalen Simultanübersetzung ins Quasi-Deutsche. Oder ins allgemein verständliche Swinglisch 2 .

1 Und auch die Wissenschaftlerinnen wissen es nicht!

2 Eine Mischung zwischen Schweizerdeutsch und Englisch.

20 –

Wenn wir sprechen, dann möchten wir nämlich vor allem verstanden werden! Wir möchten nicht hauptsächlich unsere Herkunft betonen oder auf einem Dialektausdruck herumreiten. Deshalb passen wir alle (wie die meisten Menschen auf der Welt) uns der Sprache des Stärkeren, des Grösseren an. Und was wir jeden Tag in Zürich sagen, etwa «Wohnzimmer» anstatt «Stube», «foode» anstatt «Mittag essen» und «google» anstatt «überlegen», das sagen wir logischerweise mit der Zeit auch zu Hause in Grächen, in Steinen oder in Arbon. Und sogar in Zug, wo ohnehin ein grosser Teil der Bevölkerung Englisch oder Russisch spricht.

Diese Anpassung und Vereinheitlichung geschieht auf der Welt zwar manchmal mit Gewalt 3 , meistens passiert diese Angleichung an eine Sprache aber ohne Zwang.

Ja: Grosse und starke Nationen führen zu sprachlicher Homogenität! Darum reden heute die Hälfte der Menschen auf der Welt eine der zehn meistgesprochenen Sprachen! Wir Menschen sind Herdentiere, und sicher helfen auch die Digitalisierung und die Globalisierung mit, die sprachliche Kommunikation zu vereinheitlichen.

Die drei meistgesprochenen Sprachen auf der Welt sind Englisch, Mandarin-Chinesisch und Spanisch. Deutsch erscheint erst an 13. und Italienisch an 19. Stelle.

Jetzt liegt die Vermutung nahe, eine Person, die Zugerdeutsch schreibt, so wie ich, habe eine Mission. Man könnte denken, ich wolle:

3 Wie etwa in Pakistan, wo 1952 nur drei Prozent der Einwohnenden Urdu als Erstsprache hatten und trotzdem die Regierung Urdu zur alleinigen Amtsprache erklärte. Die Folge waren Demonstrationen und Polzeieinsätze, und es gab sogar Tote!

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… Die Globalisierung aufhalten! … Den chinesischen Weltmarktvormarsch torpedieren! … Verunmöglichen, dass Google oder Facebook meine Dialektsätze versteht! … Dass die CIA mich digital nicht überwachen könne!

– Ja, klar, als Nebeneffekt des Dialektschreibens wäre dies alles gar nicht schlecht. 4 Aber der wahre Grund für meine Dialektstorys ist es nicht.

Ich möchte nämlich bloss Geschichten erzählen – und dabei verstanden werden!

Aber trotzdem eine lustige Idee: Was käme wohl heraus, wenn die CIA meine Texte übersetzen würde? Oder der russische Geheimdienst?

Für eine mögliche Antwort muss ich kurz ausholen:

Es gibt einen zugerdeutschen Text aus meiner Feder, der heisst «Bi Wädelmond»5 .

Dies ist eine Geschichte über zwei Männer – einen Grobian und einen Trunkenbold – die sich bei Vollmond in die Haare geraten. 6

Als ich einmal den Film mit dieser Geschichte auf dem Netz suchte, um den Link an jemanden zu verschicken, geriet ich zu-

4 Aber es würde wohl nicht klappen, denn gestern habe ich gelesen, dass die Künstliche Intelligenz unterdessen schon imstande sein soll, Dialekttexte zu entschlüsseln! Ob das stimmt? Bitte lesen Sie einfach weiter im Text, dann werden Sie verstehen, warum ich das zur Zeit noch stark bezweifle.

5 «Wädelmond» ist das zugerdeutsche Wort für Vollmond. Der Text dazu steht in meinem Buch HÄSCHTÄÄG ZUNDEROBSI (ebenfalls im Zytglogge Verlag erschienen, 2020).

6 Diesen Text finden Sie, vorgelesen von mir, als Film auf Plas SRF.

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fällig auf eine Seite, die «Deutsche Sprache.ru» hiess. Oh

Gott, ich staunte nicht schlecht: Dort war mein ZugerdeutschText schriftlich übersetzt auf Russisch!

Ich verstehe ja eben wie schon gesagt kein Wort Russisch. Doch kein Problem, denn praktischerweise stand dort der russische Text gleich wieder zurückübersetzt – und zwar auf Hochdeutsch!

Um zu erfahren, was Russinnen und Russen da von mir für eine Geschichte erzählt bekamen, hätte ich eigentlich bloss die Zurückübersetzung auf Deutsch lesen müssen.

Das habe ich natürlich versucht … Doch ich erschrak nicht schlecht:

Wow, ich kann Ihnen sagen! Als ich die Übersetzung von der russischen Version meiner «Wädelmond»-Geschichte zurück ins Deutsche las, merkte ich erst, wie viel … nun, sagen wir mal «Interpretationspotenzial» … meiner Story über den Wädelmond innewohnt.

Ein Beispiel: Der einfacher Dialektsatz «De Schlawyner isch überstellig worde und hed de Gütterler verhündelet und gmöögget, er söll kei Spargimänter mache»7 erhielt durch die Übersetzung geradezu unfassbare Dimensionen. Die Übersetzung lautete nämlich so:

«Schlawyner hätten wie Monster, so Ricardo.

Flut die Politik Müll!

Für Oslo passiert sie Kabinettsumbau Ringsgwandl, was in der Folge schlief.»

7 Auf Deutsch: «Das Schlitzohr wurde übermütig, verhöhnte den Trunkenbold und rief, er solle keine Flausen machen.»

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Moment! … Können Sie noch folgen? Oder eher nicht?

Wissen Sie was? Ich auch nicht! Was erstaunlich ist, denn ich habe den ursprünglichen Text ja schliesslich geschrieben …

Achtung, im nächsten Übersetzungsbeispiel wird es gar tragisch:

«Eine Freundin ging dank billiger Chemicals inc. in eine Steckdose.»

Sehen Sie es jetzt auch?

In meinem Text steckt offensichtlich – das erkannte ich dank der Secondhand-Übersetzung – Industriekritik, tragische Liebe, Kunst-, Politik- und Gesellschaftskritik und selbst Religiös-Spirituelles. Kurz: lauter Themen, in denen ich nicht gerade bewandert bin. Hinzu kommt kunstvoll verklausulierte Symbolik, Sport, Filmgeschichte und Sience Fiction! 8

Hier noch ein Ausschnitt aus der automatischen Übersetzung des Zugerdeutschen – via Russisch – ins Hochdeutsche. Lassen

Sie sich diese Logarithmen-Poesie auf der Zunge zergehen:

«Der Grosse stösst im Capital ab und der letzte Brief verkörpert ist der kleine. Verbrechen oder vertrieben – das Spenderherz ist Courage! Und reinigten sie die Akuten, dass es nur so kracht.»

Sünde und schade ist bloss, dass solch interessante Sätze kein Mensch versteht! 9

8 Der Text ist dermassen kryptisch, dass ich echte Chancen hätte, damit einen Literaturpreis zu gewinnen!

9 Böse Zungen behaupten ja, diese Übersetzung sei kompletter Nonsens. – Banausen! Verstehen nichts von wahrer Kunst.

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Damit mir sowas nicht passiert, habe ich beschlossen, in diesem Buch viele Geschichten auf Deutsch zu schreiben. Dies nebst zweisprachig abgedruckten Texten und Geschichten nur im Zuger Dialekt.

Denn wie gesagt:

Ich möchte ganz gerne von vielen Lesenden verstanden werden!

(Und nicht etwa so:

Geführt wird und reinigt war es Peter!

Und der heillos von der Mondfähre.)

… Alles klar?

… Nicht?

Na, dann bin ich ja beruhigt!

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Follow the Mami

Am Bahnhof. Eine junge Familie mit Kinderwagen wartet auf den Zug. Der junge Vater tippt auf dem Handy herum. Die junge Mutter telefoniert. Das Kind quengelt im Wagen. Beide Eltern reagieren nicht darauf, denn sie sind mit ihren Smartphones beschäftigt.

Irgendwann quengelt der Kleine so laut, dass er die Mutter beim Telefonieren stört.

Sie greift in ihre Handtasche, die am Kinderwagen hängt, und fingert ein Brillenetui daraus hervor. Während sie weitertelefoniert, reicht sie das Etui ihrem Söhnchen.

Das hilft: Der Kleine hört blitzartig auf zu jammern. Zufrieden nimmt er Mamis Brillenetui – und hält es sich ans Ohr.

Im Zug von St. Gallen nach Zürich.

Eine junge Frau telefoniert von St. Gallen bis nach Winterthur sehr laut mit ihrer Freundin. Hemmungslos hecheln die beiden so ziemlich alle Bekannten durch und auch, wer wann was zu Mittag ass, und zwischen wem und dem Chef dicke Luft herrscht, wird besprochen.

Sämtliche Mitreisenden im Wagen dürfen zuhören.

Dann, endlich, hurra: In Winterthur legt sie auf! Ich schlage mein Buch wieder auf und beginne zu lesen.

Nach zehn Sekunden läutet erneut das Telefon der jungen

Frau. Sie checkt kurz die Nummer, hebt ab und sagt:

«Hallo, Mama! Du, ich kann jetzt nicht reden, ich bin im Zug.»

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In der Bergbahn. Die Pandemie ist grösstenteils überstanden, aber die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr ist noch nicht aufgehoben.

Eine Familie mit drei Kindern, einem Buben im Kinderwagen, einem etwa 5-Jährigen und einem etwa 7-jährigen Mädchen mit handgestrickter Wollkappe, Wollschal und den passenden Wollhandschuhen.

Kurz vor der Abfahrt der Bahn ertönt eine automatische Durchsage: In der Bahn herrsche, zur Bekämpfung der Pandemie, eine strikte Maskenpflicht.

Das Mädchen lauscht, denkt nach, reisst die Augen auf:

«Mami, Papi, mier müend sofort use!»

«Leandra, was isch los? I sibe Minute simmer dunne.»

«Mami, mier döfid gar nid do inne sy! Ihr händ di falsche Maske aa!»

«Wiso di falsche?», stuunt de Papi.

«Die sind do verbotte! Die sind nid sälber glismet! Hesch nid ghört: In der Bahn syg eine gestrickte Maskenpflicht!»

Im Spital. Ein junger Mann mit einem riesigen Blumenstrauss kommt zum Empfang.

«Hallo. Ich suche das Zimmer meiner Schwester.»

«Guten Tag. Wie heisst Ihre Schwester?»

Der junge Mann mit den Blumen nennt ihren Namen.

«In welcher Abteilung liegt sie denn?», fragt die Frau am Tresen.

«In der Gebärmutterabteilung.»

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Ebenfalls bei Zytglogge erschienen

ISBN 978-3-7296-5034-3

«Judith Stadlin ist ein sprachliches Kleinod gelungen: witzig, liebevoll, süffig zu lesen. Und während man liest – das ist das besonders Schöne daran –hört man die Zugerin gleichzeitig sprechen. So werden die Texte zu ‹Erzählungen› im doppelten Wortsinn.»

«Judith ist eine Sprachkünstlerin mit einem feinen Gehör und Gspüri für die bunte Welt der Dialekte.

Bei jedem Wort, das ich von ihr lese, höre ich, wie sie spricht. Judith schnuret nämli wie das Buech.

Zugerdütsch rules the world!»

Nik Hartmann, Moderator SRF

«Judith, you did it! Judith Stadlin ist ein Buch voller zeitgenössischer Geschichten, Gedichte und Gespräche im aktuellen Zuger Dialekt gelungen. Witziges, Hintergründiges und immer wieder Überraschendes. Judith, you did it very well! oder in meinem Bündner Dialekt: Uh huarra guat gmacht!»

Flurin Caviezel, Kabarettist

«Müsste ich ein Quantum Senf zu Judith Stadlins neuem Buch geben — das sind wunderbar lautmalerische und lustvoll erzählerische Texte in helvetischem Deutsch und im Zuger Dialekt, der literarisch noch nicht so ausgezehrt ist wie andere Schweizer Idiome.»

Bänz Friedli, Autor und Kabarettist, Zürich

«Judith Stadlin schafft es, eine bewundernswerte Beobachtungsgabe mit Wortwitz und Sprachspiel unter einen Hut zu bringen. Wow! Mir bleibt Bewunderung und ein Hauch Neid ;-).»

Jonny Fischer, Comedian

«Niemand jongliert so kunstvoll und akrobatisch mit Wörtern wie Judith Stadlin. Ihr frecher, witziger, geistreicher Umgang mit der Sprache fasziniert mich. Sie zerlegt Sätze und Aussagen, bis sie in Einzelteilen daliegen, wie ein noch nicht montiertes Möbel. Und Judith Stadlin zaubert sie wieder zusammen.»

Blanca Imboden, Schriftstellerin

Mit extra Filmmaterial

über 30 Videoclips der Autorin integriert als QR-Codes

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